Wie kommt das Besitzdenken in die Dichtung?


Noch nicht befriedigend geklärt ist bisher das Problem, in welcher Weise das Besitzdenken in „Besitz-Metaphern“ wirkt und ob darin vielleicht nicht die einzige Möglichkeit besteht, ästhetische Wirkungen durch das Besitzdenken hervorzurufen. Bei einer Metapher ist es ja so, daß zunächst nicht die Bedeutung eines Wortes neu festgesetzt wird; vielmehr wird einem Wort ein ungewöhnliches Begleitwort beigegeben und damit bei feststehender Bedeutung ein neuer Sinn erreicht. Wenn die Metapher gebräuchlich wird, kann dieser zu einer neuen Bedeutungsvariante des betreffenden Wortes werden; das kann sich noch innerhalb eines spezifisch poetischen Sprachgebrauchs abspielen. Damit allgemein gebräuchliche besitzsprachliche Formeln daraus werden, muß diese konventionell gewordene Metaphorik in der Weise wiederholbar geworden sein, daß die eine metaphorische Redeweise die nächste nach sich zieht. Hier erheben sich die Fragen: wie viele Menschen müssen beteiligt sein; muß sich erst eine Gesellschaft ändern, um derartige Verbreitung einer ausgeleierten Metaphorik zu ermöglichen; ist es dann noch Metaphorik; führt überhaupt ein Weg von ästhetischer Rede zu neuen Bedeutungen, oder wird dieser Weg eher umgekehrt beschritten; entwertet das Besitzdenken die ästhetische Wirkung alter Metaphern, die zufällig dem Wortlaut nach genauso aussehen? Diese Fragen führen ganz zwangsläufig auf die Erörterung der Rolle speziell poetischer Texte im Zusammenhang mit dem Besitzdenken. Die Bedingungen, unter denen Besitzdenken zur Besitzsprache wird, scheinen aber nach allem, was wir bisher wissen, vorwiegend gesellschaftlicher Art zu sein. Also wird man bei einer Analyse poetischer Texte auch deren „ideologische Funktion“ nicht außer acht lassen dürfen.

Die bisherige Untersuchung war nicht eigentlich literarhistorisch im herkömmlichen Sinn, wonach vor allem die Dichtung interessant ist. Dazu gab die These I keinen unmittelbaren Anlaß; es schien sogar geboten, poetische Texte, deren spezielle Produktionsbedingungen das Modell hätten komplizieren müssen, aus der Betrachtung fernzuhalten. Nun soll zur Erweiterung des methodischen Modells die folgende These II dienen:

In manchen poetischen Texten findet eine ästhetische Verwertung des Besitzdenkens statt; diese besteht darin, daß Besitzdenken und ästhetische Strukturelemente zusammen eine ästhetische Neuerung ausmachen, die auch eine bestimmte ideologische Funktion hat.


Methodische Zwischenbemerkung


Die bisher analysierten Texte wurden ausschließlich in ihrer für uns „dokumentarischen“ Funktion herangezogen. „Dokumentarisch“ ist an ihnen die Aufbewahrung und Mitteilung von Informationen über Sachverhalte, die sich als Tatsachen verifizieren lassen. So konnten wir zum Beispiel den historischen Sachverhalt, daß ein bestimmter Theologe einen Garten besaß, dokumentiert finden; man kann aber auch in weiterem Sinne historische, wie z.B. sprachhistorische Sachverhalte, oder Theorien als Sachverhalte der Geistesgeschichte in derartigen Texten dokumentiert finden. Die dokumentarische Funktion eines Textes umschließt also alle übrigen, jedenfalls für den Historiker, der einen alten Text vornimmt, und jeder Sachverhalt, den er unter diesem Aspekt findet, ist in weiterem Sinne historisch.

Man sieht schon: welche Funktion ein Text erreicht, hängt ganz von seinem Leser ab. Wie er sie erfüllt, hängt auch vom Text ab. Für welche Funktion der Text produziert wurde, hängt wiederum von seinem Autor ab.

Die „ästhetische Funktion“ eines Textes ist es, die den Literaturwissenschaftler interessiert. Insofern eine solche Funktion an bestimmte zwischenmenschliche Situationen, nämlich „Kommunikations-Situationen“ gebunden ist, (Harth, Dietrich: Annäherung an Grundbegriffe, in: Propädeutik der Literaturwissenschaft, Hg. Dietrich Harth, München 1973, S. 137.) unterliegt sie historisch faßbaren Bedingungen und Wandlungen. Der Literaturwissenschaftler wird also zum Literarhistoriker, indem er Texte als Dokumente für ästhetische Funktionen betrachtet. Wir brauchen jetzt eine Definition der ästhetischen Funktion, die so allgemein ist, daß man sie auf Texte aus beliebigen historischen Epochen anwenden kann.

Ein Text hat ästhetische Funktion, insofern er bestimmte Eigenschaften hat, die zusammen als „ästhetischer Zustand“ wahrgenommen werden. Die Wahrnehmung hängt vom Leser, Hörer, oder — allgemein gesprochen — vom „Rezipienten“ ab. Diese Seite der ästhetischen Funktion kommt für denjenigen in Betracht, der unter veränderten Rezeptionsbedingungen Genaues über die „ursprünglichen“ in Erfahrung bringen will oder der die Veränderung der Bedeutung eines Textes unter verschiedenen Rezeptionsbedingungen beschreiben will. Für eine Interpretation, die somit Situationskontexte berücksichtigt, spricht der denkbare Sachverhalt, daß ein völlig identischer Text zu verschiedenen Zeiten ganz verschiedene Bedeutung haben kann, und eben auch verschiedene ästhetische Funktion, die ein Teil der Bedeutung ist. Andererseits: Gegen eine Interpretation, die vorwiegend „rezeptionsästhetisch“ verfährt, spricht der denkbare Sachverhalt, daß jeder beliebige Text unter bestimmten Wahrnehmungsbedingungen ästhetische Funktion annehmen kann, und daß man das Vorhandensein derartiger Bedingungen zu keiner Zeit völlig ausschließen, wenn auch nicht verifizieren kann. Eine Klassifizierung von Texten schiene demgemäß absurd, wenn das Augenmerk nicht zuerst auf die andere Seite der ästhetischen Funktion gerichtet würde. Zu den ursprünglichen Rezeptionsbedingungen gehört, daß der Rezipient bezüglich des ästhetischen Zustands bestimmte Erwartungen auf einen Text richten kann, die der Autor des Textes kennt und bei der Produktion berücksichtigt hat. Produktion und Rezeption eines Textes geschehen also in diesem Fall unter weitgehend gleichen Bedingungen. Diese Bedingungen liegen zum Teil als „ästhetischer Code“ vor.

Ausgehend von dieser Kommunikations-Situation kann man, um poetische von anderen Texten zu unterscheiden, von den Rezeptionsbedingungen absehen, wenn man einen ästhetischen Code als Teil der Produktionsbedingungen erkennt. Er wäre zu erschließen einerseits aus den Literaturtheorien der Abfassungszeit des betreffenden Textes, soweit sich der Autor daran orientiert haben kann, als auch andrerseits aus dem ästhetischen Zustand des Textes selbst, insofern er mit den ästhetischen Zuständen anderer Texte derselben Zeit zu vergleichen ist. Wir bewegen uns hier, formal gesehen, in einem Zirkelschluß. Wir müßten schon wissen, daß ein Text zu seiner Abfassungszeit ästhetische Funktion hatte, bevor wir den ästhetischen Code feststellen könnten.

In der Tat genügen, wenn man die Literaturtheorie einer Epoche kennt, sehr wenige Zeichen, die auch dem heutigen Betrachter das Vorhandensein ästhetischer Funktion signalisieren, bevor er Genaueres über den einzeln auftretenden ästhetischen Zustand sagen kann. Der einzelne Text muß dann als Aktualisierung eines ästhetischen Code erfaßt werden, der sich, ähnlich wie der semantische Code, nur durch die Aufeinanderfolge vieler ästhetischer Kommunikationen etabliert haben kann. Da aber gleichartige ästhetische Zustände allen kulturellen Gepflogenheiten nach seltener auftreten als z.B. Aussagen mit gleichem Sinn, determiniert der ästhetische Code im Vergleich zum semantischen den Text schwächer.

„Der Kunstprozeß, dem es um die Ausarbeitung ästhetischer Zustände geht, führt […] zumeist seine schwach determinierten Zustände des Ästhetischen über die konventionell determinierten Zustände des Semantischen ein“. (Bense, Max: Einführung in die informationstheoretische Ästhetik, Reinbek bei Hamburg, rowohlt, 1969, S. 32.)

Die Dichtung ist ein Teilgebiet hiervon. Wir nennen einen Text jedenfalls dann einen „poetischen“, wenn zu seinen Produktionsbedingungen nachweislich die Absicht zählt, einen ästhetischen Zustand zu entwerfen.

Halten wir fest, daß der ästhetische Zustand eines Textes als System bestimmter Eigenschaften zu betrachten ist, dessen systematischer Zusammenhalt mit der zeitgenössischen Literaturtheorie zu vergleichen, aber nicht unbedingt zu identifizieren sein wird. Diese Eigenschaften nennen wir nun „ästhetische Strukturelemente“, wobei offen bleiben muß, ob mehrere ästhetische Strukturen unterscheidbar seien, die miteinander das System des ästhetischen Zustands ausmachten. Das Eigentümliche an einem ästhetischen Zustand besteht aber in dem gemachten bzw. wahrzunehmenden Verhältnis von „Ordnung“ und „Komplexität“. Hierin, und nur hierin, liegt sein Systemcharakter.

„Was determiniert wird, sind weniger nichtmateriale Wesenheiten als vielmehr materiale Ordnungen von Elementen, und es ist klar, daß dabei schwache von starken Determinationen, niedere Grade der Ordnung von höheren unterscheidbar werden. Auch von einfachen und zusammengesetzten Ordnungen wäre zu sprechen“. (s. Bense, S.32.) — „Ästhetische Zustände sind dementsprechend 'Ordnungszustände' über einem Repertoire materialer Elemente […]“ (s. Bense, S.35.) — „Es ist in jedem kunsterzeugenden Prozeß ein […] 'Repertoire' materialer Elemente vorgegeben (wie Farben, Laute, Silben, Töne u.dergl. Mittel überhaupt), das selektiv über einen kommunikationsfähigen Kode semantischer Determination zu einem Träger der ästhetischen Zustände kreativ umrealisiert wird.

'Kreativ' heißt dabei soviel wie 'neu', 'innovativ', 'original', und dieser Begriff korrespondiert mit dem Begriff 'selektiv' in dem Sinne, daß die kreativen Momente eines Zustandes nur über selektive Prozesse erreichbar sind. Damit ist natürlich auch ausgedrückt, daß die 'Kreativität', das 'Originäre', das 'Innovative', kurz das 'Schöpferische', repertoireabhängig, also relativ gesehen und verstanden werden muß, […]“. (s. Bense, S.33.) Diese „materialen Elemente“ sind nicht dasselbe wie die „Eigenschaften“ als ästhetische Strukturelemente, sondern wiederum Strukturelemente der „Eigenschaften“ auf anderer Ebene der Beschreibung. In einem poetischen Text unterliegen die materialen Elemente nicht nur und nicht zuerst dem ästhetischen Code, sondern den grammatischen und speziell semantischen Codes. Unser Terminus „ästhetische Verwertung“ soll später dazu herhalten, über das Verhältnis materialer Elemente, die unter den Terminus „Besitzdenken“ fallen, zu den ästhetischen Codes poetischer Texte Aussagen zu machen. Unser Terminus „ästhetische Neuerung“ übersetzt, was Bense mit „Innovation“ meint.

Das Verhältnis von ästhetischer Ordnung samt ästhetischer Neuerungen zu der vorgegebenen, konventionell determinierten Ordnung der materialen Strukturelemente besteht in etwa dem, was die russischen Formalisten unter „semantischer Verschiebung“ verstanden. Das literarische Kunstwerk leistet eine Verschiebung der konventionalisierten Bedeutungen in eine „Sphäre neuer Wahrnehmung“, nämlich der Wahrnehmung des ästhetischen Zustands.

Es ist nicht möglich, den ästhetischen Zustand zu beschreiben, ohne das Repertoire der materialen Elemente vorab zu kennen, samt dem hierfür gültigen semantischen Code. Andrerseits würde man die ästhetische Funktion eines Textes verkennen, wenn man ihn nicht anders analysieren würde, als der Historiker oder Sprachhistoriker. Man könnte auf diese Weise z.B. einen Topos für ein zeitspezifisches sprachliches Zeigehandlungsschema halten oder Erfordernisse der literarischen Gattung für „realistische Darstellung“ — was immer das sein mag. Man stellt häufig fest, daß die Bedeutungen von Wörtern in poetischen Texten auf „fiktive“ Sachverhalte bezogen sind, die nicht als Tatsachen erwiesen werden können.

Eine dokumentarische Funktion erfüllen poetische Texte oft nur im Hinblick auf den Sprachgebrauch und die ästhetischen Konventionen einer Zeit. Wenn man einen „fiktiven“ Text als eine Reihe von Aussagen über Sachverhalte ansieht, so wird man bei geeigneter Nachprüfung feststellen müssen, daß diese Aussagen, logisch beurteilt, falsch sind. Die wahre Aussage hingegen bezieht sich auf eine Tatsache, oder, wie man auch sagen kann, auf einen „wirklichen“ Sachverhalt.

Es ist aber nicht so, daß Sachverhalte unabhängig von Aussagen „existierten“, die sich auf sie beziehen, und daß man von daher „wirkliche“ und „nicht wirkliche“ Sachverhalte unterscheiden könnte. Mit Gegenständen ist das etwas anderes. Gegenstände werden nicht durch Aussagen, sondern durch Pseudo-Kennzeichnungen fingiert. Ob ein Sachverhalt nun aber fingiert ist oder wirklich, hängt davon ab, ob die Aussage darüber wahr oder falsch ist, und es ist nicht nur das Kriterium der sinnlichen Wahrnehmbarkeit, was darüber entscheidet, sondern die Methode der „interpersonalen Verifizierung“, des Herstellens einer Übereinstimmung mehrerer Gesprächspartner. (Kamlah, Wilhelm, und Paul Lorenzen: Logische Propädeutik, oder Vorschule des vernünftigen Redens, Mannheim 1967, Bibliographisches Institut, Hochschultaschenbücher-Verlag Nr. 227/227 a, S.120.) Hierbei kommen dann, als Vereinbarungen, die Regeln der Logik zum Zug. Wenn man festgestellt hat, daß eine Reihe von Aussagen Sachverhalte fingiert, dann muß es sich bei dem betreffenden Text aber noch lange nicht um einen poetischen handeln. Poetische Texte fingieren zwar häufig Sachverhalte, die nicht wirklich sind, aber das Kriterium dafür, ob ein Text poetisch ist, besteht in seiner ästhetischen Funktion.

Fiktionen gibt es in der Form von Hypothesen auch in der Wissenschaft. Lügen gibt‘s überhaupt häufig außerhalb der Literatur; kein Grund, mit dem Spruch „poeta mendax“ die Poesie zu kennzeichnen. Dagegen sind poetische Texte denkbar und auch schon vorgekommen, die sich auf Tatsachen beziehen und dennoch ästhetische Funktion erreichen; mir fällt auf Anhieb Brechts Ballade „Von der Kindesmörderin Marie Farrar“ ein. Wozu braucht man dann eigentlich den Terminus „Fiktion“ in Bezug auf den Terminus „Dichtung“? Vielleicht, um zu klären, wie fiktionale Dichtung, deren es immerhin eine Menge gibt, dennoch zu „ideologischer Funktion“ kommen kann.

Die ideologische Funktion eines beliebigen Textes besteht darin, daß er Werte setzt. Gewissen Gegenständen, Personen, Sachverhalten oder Aussagen werden Prädikatoren wie "gut“, "schlecht", "rechtmäßig", "verbrecherisch", "vernünftig", "unvernünftig", "brauchbar", "unbrauchbar", und ähnliche auf das gesellschaftliche Zusammenleben oder auf das Wohlergehen des Einzelnen bezogene Prädikatoren zu- oder abgesprochen; explizit, aber eben auch implizit. (Geschieht es implizit, so erschließt man das Werturteil durch geeignete grammatische Umformungen.)

Ob die betreffenden Werte akzeptabel sind, für wen und innerhalb welcher Grenzen sie das sind, bleibt hier noch außer Betracht. Ideologische Funktionen hat jeder Text. Freilich hängen auch sie von der Kommunikations-Situation ab. Doch eine nicht-ideologische Aussage im Sinne einer „Wertfreiheit“ gibt es nicht. Man muß sich nicht erst auf Unterscheidungen verschiedener Typen von Aussagen einlassen, um das zu erkennen. Selbst die Aussage „Dies ist der Dechsendorfer Weiher“, wobei einer in die Landschaft zeigt, kann noch hinterfragt werden, kann bei mir noch die Reaktion auslösen: „Wozu soll ich denn das wissen? Wozu sagt er mir das?“ Interessanter fällt solches Hinterfragen allerdings bei den Theorien bestimmter wissenschaftlicher „Schulen“ aus, deren Anspruch darin liegt, wertfreie Aussagen zu produzieren ("2x2=4"). Schon die Abwesenheit unmittelbar wahrzunehmender Werturteile verleiht diesen Bemühungen nämlich selbst eine durchaus ideologische Funktion. „Die besten Aussagen sind die 'wertfreien'“. Wenn dem überall so ist, bleibt aber bald nichts mehr übrig vom Menschen und seiner Gesellschaft, was nicht ideologisch wäre, es sei denn die Sphäre der „nackten Vitalität“. (vgl. Helmuth Plessner, Abwandlungen des Ideologiegedankens, aus: Zwischen Philosophie und Gesellschaft, Bern 1953, in: Kurt Lenk, Ideologie, Ideologiekritik und Wissenssoziologie, 6. Aufl. Darmstadt und Neuwied 1972, S.268.) Damit würde der Terminus „Ideologie“ für uns jedoch unbrauchbar, weil überflüssig. Wir müßten fähig sein, im Einzelfall anzugeben, welche ideologischen Funktionen eines Textes eine „Ideologie“ in dem Sinne ausmachen, daß eine Mitteilung nicht stattfindet, die in der bestehenden Kommunikations-Situation sinnvoll und möglich gewesen wäre. Bei dieser Forderung an eine Definition des Terminus „Ideologie“ gehe ich von dem Vorverständnis aus, daß Ideologien nicht nur und nicht einmal oft aus falschen Aussagen aufgebaut werden, sondern durch das Verschweigen möglicher wahrer Aussagen zustande kommen.

Erst im Laufe der Geschichte stellen sich die objektiven Tendenzen einer Gesellschaft für alle sichtbar als solche heraus. Es stellt sich aber auch heraus, daß die relativ fortgeschrittenste Theorie ebenfalls in gewisser Hinsicht eine Ideologie war. Es kann auch sein, daß die objektive Lage einer Klasse von einem Subjekt, das einer anderen Klasse angehörte, genauso gut, wenn nicht besser erkannt wurde als von dem durchschnittlichen Klassenangehörigen. Solche Fälle zeigen die kulturellen Äußerungen einer Gesellschaft einmal mehr als höchst komplexe Regel- und Steuerungsvorgänge, denen nicht leicht ein Modell gerecht wird, und ermahnen zur Vorsicht bei der Ideologiekritik. Zwischen dem etwas bequemen Eingeständnis, man produziere ja immer selbst eine Ideologie, und der Reduktion der Forschung auf „konkrete“ Einzelaussagen ist die Balance zu halten.

An einem poetischen Text lassen sich gegebenenfalls mehrere Arten ideologischer Funktion beobachten. Erstens stellt der ästhetische Zustand selbst einen Wert dar, der von Rezipienten mit Prädikatoren wie "schön", "häßlich", "harmonisch", "verworren" u.dgl. beurteilt wird. Diese Werturteile können im engeren Sinne ideologisch werden, wenn man sich über die Bedingungen der Produktion und Rezeption nicht mehr im klaren ist oder noch nicht erkannt hat, daß sie sich geändert haben. (Beispiel: Interpretation des „Simplicissimus“ als Bildungsroman.) Die entsprechende Ideologie dürfte also meist der Ungleichzeitigkeit unterliegen. Zweitens besteht in der Begrenztheit des materialen Repertoire eine Partikularität, die einer Ideologie verhaftet sein kann. (Zum Beispiel, wenn die Gattung der Tragödie erfordert, daß nur Fürsten und andere große Herren als Helden auftreten.) Insofern der ästhetische Zustand über die konventionell determinierten semantischen Strukturen der Sprache eingeführt wird, können darin vorgegebene ideologische Funktionen auch den poetischen Text mitbestimmen. Zwar werden die vorhandenen Ordnungen kreativ umfunktioniert, doch kann dabei eine Ideologie erhalten bleiben, verstärkt werden oder sogar eine neue Ideologie entstehen, je nachdem, wie die semantische Verschiebung wirkt. Es kann in mehrfacher Weise zu einer Verschiebung der Wertungen kommen. Im Falle einer starken Determination durch einen ästhetischen Code liegt es nahe, daß das Kunstprodukt einen höheren Grad an Partikularität hat als das Repertoire. Wenn dazu noch der Rezipient das Verfahren für selbstverständlich hält und kaum noch bemerkt, liegt gewiß eine spezifisch poetisch vermittelte Ideologie vor. (So, denke ich, müßte es bei der Konsumliteratur vom Schlage der Buchklub-Bestseller aussehen.) Drittens liegt auch in der ästhetischen Neuerung möglicherweise eine ideologische Funktion.

Abgesehen davon, daß im Terminus „ästhetische Neuerung“ schon die zwei bisher behandelten Fälle ideologischer Funktion enthalten sind (weil „ästhetischer Zustand“ und „Repertoire“ nicht getrennt davon zu betrachten sind), kommt es zu einer weiteren Ideologisierung der Kommunikations-Situation, wenn die ästhetische Neuerung nicht objektiv feststellbar ist, sondern nur infolge einer teilweisen Unkenntnis etablierter ästhetischer Codes dem Produzenten oder Rezipienten als solche erscheint bzw. wenn eine objektiv vorhandene ästhetische Neuerung subjektiv nicht wahrgenommen wird oder aus lediglich subjektiven Bedingungen heraus bewertet wird. Verkannte Genies, Kunstscharlatanerie, Banausentum und Sektiererei eingeweihter Kenner sind die praktischen Folgen dieser Art von Ideologie.

Ein Sonderfall der ästhetischen Neuerung besteht in der Umwertung etablierter ästhetischer Funktionen, beispielsweise durch Parodie. Sie muß „ideologisch im engeren Sinne“ werden, wenn dabei nicht die jeweiligen objektiven Umstände der Produktion in die Neubewertung miteinbezogen werden.

Bei alldem war noch gar nicht von Fiktion die Rede, aber immer von Dichtung. In Bezug auf Werturteile funktioniert die poetische Fiktion genauso wie die Hypothese, die wissenschaftliche Fiktion, in Bezug auf die Bewertung von Wahrheit oder Falschheit von Aussagen funktioniert. Die Theorie erscheint somit als Sonderfall sprachlicher Äußerung, in der es lediglich um zwei bewertende Prädikatoren geht. So kommt es, daß Aussagen über fingierte Sachverhalte logisch falsch, aber ideologisch bedeutsam sein können.

In der Literaturtheorie wird der systematische Zusammenhang ästhetischer Funktionen mit der gesellschaftlichen Totalität zum Thema. Insofern darin selbst noch Ideologie steckt, bleibt bei den Texten, die davon abhängen, jede Objektivität oder Gleichzeitigkeit eine bloß scheinbare vor der „objektiven Möglichkeit“, die außerhalb der Literaturtheorie besteht.


Ideologiekritik an poetischen Texten zu üben ist komplizierter als an wissenschaftlichen Texten. Ein sprachlicher Sachverhalt wie „Besitzdenken“ jedoch kann gerade anhand poetischer Texte auf seine ideologische Funktion recht gut untersucht werden, weil die Verwendung der gewöhnlichen Umgangssprache in gewissen Texten noch eher zu erwarten ist als bei einer durch wissenschaftliche Terminologie determinierten Sprache.

Zur Frage steht nun: Innerhalb welchen Systems von poetischen Konventionen konnte das Besitzdenken erstmals Bestandteil eines materialen Repertoire werden; und: hängen damit vielleicht ästhetische Neuerungen zusammen? Schließlich: wie ideologisch wird das Besitzdenken dann?



Schriften, die sonst noch zugrundegelegt wurden:


Rudolf Bosch, Die Problemstellung der Poetik, Eine historisch-kritische Untersuchung über die Methoden und Grenzen wissenschaftlicher Wertbestimmung, Leipzig 1928.

Victor Erlich, Russischer Formalismus, München 1964. In: Gadamer, Hans-Georg (Hg.): Das Problem der Sprache, Achter deutscher Kongreß für Philosophie, München 1967. S.195. — Er bezieht sich auf Viktor Sklovskij, Iskusstvo kak priem , in: Poetika. Sborniki po teorii poeticeskogo jazyka, II, Petrograd 1917.

Vojin Milic, Das Verhältnis von Gesellschaft und Erkenntnis in Marx' Werk, aus: Marks o odnosu izmedju drustva i saznanja, Beograd 1965, in: Kurt Lenk, Ideologie, S.180.