Vorläufer des bürgerlichen Soziolekts


„Wie vielerley ist aber der Stylus? Mit einem Worte/ so viel als Menschen in der Welt sind“. (s. Hübner, S. 275.) Man kann es bei dieser Feststellung freilich nicht belassen, wenn man die Sprache „excoliren" will. Hübner macht durchaus schon berufsständische Unterscheidungen. In der 3. Distinction hält er auseinander: Stylus Homileticus, für den Gebrauch auf der Kanzel. Stylus Forensis, für den Gebrauch bei Gericht. Stylus Curiae, — hier ist er wieder — der Stil für das „Ceremonial-Wesen bey Hofe“. Stylus epistolicus — Briefstil. Stylus Comicus: für den Gebrauch der Bühne, beispielhaft bei Plautus, Terentius, und in den „täglichen Comoedien“. — „Wolte man ausser den Gräntzen der Gelehrten gehen/ so würde man leichtlich Stylum Mercatorium, Venatorium und dergleichen species mehr ausführen können“. (s. Hübner, S.278 f.) Bei dieser berufsständischen Auffächerung blieb Hübner nicht stehen.

Für den Gebrauch der Sprache in mündlicher, wenn auch vorausdisponierter Rede stellt er eine weitere Unterscheidung auf: „Wie teilt man heutiges Tages die Beredsamkeit ein? Man richtet sich nach dem Monarchischen Zustande unsrer Republiquen, und statuiert eine vierfache Beredsamkeit. [Nicht wie bei den Griechen und Römern eine dreifache.] Die erste ist Eloquentia Scholastica, die man auf Schulen und Universitäten nöthig hat. Die andre ist Eloquentia Politica, die man bey Hofe und im bürgerlichen Leben braucht. Die dritte ist Eloquentia Ecclesiastica, welche die Priester nöthig haben. Die vierdte ist Eloquentie Mixta, welche so wohl von Schul-Leuten/ als von Politicis und Geistlichen kan excoliret werden.“ Darin scheint sich das vorige Schema zu wiederholen, bis auf die Kategorie „Eloquentia Mixta“, die Hübners eigenen Versuch darstellt, eine Gemeinsprache aller Gelehrten, oder wie wir sagen würden: „Gebildeten“, theoretisch in den Griff zu bekommen.

An praktischen Anlässen für eine derartige Beredsamkeit weiß Hübner jedoch nur wenige isolierte und in den Rahmen der Ständegesellschaft eingespannte zu nennen. Es ist noch nicht die Rede von einem Soziolekt, der dem Gebrauch innerhalb einer bürgerlichen Privatsphäre vorbehalten, aber nicht an bestimmte Anlässe gebunden wäre. Alle diese Anlässe haben für bürgerliche Begriffe etwas Öffentliches. Es sind ja auch Reden, die da, oft extempore, gehalten werden. Die Sprache, auf die sich alle diese Stile beziehen, erscheint bei Hübner, wie schon erwähnt, als stylus Naturalis, als bloßes Material aus Lexikon und Grammatik; von den galanten Normierungsbestrebungen her gesehen, ist diese Sprache, wo sie ohne rhetorische Formung auftritt, geradezu verächtlich. Nur eine gelehrte Fachsprache konnte sich zum Galanten hin entwickeln.

Es ist eine traditionelle Aufgabe der Rhetorik, das Verhältnis von res und verba genau festzulegen, und es flossen wohl schon immer soziale Differenzierungen ein. Im ganzen 17.Jahrhundert wird die Technik der Textproduktion immer mehr vereinheitlicht, nun eben auch für deutsche Texte, während die Textarten immer weiter differenziert werden. Seinen Höhe- und Umschlagpunkt erreicht dieser dialektische Widerspruch um 1690. Weise gibt in seinem Buch „Der politische Redner“ eine Sammlung der erwähnten „Realia“, die als vorgefertigte, einsetzbare Bausteine einer Rede deren Bezug zu nachprüfbaren, allgemein bekannten Sachverhalten herstellen sollten, Es handelte sich um zettelkastenartige Exzerpte naturkundlicher und historischer Abhandlungen sowie literarische Zitate, die zwar noch teilweise an die Verwertungsarten der früheren Zeit, z.B. Emblemata, gebunden sind, aber thematisch bereits einen Fortschritt gegenüber den Reimlexika, Blütenlesen und Titelbüchern bedeuten.

Sie dienten selbst für geistliche Reden zum Material. Um 1700 erschienen eigene Realiensammlungen für Prediger, darunter Christian Weidlings „Lehrreiche Oratorische Schatz-Kammer, oder Neue Vollkommene Real-Concordanz“, in denen zwar in verstärktem Maß die Bibel ausgeschlachtet war, aber die Technik der Anfertigung einer Predigt unterschied sich nun kaum mehr von der einer anderen Rede. Hübner zum Beispiel empfiehlt für Predigten lediglich mehr Argumenta Commoventia, weil diese Art Reden das „Hertze“ füllen sollen, nicht bloß die Ohren. Aber auch dafür gibt er natürlich Rezepte.

Kurz: alles ist als mehr oder weniger aufbereitetes Material greifbar; zu gegebenem, wohlklassifiziertem Anlaß bleibt nur noch kombinatorische Arbeit zu leisten. Welchen praktischen Bedürfnissen die Sammelleidenschaft entgegenkam, und wie die mechanische Ausbreitung der copia verborum gewirkt hat, verstehen wir wohl am besten aus der damaligen deutschen Rückständigkeit.

Aus dem Vergleich zu anderen Sprachen hatte Gottfried Wilhelm Leibniz eben diese Rückständigkeit des Deutschen diagnostiziert, die auch durch ein Dreivierteljahrhundert des nationalsprachlichen Humanismus nicht aufzuheben gewesen war, vermutlich, weil es nicht allein auf sprachliche Akte dabei ankam. „Das Bemühen um die Sprache und die gesellschaftliche Haltung ist hier nicht mehr wesentlich auf die Zierlichkeit bezogen, auf den Dekor, sondern auf die Vernunftkräfte, die sich in der Sprache darstellen sollen, auf Geist, Scharfsinn, Urteil und Klarheit des Verstandes“. (Paul Böckmann, Das Formprinzip des Witzes in der Frühzeit der deutschen Aufklärung, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts Frankfurt am Main, 1932/33. — Die letzten vier Prädikatoren stehen so schon in Leibnizens Text, und zwar: G.W.Leibniz, „Unvorgreiffliche Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache“, geschrieben zwischen 1696 und 1709, gedruckt 1717.)

Im Hinblick auf den lexikalischen Bestand urteilt Leibniz: „Am allermeisten aber ist unser Mangel, wie gedacht, bey denen Worten zu spühren, die sich auff das Sitten-wesen, Leidenschafften des Gemüths, gemeinlichen Wandel, Regierungs-Sachen, und allerhand bürgerliche Lebens-und Staats-Geschäffte ziehen. Wie man wohl befindet, wenn man etwas aus andern Sprachen in die unsrige übersetzen will“. — „So wird nun auch die Sprachpflege der Poeten wie besonders der Fruchtbringenden Gesellschaft starker Kritik unterzogen. Leibniz meint: 'Das Übel ist so hoch gestiegen, daß es nicht mehr mit Reimen, Liebesgedichten und Lustschriften, wie wohl sie auch gesetzt, zu erreichen und zu übermeistern. sondern anderes Rüstzeug von mehr Gewicht und Nachdruck vonnöten‘“. (s. Böckmann, a.a.O., S.59.) Für die Bereiche, die Leibniz anführt, gibt es bereits manche Wörter aus verschiedenen Fachsprachen und Fremdsprachen, aber noch sind diese nicht Teile des lexikalischen Bestands einer allen Ständen und Berufen zur Verfügung stehenden Sprache. Daran ersieht man die notwendige Funktion der Realiensammlungen und Stillehrbücher: Sie bereiten einen solchen Wortschatz vor, indem sie sichten, was da ist. Zunächst aber beabsichtigen sie alles andere als eine Überschreitung des Systems. Alles bleibt fein säuberlich getrennt.

Von den Elementen des Zeremoniells abgesehen, blieb die Sprache der Hofgesellschaft wesentlich weniger „excolirt“ als die der Gelehrten. Zwischen Gelehrten und Hofleuten aber bestanden höhere Barrieren als im Ausland. Was die Gelehrten für galant hielten, war wohl bestenfalls kurial. Ich mache diesen Umstand dafür verantwortlich, daß die französische Sprache der deutschen in den Angelegenheiten des absolutistischen Hofes den Rang ablief. Das kann nicht so sehr am Mangel einer deutschen Literatur gelegen haben, die sich mit höfischen Angelegenheiten befaßte, wie Bruford meint.

Es war zwar an den meisten Höfen förderlich fürs Prestige, gerade für französische Literatur ein mäßiges Interesse zu bezeigen; dabei wurden allerdings die leichter konsumierbaren Texte bevorzugt. Deutsche Adlige, die in französischer Literatur wirklich belesen waren, stellten seltene Ausnahmen dar. Die Mehrzahl konnte zufrieden sein, wenn es ihnen gelang, eine Unterhaltung in passablem Französisch zu führen oder wenigstens ihr Deutsch mit französischen Brocken auszustatten. Alle erachteten es nämlich unter ihrer Würde, eine echte Gelehrsamkeit anzustreben, die zu ihrer Galanterie das nötige Wissen gesellt hätte. Daran muß es liegen, daß die Höflinge weder aus der deutschen noch aus der französischen Literatur genug lernten, um den Standard des höfischen Umgangs in Frankreich zu erreichen, und daß dieser im gleichen Moment den Nimbus eines unerreichbaren Vorbilds erhielt. Französische termini technici sowie der „vornehmste“ deutsche Soziolekt erhielten aber weitere Verbindlichkeit nur durch den Umweg übers Bürgertum. Gerade Fürsten selbst, wie Friedrich Wilhelm I. von Preußen, Herzogin Maria Anna von Bayern und die berühmte Liselotte von der Pfalz schrieben weithin geradezu Dialekt,wie damals jeder ohne Übung im schriftlichen Ausdruck getan hätte. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als sei der Kurialstil erst von dienstbegeisterten Bürgern ausgearbeitet worden, denen dafür wenig Gegenliebe zuteil wurde.

Mit dem Aufkommen des römischen Rechts, der Bedingung für die soziale Aufbesserung der Juristen, war die entsprechende Fachsprache das Latein geworden und hatte die ältere deutsche Fachsprache ihrer Gültigkeit beraubt, ohne zunächst neue deutsche Termini hervorzurufen. In den verschiedenen deutschen Landschaften fand dieser Prozeß in verschiedener Geschwindigkeit und Vollständigkeit statt, gerade beim Leipziger Schöffenstuhl läßt er sich bis in die letzten Jahrzehnte des 16.Jahrhunderts kaum nachweisen. In der Praxis kann das Latein seine Fremdheit nie verloren haben, denn noch 1759 sammelt Johann Friedrich Eisenhart „Grundsätze der deutschen Rechte in Sprichwörtern“. Aber bereits am Ende des 17.Jahrhunderts hat Sachsen einen großen Rechtslehrer aufzuweisen, der seine Abhandlungen zum Teil wieder auf Deutsch schreibt und in deutscher Sprache Vorlesungen hält: Christian Thomasius. Sein Sprachgebrauch konnte günstiger Umstände halber zu einem ziemlich unmittelbaren Vorläufer des bürgerlichen Soziolekts werden. Paul Piur behauptet aufgrund seiner Quellenstudien sogar, daß die Zunahme des deutschen Wortschatzes seit 1690 vor allem Thomasius zu danken sei. (vgl. Paul Piur, Studien zur sprachlichen Würdigung Christian Wolffs, Ein Beitrag zur Geschichte der neuhochdeutschen Sprache, Halle 1903.) Für eine derartige Wirksamkeit war die subjektive Voraussetzung, daß er Schulen und Universitäten als „Pflanzgärten des gemeinen Wesens“ betrachtete, wie die Weiseaner; also nicht so sehr als Domäne weniger Gelehrtenfamilien. Juristische Fachtermini gibt er allerdings noch lateinisch; ansonsten verwendet er häufig französische Alamode-Wörter, die er in beschränktem Maße mit deutschen Endungen versieht oder der deutschen Orthographie anpaßt. Im Unterschied zu den Sprachpflegern des 17.Jahrhunderts — und den Galanten! — hat er begriffen, daß es zunächst ganz andere Dinge zu ändern gibt als die Sprache. Wenn er deutsch schreibt, so geschieht dies zugunsten einer breiteren Wirkung in anderen Angelegenheiten.

Sein Universitätsprogramm von 1687, der erste, oft erwähnte deutschsprachige Anschlag am Schwarzen Brett der Leipziger Universität, hat den Titel: „Christian Thomas eröffnet Der Studierenden Jugend zu Leipzig in einem Discours Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? ein Collegium über des Gratians Grund-Reguln, Vernünfftig, klug und artig zu leben“. Hierin vertritt er die Auffassung, „man ahme denen Frantzosen nach, denn sie sind doch heut zu tage die geschicktesten Leute, und wissen allen Sachen ein recht Leben zugeben“. Aber nicht nur das, was die zeitgenössische Mode in Deutschland für galant ausgibt, sondern dasjenige und auf solche Weise, wodurch man ein weiser Mann wird, den man in der Welt zu klugen und wichtigen Dingen brauchen kann. Er hält es also für wichtig, nicht bloß gelehrte Juristen heranzubilden, sondern Weltweise, die sich mit der Rationalität des Hofmannes zu betragen wissen, und die über ein Wissen verfügen, das sie als Beamte des Staates qualifiziert. Er empfahl seinen Juristen statt des hohen Stils der Gerichtsrede einen mittleren; auch in der Art der Darstellung geht er gegen die Exklusivität der vorigen Wissenschaft an.

Freilich benützt er, vor allem in der Polemik, gern bildkräftige Wendungen der Umgangssprache, die den galanten Theoretikern, ähnlich wie die Ausdrucksformen Weises, vulgär erscheinen mußten. Insofern hatte sein Sprachgebrauch weniger Zukunft, was den Stil betraf. Er ging in seiner Polemik so weit, daß er einen Professor Alberti Dieb nannte und dem Theologen Carpzov vorwarf, er entweihe sein heiliges Amt durch Verleumdungen. Als er dazu noch Gutachten abgab, die bei Hofe nicht opportun erschienen, war seines Bleibens in Leipzig nicht länger, und er ging auf die Ritterakademie nach Halle. Dort hatte er auch „großen Zulauff von […] gemeinen Bürgers-Leuten“, wie Dreyhaupt in seiner „Beschreibung des Saale-Creyses“ berichtet. In Leipzig aber dauerte es bis 1711, daß die Erlaubnis zum teilweisen Gebrauch des Deutschen in gewissen Kollegien erteilt wurde. Bezeichnenderweise handelte es sich dabei um die „politischen“ Fächer sowie Physik. Aber noch 1753 erging ein königlicher Erlaß, daß die Magister und Doktoren in Leipzig nur lateinisch vortragen sollten.


Sonstige Schriften, die zugrundegelegt wurden:

Poetik des Barock, Hg. Marian Szyrocki, Rowohlts Klassiker 508/509, Texte deutscher Literatur Bd. 23.

Martin Schian, Orthodoxie und Pietismus im Kampf um die Predigt, Ein Beitrag zur Geschichte des endenden 17. und des beginnenden 18.Jahrhunderts, Gießen 1912.

Walther Merk, Werdegang und Wandlungen der deutschen Rechtssprache, Marburg 1933.

Johann Friedrich Eisenhart, Grundsätze der deutschen Rechte in Sprüchwörtern, Helmstädt 1759, Hg. Waldmann, Berlin 1935.

Günther Bieber, Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius, Diss. Gießen 1931.

Dichtungstheorien der Aufklärung, Hg. Henning Boetius, Tübingen 1971.

Georg Witkowski, Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig, Leipzig und Berlin 1909.