Kontextanalyse: Erstes Beispiel


Zu zeigen ist, wie es sich im Hinblick auf These I mit den Wortbedeutungen verschiedener vorbürgerlicher Texte verhält und wo bereits von einem bürgerlichen Sprachgebrauch die Rede sein kann. Die zu untersuchenden Texte sollen repräsentativ sein in Bezug auf die um und bald nach 1700 herrschenden Verhältnisse, sollen aber nicht nach den damals gültigen Kriterien zur Dichtung gerechnet werden können, da uns für eine Abschätzung der damit auftretenden Faktoren noch kein Modell zur Verfügung steht.

Im einzelnen werde ich heranziehen:

1) Schrifftmäßige Predigt von Der grossen Hure auf dem siebenköpffigten und zehenhörnigten Thier/ […] wieder einen Päpstischen Pfaffen/ […] in Leipzig gehalten/ und auf vielfältiges ersuchen heraus gegeben von Jo. Benedicto Carpzov […] Leipzig […] 1687. Vorrede.

2) Anonyme Selbstbiographie, aus: Johann Heinrich Reitz, Historie der Wiedergebohrenen, Itzstein 1717, I.Theil, S.129-142; abgedruckt in: Werner Mahrholz, Der deutsche Pietismus, Eine Auswahl von Zeugnissen, Urkunden und Bekenntnissen aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1921, S.87-96.

3) Die Beschwerung des Hertzens Mit der Sorge der Nahrung/ In einer Predigt über das Evangelium Matth.VI, vers. 24-34. Am 15. Sonntag nach Trinitatis Anno 1697. In der St. Georgen-Kirche zu Glaucha an Halle vorgestellet/ Und nun zum andernmal heraus gegeben von M. August Herman Francken/ […] Halle […] 1699.

4) Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit/ sich selbst und andern in allen Menschlichen Gesellschafften wohl zu rathen/ und zu einer gescheiden Conduite zu gelangen; Allen Menschen/ die sich klug zu seyn düncken/ oder die noch klug werden wollen/ zu höchst-nöthiger Bedürffnis und ungemeinem Nutzen/ aus dem Lateinischen des Herrn Thomasii übersetzet. […] Franckfurt und Leipzig […] 1710.

5) Neu-erleuterter Brieffsteller, Das ist: Gründliche Anweisung, wie ein geschickter deutscher Brief so wohl an Standes-Personen und Cavalliere, Kriegs-Bediente/ Gelehrte und Kauff-Leute, als auch an Frauenzimmer abzufassen, Alles mit neu-ausgearbeiteten Exempeln und unter galanten Leuten eingeführten Formuln, […] vorgestellet von Talandern, […] [August Bohse) Leipzig […] 1709.

6) Johan Adolff Hoffmanns Zwey Bücher Von der Zufriedenheit. Nach Anleitung der Vernunfft und Glaubens-Gründe verfasset/ Und in Dieser Fünfften Auflage verbessert. Hamburg/ […] 1731.

7) Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun und Laßen, Zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet von Christian Wolffen, Königl. Preuß. Hoff-Rathe und Mathem. & Natural. Prof. P.O. […] Halle im Magdeburgischen/ 1720.

8) Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, darinn alle philosophische Wissenschaften, in ihrer natürlichen Verknüpfung, in zweyen Theilen abgehandelt werden. […] von Johann Christoph Gottscheden […] Fünfte vermehrte und verbesserte Auflage […] Leipzig […] 1748.


Carpzov - Leiser


Unser Johann Benedikt Carpzov ist der zweite dieses Namens, der Theologe war, und hat von 1639 bis 1699 gelebt. (Christian Gottlieb Jöcher, Allgemeines Gelehrten-Lexicon […] Erster Theil A-C, Leipzig […] 1750; und: Allgemeine Deutsche Biographie, Leipzig 1876.) Jöcher verzeichnet in seinem Artikel über ihn die „Predigt von der grossen Hure“ als sein Werk. Doch nicht seine Predigt selbst, wohl aber die Vorrede dazu ist für unsere Analyse interessant. Es hatte nämlich ein katholischer Pamphletist die übliche protestantische Schriftauslegung zurückgewiesen, nach der die apokalyptische Hure von Babylon die römische Kirche bedeuten sollte. Dabei hatte er Carpzov namentlich angegriffen als den „reichen Prädicanten und Professor zu Leipzig“. Dieser sah sich durch die schadenfrohe Reaktion seiner Gemeinde veranlaßt (das Pamphlet war reißend weggegangen), eine Erwiderung zu veröffentlichen, in der er seinerseits die protestantische Schriftauslegung der „grossen Hure“ wieder einmal bekräftigte. In der Vorrede aber nahm er zu dem persönlichen Anwurf Stellung. Was davon mit Besitzverhältnissen zu tun hat, werde ich zitieren, da an den Text gar nicht leicht zu kommen ist.

Der gelehrte Mann leitet die Zeichenverknüpfung "reicher Priester" aus einem Textstück der jüdischen Geschichtsschreibung ab, in dem es angeblich vorkam, einen Rabbi Tryphon aus dem 1.Jahrhundert nach Christus „[…] den reichen Priester zu tituliren. Welchen titel er wohl mag meritiret haben/ weil er bey grossen und ansehnlichen vermögen/ dar bey auch sehr karg gewesen/ und es es überall/ offt gar mit ziemlichen verlust seines ansehens/ zusammen gesuchet/ und bey nahe in einem weinberge drüber schläge bekommen […] Doch hat ers hernach zeit seines lebens bereuet/ und von seinen gütern den armen viel gutes gethan/ reichlich almosen ausgetheilet/ […]“

In seiner Verteidigung distanziert sich Carpzov nun unter Hinweis auf einen zweiten älteren Text von der Situation, aus der heraus er sich verteidigen muß. Er zitiert nämlich die Worte eines inzwischen verstorbenen Kollegen zu einem ähnlichen Anlaß. Daraus haben wir den Vorteil, ein- und denselben Text als Zeugnis des Sprachgebrauchs zweier Personen zu betrachten und ihm daher breitere Anwendbarkeit zuzusprechen. Polycarpus Leiser, Kursächsischer Oberhofprediger, hatte sich gegen den Vorwurf, reich zu sein, folgendermaßen gewehrt:

„Sie sollen wissen/ schrieb er/ daß ich ja reich sey; und zwar reicher/ denn nicht allein sie/ sondern auch der teufel selbst mir gönnen mögen. Ich bin erstlich reich an der seel in GOTT; Denn der himmlische Vater mich gesegnet hat mit allerley geistlichen seegen in himmlischen gütern durch Christum/ welchen reichthum ich nicht mit allen Käyserthumen dieser welt vertauschen wolte. Darnach bin ich reich an kindern/ damit mich GOTT in meiner stehenden ehe reichlich gesegnet/ welches ich für einen bessern reichthum achte/ denn alle hoheit und schätze aller Päpstischen Bischöffe/ die sich ihrer unächten kinder/ […] schämen/ ihren reichthum aber in dieser welt lassen müssen; Da entgegen wir unsere kinder/ als unsern schatz mit in himmel nehmen. Über das bin ich auch reich an ehren: daß ich ein diener bin JEsu Christi/ […] Endlich bin ich auch reich an zeitlichen gütern: Denn so lang ich im Ministerio gewesen/ habe ich iederzeit/ iedoch bey grosser müh und arbeit/ mein ehrlich auskommen gehabt/ und mir dabey genügen lassen. Wer sich genügen lässet/ der ist reich/ wenn er gleich kein gross gut hat. Wie daß mir mein garten/ den ich habe/ vielleicht so viel ist/ als einem andern ein grosser Rittersitz/ und viel Fuhrwerck oder Meyerhöffe/ dem doch noch alles zu wenig ist. Auf solche maß bin ich reich.“

Im Kontext von "reich" lassen sich die Adjektive "groß", "ansehnlich“ und "karg" feststellen. Nur "karg" bezieht sich auf dasselbe Substantiv wie "reich".


Eine Zwischenbemerkung: Wir können leider nicht mehr, um die logische Struktur des Textes zu erhellen, beim Autor nachfragen: „Wie haben Sie das eigentlich gemeint?“ Wir können nur eigene Paraphrasen des Textes ausprobieren, in denen die für uns interessanten Wörter wieder erscheinen. Solche Paraphrasen müssen eine Bedingung erfüllen: sie müssen sinngleich sein. Wie sollen wir uns aber dessen sicher sein? Es hilft leider auch nicht, explizite Regeln zur grammatischen Transformation aufzustellen, denn, soweit es derartige Regeln schon gibt, sind sie für die Gegenwartssprache gültig, aber kaum für ältere Sprachstufen; erstelle ich sie aber für den früheren Sprachgebrauch, so muß ich schon vorher den Sinn vieler Texte aus dieser Zeit verstanden haben. Ich würde mich damit lediglich auf einen pedantischen Umweg begeben und das Verständnis nicht im geringsten unabhängiger machen von mir selbst und von der Eigenart des jeweils vorliegenden Textes. Der prinzipiellen Zirkelhaftigkeit des Verstehens entginge ich nicht.

Da erscheint es mir schon sinnvoller, in den hermeneutischen Zirkel an einer Stelle einzutreten, wo man sich die Grammatik nicht mehr oder noch nicht, den Sinn aber unmittelbar zum Problem macht. Die Schlüssigkeit des Gedankengebäudes und Vergleiche mit Informationen aus anderen Quellen erweisen die Richtigkeit der Grundannahmen.


Als Paraphrase zu unserem Text schlage ich vor:

Rabbi Tryphon wird reich genannt unter der Bedingung, daß er karg ist, sowie unter weiteren Bedingungen, die noch angeführt werden. Da die kontextuale Beziehung zwischen "reich" und "karg" interessiert, muß ich jetzt versuchen, die zugrundeliegende logische Struktur zu erkennen. Ich helfe mir durch eine weitere Paraphrase:

Wenn Rabbi Tryphon karg ist, dann ist er reich. Es handelt sich offenbar um eine Subjunktion. Sie könnte auch dann wahr sein, wenn die Teilaussage "Der Rabbi ist karg" falsch wäre. "Karg" ist der Unterbegriff zu "reich".

Auch die anderen Bedingungen, die Carpzov angeführt hat, implizieren die Aussage: „Der Rabbi Tryphon ist reich“. Wir sehen uns jedoch in einer Schwierigkeit, wenn wir diese logische Beziehung als eine kontextuale klassifizieren wollen: Es ist keine Paraphrase möglich, aus der beispielsweise die Elementaraussage hervorginge: „Der Rabbi ist Vermögen“. So viel von der Grammatik zu wissen, verleugne ich nicht, daß man nicht immer ein Wort einer Wortklasse in der gleichen syntaktischen Funktion wie ein Wort einer anderen Wortklasse gebrauchen kann. Man kann hier lediglich sagen: "bei großem und ansehnlichem Vermögen" impliziert "reich".

Wie kann man trotzdem aus der aufgefundenen Subjunktion Rückschlüsse ziehen? Die Handlungsschemata bzw. Gegenstände, auf die sich die erwähnte Zeichenverknüpfung bezieht, sind in irgendeiner Weise dem zugrundeliegenden Handlungsschema von "reich sein" untergeordnet. Wir tun gut daran, durch Beifügung eines weiteren Wortes aus dem Kontext von "reich" anzudeuten, daß unter Umständen nicht jeglicher Sinn von "reich" von dem Sinn jener anderen Zeichenverknüpfung impliziert wird: "reich (Priester)". Auch (Rabbi) käme in Frage. Welche Verbindung hier wirklich den präzisen Sinn von "reich" festlegt und welche deswegen hier als einzig relevante angeführt werden muß, ersehen wir bestenfalls daraus, ob an einer anderen Textstelle der Sinn von "reich" sich ändert, wenn es von einem anderen Wort begleitet wird; das heißt, ob "reich" dann zu einem dritten Wort in kontextuale Beziehung tritt, das zu "karg" im Gegensatz steht. Bis jetzt können wir das noch nicht wissen.

Rabbi Tryphon sucht überall Vermögen zusammen, und zwar oft mit Verlust seines Ansehens. Einmal bekommt er beinahe Schläge. — Wenn Verlust des Ansehens, dann Vermögen. (Wir erinnern uns, daß die Subjunktion auch dann wahr ist, wenn Vermögen eintrifft, Verlust des Ansehens aber nicht.) Wenn Schläge, dann Verlust des Ansehens. — "Verlust (Ansehen)" ist ein Unterbegriff zu "Vermögen (Priester)"; "Schläge" zu "Verlust (Ansehen)".

Rabbi Tryphon sucht Vermögen zusammen, doch dann bereut er es. Darum tut er den Armen Gutes und teilt Almosen aus. — Wenn er bereut, dann sucht er nicht zusammen; wenn er zusammensucht, dann bereut er nicht. Wenn er bereut, dann tut er den Armen Gutes, dann teilt er Almosen aus. — "Bereuen" und "zusammensuchen (Vermögen)" stehen in kontradiktorischem Gegensatz zueinander. Ob sie zur gleichen Wortbedeutung Unterbegriffe sein können, ist noch eine andere Frage. "Gutes tun (Armer)" und "austeilen (Almosen)" sind kausal abhängig von "bereuen".

Es wäre zu überlegen, ob nicht auch Wörter anderer Wortklassen als nur Adjektive, Verben und Substantive im Zusammenhang mit Handlungsschemata des Besitzens eingeübt sein könnten. Wie verhält es sich zum Beispiel mit Possessivpronomina? Haben sie lediglich syntaktische Funktion, oder kann diese Wortklasse auch verschiedenen Sinn annehmen, der vom Kontext abhängig wäre und darum erst gedeutet werden müßte? Wie verhält es sich mit Adverben? Numeralia? — In der Rede können sie alle freilich Gefühlswerte annehmen, doch, von den Adverben abgesehen, sind ihre Bedeutungen erfahrungsgemäß dem historischen Wandel in ungleich geringerem Maße unterworfen als die anderer Wortklassen. Adverben aber können als sinngebende bzw. bedeutungsdifferenzierende Begleitzeichen von Verben erfaßt werden. Ich hoffe daher, daß sich trotz der Beschränkung auf drei Wortklassen genügend Belege für einen eventuellen sprachlichen Wandel finden lassen.


Wenn man nur einmal die Substantive des vorliegenden Textes betrachtet, findet man vier Zusammenhänge:

1. "Reichtum" — "Gut" — "Segen" — "Kaisertum" — "Kind" — "Schatz".

(„[…] mit allerlei geistlichem Segen in himmlischen gütern durch Christus, welchen Reichtum ich nicht mit allen Kaisertumen dieser Welt vertauschen wollte. Damit bin ich reich an Kindern, damit mich Gott in meiner stehenden Ehe reichlich gesegnet […] wir unsere Kinder als unsern Schatz mit in den Himmel nehmen.“)


2. "Reichtum" – "Kind" — "Schatz" — "Hoheit"

(„[…] für einen besseren Reichtum achte als alle Hoheit und Schätze aller Päpstischen Bischöfe, die sich ihrer unechten Kinder schämen, ihren Reichtum aber in dieser Welt lassen müssen,“)


3. "Gut" — "Rittersitz" — "Meierhof“ – "Fuhrwerk" („reich an zeitlichen Gütern […] vielleicht so viel ist als einem andern ein großer Rittersitz und viel Fuhrwerk oder Meierhöfe […]“


4. "Gut"  "Garten“ – "Auskommen" — "Mühe" — "Arbeit" — "Ministerium"

(„[…] reich an zeitlichen Gütern: Denn, so lang ich im Ministerium [d.h. Amt] gewesen, habe ich jederzeit, jedoch bei großer Mühe und Arbeit, mein ehrliches Auskommen gehabt […] daß mir mein Garten, den ich habe, vielleicht so viel ist […]“


In zweien davon begegnet "Reichtum", mit logischen Beziehungen zu jeweils verschiedenen Wörtern. In 2. ist es außerdem mit "(Welt)" verknüpft, in 1. könnte man aufgrund des "relativen Satzanschlusses" eine Zeichenverknüpfung mit "(Christus)" für möglich halten. Nun stimmen diese beiden Belege von "Reichtum" aber doch in ihrer Beziehung auf ein anderes Wort überein, nämlich "Kind". Dieses ist aber das eine Mal mit "(Ehe)" verknüpft, das andere Mal mit "(unecht)". "Gut (zeitlich)" bezieht sich auf "Garten"; "Gut (himmlisch)" steht in einem anderen Zusammenhang.

Wörter gegensätzlicher Bedeutung können den Sinn eines Wortes, mit dem sie jeweils verbunden werden, mit gegensätzlichem Begriffsinhalt versehen. Dies scheint der Fall zu sein mit "Kind (Ehe)" und "Reichtum (Gott)" einerseits sowie "Kind (unecht)" und "Reichtum (Welt)" andererseits, wenn man berücksichtigt, daß Leiser zwischen sich und den Päpstischen Bischöfen einen Gegensatz konstruiert: "Da entgegen".

Die Begleitwörter, durch die ein Wort dem Sinnzusammenhang 1. zugeordnet wird, sind: "(Gott)" bzw. "(Christus)" — "(himmlisch)" — "(geistlich)" — "(Himmel)" — "(Ehe)" — "(Welt)". Für 2. sind es: "(Welt)" "(unecht)" -"(Bischof)". Es kann einen stutzig machen, daß das Wort "(Welt)" zum Sinn der Wörter in beiden Zusammenhängen beizutragen hat. Könnte nicht "Kaisertum (Welt)" eher zu 2. gehören? Zu "Kaisertum" haben wir zwar keine zweite kontextuale Beziehung gefunden, die genaueren Aufschluß gäbe, doch bleibt immerhin der Vermutung Raum, daß "Reichtum (Welt)" und "Kaisertum (Welt)" dem gleichen Sinnzusammenhang angehören.

Nun liegt nahe, daß "bereuen" — "Gutes tun" — "austeilen" zu einem Sinnzusammenhang 5. gehören, und "zusammensuchen" — "bekommen" zu einem Zusammenhang 6. Da "zusammensuchen" mit "Vermögen" verknüpft ist, "karg sein" über die Wörter "bei“ und "auch" aber gleichfalls, gehört "karg sein" vielleicht auch dazu.

Ungewisser ist, wie die drei verschiedenen Belege von "reich sein" zu beurteilen sind. Über den Sinnzusammenhang, dem ihre Begleitwörter angehören, wissen wir zwar ein wenig bescheid. "Reich sein (Kind)" und "reich sein (Gut)" haben Verbindungen zu verschiedenen Sinnzusammenhängen; es handelt sich hier übrigens um "Gut (zeitlich)". Leider wissen wir nicht, in welcher logischen Beziehung "achten (Reichtum)" und "sich genügen lassen" stehen und müssen darum auf dieser Fährte innehalten.

"Seele“, eine dritte Verbindung von "reich sein", steht in unserem Text leider auch nicht in Beziehung zu einem anderen Substantiv.

Nirgendwo in der umfänglichen Predigt, die Carpzov seiner Vorrede folgen ließ, wird nochmals so ausführlich von Besitzverhältnissen gehandelt, eben auch dort nicht, wo von Beziehungen zwischen Menschen die Rede ist. Wenn wir daher die Sinnzusammenhänge 1. bis 6. als die ausführlichsten Anschauungsobjekte nehmen müssen, die auf längere Sicht zu bekommen sind, so ist es wohl berechtigt, eine Fortsetzung der Untersuchung davon abhängig zu machen, ob bereits jetzt Beispiele für die in These I behaupteten sprachlichen Prozesse zu finden sind. Nach unserem Vorwissen von einem zwischenmenschlichen Bereich, in dem nicht viele Änderungen vorgefallen sind, der Familie nämlich, gehört "Kind" als Gegenstand dazu. Einem Bereich der Besitzverhältnisse würde wohl das Wort "Gut" zugeordnet werden. Nun bildet zwar "Gut" im Sinnzusammenhang 1. den Oberbegriff für "Kind", doch diese Art der bereichübergreifenden Zuordnung findet sonst keine Anwendung, wird nicht regelhaft. Sie erscheint vereinzelt. Was hier die regelmäßige Abgrenzung der Zusammenhänge schafft, ist das Auftreten von attributiven Beifügungen, die ich einem Bereich des "Religiösen" zuordne. Auf diese Art wird der Bereich der Besitzverhältnisse aufgespalten. Z.B.: "Gut (groß)" und "Gut (zeitlich)" haben eigentlich die gleiche Bedeutung, doch ihr Sinn wird durch das Auftreten von "(ehrlich)" und ein Bibelzitat in einen polar-konträren Gegensatz gestellt.

(„Endlich bin ich auch reich an zeitlichen Gütern: […l habe ich jederzeit […] mein ehrliches Auskommen gehabt und mir dabei genügen lassen. Wer sich genügen läßt, der ist reich, wenn er gleich kein großes Gut hat.“)

Das ist aber nicht alles, was mit dem Wort "Gut" geschieht. Leiser stellt eine Güterordnung auf! An erster Stelle nennt er "Gut (himmlisch)" bzw. "Reichtum (Gott)", an zweiter Stelle "Kind" bzw. "Reichtum (Gott)", an dritter Stelle "Ehre" — die Parallelität der Satzglieder erlaubt uns, dies hier in Bezug auf "Gut" hier ebenfalls anzuführen —, an vierter Stelle "Gut (zeitlich)", wovon "Gut (groß)" dem Sinn nach geschieden wird. Daß diese Reihenfolge einer Wertskala von oben nach unten folgt, ersieht man daraus, daß Leiser sich der Reihe nach mit dem Kaiser, mit Bischöfen und dann mit Adligen vorteilhaft vergleicht. Auf diese Weise entsteht eine über die Wortbedeutungen hinausgehende Textstruktur. Das, was wir hier allenfalls Besitzdenken nennen könnten, erscheint als Nebenprodukt dieser Textstruktur, sie selbst wiederum bedingt durch die Situation, sich gegen den Vergleich mit allen Personengruppen, die mit "reich" bezeichnet werden können, zur Wehr zu setzen, und zwar mithilfe religiöser Sinndifferenzierung. Auf die Bedeutungen wirkt dieses "Besitzdenken" hier keinesfalls; es liegt zu sehr im Sinn. Ich bin nicht der Ansicht, daß der lutherische Prediger-Soziolekt außerhalb derartiger Situationen im Sinne unserer These etwas hergibt.


Exkurs: Von der Sprache einer jeglichen Gesellschaft, in der es Besitzverhältnisse überhaupt gibt, ist zu erwarten, daß sie Kombinationen von Wörtern zumindest nicht ausschließt, deren Zeichenfunktionen auf Besitzverhältnisse „in übertragenem Sinn“ verweisen. Dabei mögen sich auch Verhältnisse des gesellschaftlichen Miteinander unter den Handlungsschemata finden, auf die solche sprachlichen Schemata übertragen werden. Es wundert daher nicht sonderlich, bei Wolfram von Eschenbach die Stelle zu finden (um nur eine herauszugreifen): „ei Gîburc, süeze âmie, wie tiure ich dich vergolten hân!“ (Wolfram von Eschenbach: Willehalm , I, 39, S.12 f., Ausgabe von Albert Leitzmann, Halle 1905.)

Es wundert schon gar nicht bei einer Gesellschaft, in der Abhängigkeiten von Menschen untereinander, in der Form der Leibeigenschaft, mit der Verteilung von Grund und Boden in der Praxis untrennbar einhergehen, worauf man auch die aufkommende Geldwirtschaft eine zeitlang anwendet. Auch eine Aussage im Kirchenlied, wie z.B. „Herr, ich bin Dein Eigentum“, wird dadurch ermöglicht, daß auf Gott, mangels praktischer Erfahrung, die Prädikationen eines "Herrn" übertragen werden. Patriarchalische Familienverhältnisse innerhalb dieser Gesellschaft legen nahe, daß auch Kinder zum Gut gerechnet werden können.

Wenn das "Besitzdenken" in derartigen "Übertragungen" bestehen sollte, könnte man sich die Arbeit leicht machen. Ein Florilegium mehrerer hundert Beispiele aus allen Zeiten und Literaturen wäre wohl eher zusammenzuschreiben als nach konkreten literarhistorischen Zusammenhängen zu suchen. Ich bin aber durch eine bestimmte Einschränkung in These I daran gebunden, nach einer bestimmten Art von Übertragung zu forschen, nämlich der, die über Bezeichnung kausaler Zusammenhänge von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen, wie sie immer zu konstatieren sind, hinausgeht. Zusätzlich ergibt sich aus der Fassung, welche die These zuletzt angenommen hat, daß derartige Übertragungen nicht ohne Folgen auf den Sprachgebrauch geblieben sein, also bereits in Bedeutungsdifferenzierungen resultieren sollen. Das heißt, man muß bereits in der Lage sein, eine neue Gruppe von Sprachteilnehmern auszumachen, für die eine solche Differenzierung die Losung ist; sie kann dabei einen Zusammenhang wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse bezeichnen, der auf das zeitgebundene Interesse dieser Gruppe bezogen ist, ohne notwendigerweise die realen Verhältnisse wiederzuspiegeln.

Eine historische Kritik des Textes kann man durchführen, indem man versucht, neue Aussagen gleichen Sprachgebrauchs zu konstruieren, die aus bereits untersuchten Aussagen logisch ableitbar sind. Zum Beispiel:

„Wenn einem die Prädikatoren 'Mühe' und 'Arbeit' zugesprochen werden können, dann auch der Prädikator 'Auskommen'.“ Oder: „Mit Mühe und Arbeit erreicht man in einem Amt (Ministerium) ein ehrliches Auskommen.“ Ob dieser Satz in seiner Allgemeinheit auf alle Amtsgenossen Leisers im 18.Jahrhundert anwendbar gewesen sei, darf bestritten werden. Hingegen paßt der Satz sehr wohl zu den ständischen Auffassungen, die wir für den Katholizismus, aber auch für das Luthertum annehmen durften. „Wer sich genügen läßt, der ist reich“ paßt zu der Doktrin, man solle an dem Platze bleiben, an den Gott einen gestellt hat. Wir sehen durch die Aussagen des vorliegenden Textes unser Vorverständnis von einer ständischen Gesellschaft bestätigt. Wenn jedoch die Gesellschaft zu Carpzovs Zeit nicht mehr ständisch gewesen wäre, müßten wir eine Ungleichzeitigkeit feststellen.

Wenn man sich die Mühe und Arbeit macht, über Carpzovs Information hinaus nachzuschlagen, wer Polycarp Leiser war, erlebt man die Überraschung, daß zwischen beiden Männern beinah ein Jahrhundert liegt. Leiser, der einzige sächsische Oberhofprediger dieses Namens, lebte von 1551 bis 1610. Wenn man seinen Text liest, könnte man meinen, er gehöre als Theologe jedenfalls nicht zu jenen Schichten des Bürgertums, wie die Juristen, die es sich leisten konnten, dem Patriziat nachzueifern, das seinerseits durch Ankauf von Landgütern seit dem Mittelalter dem Adel nacheiferte. Man nimmt es ihm ab, daß er alles Zeitliche aus den Einkünften seines Amtes habe, auch wenn sein Garten mehr gewesen sein kann als ein Gemüsegärtchen hinterm Haus. Dabei war seine Mutter, eine geborene Entringer, die Tochter eines Tübinger Bürgers aus "angesehenem Geschlecht" und seine Frau die Tochter des Bürgermeisters von Wittenberg, Lukas Cranachs des Jüngeren. (Allgemeine Deutsche Biographie, und: Johann Christoph Adelung, Fortsetzung und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers allgemeinen Gelehrten-Lexico, Dritter Band, fortgesetzt von Heinrich Rotermund, Pastor an der Domkirche zu Bremen, Delmenhorst 1810.) Leiser vertuscht also nicht so sehr seinen Besitzstand als seine Erwerbschancen, die er durch seine Beziehungen zum Patriziat hat, indem er die Besitztümer reicherer Patrizier angibt und vorgibt, er gehöre nicht zu dieser sozialen Schicht. Dabei können ihm durchaus diese Erwerbschancen gleichgültig gewesen sein. Was das für eine Manipulation ist, kann man tatsächlich nur vor dem Modell der ständischen Gesellschaft sehen. Eine solche Familie mußte über kurz oder lang durch Mitgift und Erbschaft zu einer der reichsten werden, wenn nicht "höhere Gewalt" das verhinderte. Carpzov nun, der mit allem versippt ist, was in Leipzig Rang und Namen hat, versteckt sich ohne ein weiteres Wort über seine eigene Stellung hinter der Sprachregelung von Leiser. Ein solches Verhalten würde sich zur exemplarischen Einführung des Terminus "Ideologie" nicht schlecht eignen.


Sonstige Schriften, die zugrundegelegt wurden:


Martin Schian. Orthodoxie und Pietismus im Kampf um die Predigt, Ein Beitrag zur Geschichte des endenden 17. und des beginnenden 18.Jahrhunderts, Gießen 1912.

Georg Witkowski, Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig, Leipzig und Berlin 1909.