Wie äußerten sich die Zeitgenossen des Wandels dazu?


Es wurde bereits vermutet, daß Texte bürgerlicher Autoren nicht unbedingt bürgerliche Texte sein müßten, und daß dazu auch die "Darstellung" bürgerlicher Verhältnisse nicht ausschlaggebend sei. Wir tun gut daran, die innerhalb dieser Kultur produzierten Texte in Beziehungen einzuordnen, die ihrer eventuellen "Ungleichzeitigkeit" Rechnung tragen. "Gleichzeitig" wären theoretische Aussagen, die sich auf die gesamte Gesellschaft richten und eine Praxis ermöglichen, die den objektiven Tendenzen dieser Gesellschaft folgt. Das jeweilige Bewußtsein, das die Menschen über ihr Dasein haben, ist jedoch vielfältiger. Wir benötigen also auch ein Modell dessen, was ich in der Erstfassung von These I "geistigen Wandel" genannt habe.


Religiös bestimmte Anschauungen

Als der erste Wandel theoretischer Aussagen über wirtschaftliches Verhalten und soziale Beziehungen, der von der Forschung mit dem Ende der „ständischen Gesellschaftsordnung“ in Zusammenhang gebracht wird, ist der Wandel religiöser Anschauungen zu nennen, der von der „Reformation“ ausgeht. Alfred Müller-Armack unterscheidet von da aus drei Klassen solcher Aussagen: katholische, lutherische, und calvinistisch-reformierte. (vgl. Alfred Müller-Armack, Genealogie der Wirtschaftsstile, Die geistesgeschichtlichen Ursprünge des Staats-und Wirtschaftsreformen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1941.) Nach der „Confessio Augustana“ von 1555 und ihrer Formel „cuius regio, eius religio“ fallen diese Unterscheidungen weitgehend mit Staatsgrenzen zusammen.

Im überkommenen dogmatischen System des Katholizismus herrscht die Auffassung, daß die Arbeit des Individuums, soweit es durch seinen Stand zur Arbeit veranlaßt ist, nur dazu dienen solle, dem Individuum und seinen Angehörigen auf gerechte Weise Nahrung zu verschaffen. Höher bewertet wird die „vita contemplativa“, geringer bewertet wird rastlose Verfolgung irdischer Ziele. „Neben dieser statischen Arbeitsidee der mittelalterlichen Kirche ist es die religiös bedingte Spendengesinnung, die den sittlichen Zusammenhalt der Zünfte erst ermöglichte. […] Wer die Folgeentwicklung betrachtet, weiß, daß diese Spendenfreudigkeit nicht eine einfach vorhandene Charaktereigenschaft war, sondern mit ihrer religiösen Prämiierung stand und fiel“. (s. Müller-Armack, a.a.O., S.214.)

„Indem das Luthertum die religiöse Bedeutung des mönchischen Lebens bestreitet, wird die Ausfüllung der Stelle, an die der einzelne sich gestellt findet, zum einzigen Gebot. Die Arbeit schlechthin erhält einen religiösen Akzent“. (s. Müller-Armack, S.102.) Das Wort "Beruf" und die damit hergestellte Beziehung von innerweltlicher Tätigkeit auf Pflichtbewußtsein vor Gott stammt aus der Lutherschen Bibelübersetzung. Hier, und später im orthodoxen Luthertum, spielt allerdings die Art der Tätigkeit und der darin erzielte Erfolg keine Rolle in Bezug auf das „Heil der Seele“. „Die Säkularisation des Kirchengutes vermindert die Macht, bestimmte soziale und wirtschaftliche Grundsätze unmittelbar wirksam werden zu lassen. Erbauungsliteratur und Predigt werden so die einzigen Vermittlungsmöglichkeiten für moralische Unterweisung.“ Dagegen entsteht in lutherischen Staaten eine ganz auf praktische Einzelfragen beschränkte Literatur von Beamten über Ökonomie, die „Cameralistik“ genannt wird. „Die soziale Teilnahmslosigkeit der staatskirchlichen Orthodoxie steigerte sich gelegentlich zu direktem Widerstand gegen sozialen Fortschritt. Die pietistischen Anstalten wurden angefeindet“. Hier liegt ein aus den subjektiven Umständen verstehbares, an der objektiven Tendenz vorbeizielendes Bewußtsein vor. Aus der neuen Dogmatik des Luthertums folgte keine systematisch erneuerte Theorie der sozialen Ordnung, hingegen eher die Bereitschaft zur Verteidigung der jeweiligen Praxis, auch wenn sie die an sich ständischen Vorstellungen des Luthertums überschritt. Insofern gibt es hier wiederum eine Entsprechung der Gleichzeitigkeit mit einer objektiven Tendenz, die subjektiv nicht zu rechtfertigen ist.

„Die soziale Arbeit des Calvinisten ist lediglich Arbeit "in maiorem gloriam dei". Diesen Charakter trägt daher auch die Berufsarbeit, […] Die 'Nächstenliebe' äußert sich […] in erster Linie in Erfüllung der durch die lex naturae gegebenen Berufsaufgaben, und sie nimmt dabei einen eigentümlichen sachlich-unpersönlichen Charakter an: den eines Dienstes an der rationalen Gestaltung des uns umgebenden gesellschaftlichen Kosmos“. (s. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S.100 f.) Noch gegen Ende des 17. Jahrhunderts wird aber bei den englischen Puritanern, z.B. in Baxter's Schriften, das Erstreben des Reichtums als durchaus bedenklich angesehen. Wer den Mammon liebe, verachte seine Seele. Doch im Grunde sind es Bedenken gegen den Genuß des Reichtums und gegen bequemen Müßiggang, „recreations“. Die wirtschaftliche Tätigkeit hingegen sei zur Ehre Gottes nötig, daher sei Zeitvergeudung die erste aller Sünden. Der Gehorsam gegenüber der von Gott vorherbestimmten Weltordnung ist für den Calvinisten oberstes Gebot, an dem alle Lebensäußerungen gemessen werden. Vom Dogma her skeptisch gegen den Staat, als andersgläubige Minorität von allen Ämtern ausgeschlossen, wird der Calvinismus zum Nährboden von Überzeugungen, die auf Einschränkung staatlicher Macht und der ständischen Organisation gehen. Dabei werden neue wirtschaftstheoretische Aussagen vielfach im Verlauf theologischer Argumentation zu Gehör gebracht.

Die bisherige konfessionelle Dreigliederung ist nur so lange auch für die Klassifizierung von Gesellschaftsformen von Gültigkeit, als die religiösen Weltanschauungen in der Diskussion der gesellschaftlichen Zielvorstellungen tonangebend sind. Sobald wirtschaftliches Verhalten und staatliche Organisation nicht mehr theologisch begründet werden, trennt keine Confessio Augustana mehr die Entwicklung in verschiedenen Staaten.


Philosophische Anschauungen

Bekannt ist die Lehre vom Gesellschaftsvertrag, den die Menschen miteinander schließen, um den Krieg aller gegen alle zu beenden. Von Natur aus sei der Mensch des Menschen Feind. Thomas Hobbes stand vor dem Problem, diesen Satz mit seiner mechanistischen Vorstellung von der Natur der Welt so zu verbinden, daß die in der menschlichen Gesellschaft gültigen Gesetze ebenfalls aus der Natur ableitbar erschienen. Dazu erfand er die Vertragsfiktion. „Den Ausdruck 'Naturrecht', laws of nature, verwendet Hobbes in der Tat nur noch mit Vorbehalten. Er bedeutet nicht mehr die 'natürliche' Ordnung eines Ganzen, sondern die Summe jener Verpflichtungen, die jedes menschliche Individuum anerkennen müßte, wenn es das, was es ohnehin will, Selbsterhaltung und Steigerung seiner Macht und seiner Lust, vernünftig und sicher erreichen wollte.“ (s. Karl-Heinz Ilting, Über die Sprache des Naturrechts, in: Das Problem der Sprache, München 1967, S.346.)

"Recht" heißt hier also nicht soviel wie "Zugeständnis", sondern wie "Verpflichtung". Das von Menschen gesetzte Recht ist eine Gesamtordnung, in der einzelne Teilbereiche zur Nutzung überlassen werden. Diese von Menschen hergestellte Rechtsordnung entspricht in der älteren Tradition insofern der Natur, als sie in Analogie zu den in der Natur vorgegebenen Ordnungen konstruiert ist. Diese Analogie ist für Hobbes nicht mehr durchgängig vorhanden. "Gesetze" wären auch ohne sie möglich. Schließlich tritt bei Hobbes der absolute Souverän auf, der das Recht garantiert und auslegt, nachdem die Individuen gerade so viel Vernunft aufgebracht haben, alle ihre Freiheiten an ihn abzugeben, um von ihm gerade so viel Erlaubnisse zurück zu bekommen, wie nötig sind, um den Staat zu konsolidieren. Hierin ist Hobbes der Theoretiker des Absolutismus und für die bürgerliche Klasse nicht lange maßgebend.

Genauer gesagt so lange, wie die Tendenz zur bürgerlichen Gesellschaft innerhalb der Wirtschaftsform des Merkantilismus vor sich ging. Als die Möglichkeit des „Freihandels“ sich abzeichnete, war es mit der Gleichzeitigkeit dieser Theorie vorbei. Die Entwicklung einer Ethik, die nicht von staatlicher Autorität ausginge, nicht mehr als Reflex auf die Erfahrung des Bürgerkriegs zu verstehen wäre, war eher mit der älteren Naturrechtstheorie des Hugo Grotius zu verbinden. (vgl. Reinhart Koselleck, Kritik und Krise, Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg und München 1959.) Dieser hatte 1625 in „De Jure Belli ac Pacis“ von natürlichen Rechten gehandelt, die so unwandelbar seien, daß selbst Gott sie nicht ändern könne. Aber auch die absolutistische Theorie bei Hobbes hat einen Aspekt, der sich weiterentwickeln ließ. Die Untertanen erscheinen als homogene Materie des Staates, wodurch die Form des Staates keineswegs durch eine Strukturierung der Materie, sprich: Hierarchie, vorgegeben wäre. „Das Individuum kam nicht mehr in seiner sozialtypischen Eigenart in den Blick, sondern als Träger allgemein menschlicher Züge, insbesondere als freies Vernunftwesen, mithin unter einem gleichmachenden Gesichtspunkt“. (s. Günter Ellscheid, Artikel über "Naturrecht" in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Studienausgabe, München 1973.) Dieser Satz beschreibt eine Tendenz zur absolutistischen Staatsform, in der bereits die Tendenz zur bürgerlichen Gesellschaft steckt. Es kommt ganz darauf an, was man der Vernunft zutraut, wenn entschieden werden soll, wieviel Freiheit der Staat den rechtlich gleichgestellten Vernunftwesen einräumen solle.

Es gab einen Weg, an überkommener Religion und Autorität radikal zu zweifeln und sich auf die Vernunft zu berufen, ohne Gott und Natur gleichzusetzen, wie es z.B. Spinoza versucht hatte. Dieser Weg wurde von René Descartes beschritten. Unbezweifelbar, "evident", ist für ihn zunächst nur die Tatsache des Zweifelns als einer Art des Denkens. Vom Denken schließt er auf das Sein des "Ich". In diesem "Ich", das als körperunabhängiges Bewußtsein vorgestellt wird, findet er noch einige angeborene "Ideen", an vorderster Stelle die Idee Gottes. Aus dem Auftreten dieser Idee, die er sich vermeintlich nicht selber gegeben haben könne, da sie eine vollkommene Realität impliziert, die ihm selbst in der fingierten Situation des Denkanfangs noch nicht zukommt, folgert er die Existenz Gottes. Da die Gottesidee auch die Idee der Wahrhaftigkeit impliziere, folgert Descartes, daß auch alle anderen Vorstellungen seines Bewußtseins, die ihm von da ausgehend evident seien, wahr seien. Dazu gehört die allen Menschen gemeinsame Vorstellung einer körperlichen, das heißt ausgedehnten Welt. Dieser Welt als "res corporea" kommt nicht das Prädikat "denkend" zu. Gott ist also außerhalb des Universums, das als Maschine aus unveränderlichen Mengen von Materie und Bewegung vorgestellt wird. (Diese mechanistische Anschauung hat die damals als Theorie einer erweiterten industriellen Produktion zur ersten Blüte gelangenden Naturwissenschaften zur Voraussetzung.) Insofern der menschliche Körper ausgedehnt ist, gehört er als kleine Maschine der großen Weltenmaschine an; insofern der Mensch Bewußtsein, "res cogitans", ist, gehört er wie die Engel der geistigen Sphäre an und ist so von der Natur unabhängig. Diese beiden Zugehörigkeiten des "Menschen an sich" waren bereits in der damaligen ständischen Gesellschaft an der Arbeitsteilung zwischen Angehörigen "denkender" und handwerklicher Berufe zu beobachten. Der Dualismus zwischen Körper und Seele kann, nach Descartes, nur durch die Hilfe Gottes überbrückt werden. Diese Hilfe hat man sich so vorzustellen, daß Gott mit dem Denken nicht nur den Zweifel, sondern auch die Vernunft geschaffen hat. Der Mensch erkennt durch richtige Anwendung der Vernunft, ausgehend von den angeborenen Ideen, in deduktiver Schlußweise („modo geometrico“), geleitet von der Evidenz, die Mechanik der Welt, ihre Natur. Dabei entspricht der subjektiven Vernunft des einzelnen menschlichen Denkens die objektiv vernünftige Ordnung der Natur.

Diese philosophische Auffassung wird "Rationalismus" genannt. Die Rationalisten gelangten durch ihre deduktive Methode zu einer ethischen Beurteilung menschlicher Verhaltensweisen anhand der Vernunft. Der Mensch sei von Natur gut, weil er die Fähigkeit besitze, das Natürliche zu erkennen und zu bewerten. Zu wissen, was rechtens ist, heiße zu tun, was rechtens ist. Diese Aussage kam aber mit den beobachtbaren Tatsachen kaum überein, denn sonst müßte jeder Mensch das Gute, das Naturgemäße, tun; deshalb hatte man hinzuzufügen: wenn die Vernunft nicht verdunkelt sei, werde sie dem Menschen das Richtige weisen, und er werde es tun. Auch das reichte nicht hin, denn es war offensichtlich, daß ein Mensch die Wahrheit wissen könne und ihr nicht diene. Deshalb hatte man sich mit den Ursachen moralisch bewertbaren Handelns genauer zu beschäftigen. Man fand sie in den "Leidenschaften" (oder: "Affekten") als den nicht-intellektuellen Fähigkeiten des Menschen. Im 17.Jahrhundert werden die Leidenschaften gewöhnlich als Störfaktoren angesehen; im 18.Jahrhundert ändert sich diese Einschätzung. Shaftesbury begründet den Satz vom natürlichen Guten im Menschen aus dem Zusammenhang von Gutem und ästhetischem Wohlgefallen. Man brauchte diesen Satz, wenn man die Ethik vom Offenbarungsglauben unabhängig machen wollte, der immer mehr zur Anschauung derer wurde, die das überlebte ständische System stützten.

Die rationalistischen Ansätze zur Wertung des Verhaltens haben gemeinsam, daß die Erkenntnis der Natur des Menschen von allen Zufälligkeiten des Ortes und der Zeit absieht. Aufgabe der historischen Betrachtung war innerhalb des Rationalismus lediglich die Erklärung zeitweiliger Abweichungen von der vernünftigen Naturordnung. In dieser Hinsicht ähnelte die Theorie noch dem christlichen Geschichtsbild, nach dem die Welt zwar ihrem von Gott bestimmten Ende zustrebt, aber unterweilen ziemlich alles beim Alten bleibt und nur das Drama der Rettung individueller Seelen von Bedeutung ist.

Eine solche Theorie kann nur gleichzeitig sein mit einem Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung, in dem einzelne Individuen systemüberschreitend tätig sind, ohne sich darüber im Klaren zu sein. Im Gegensatz dazu lehrt schon Francis Bacon in seinem „Novum Organum Scientiarum“ von 1620, daß es möglich sei, sich die Natur durch Erkenntnis ihrer Zusammenhänge, und indem man sie nutzt, schrittweise zu unterwerfen. Er bevorzugt die induktive Methode: Einzelbeobachtungen und Zusammenfassung im synthetischen Beweisverfahren. Allerdings hatte er nicht genügend Kenntnisse der Mathematik, um diese Methode so explizit zu formulieren und das Gebot der systematischen Exaktheit aufzustellen wie Descartes. Etwas Derartiges auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie leisten erst Locke und die von ihm ausgehende Schule des "Empirismus". Doch lag von Bacon's Standpunkt schon der Gedanke an einen notwendig immer weiteren, unumkehrbaren Fortschritt der Wissenschaft, der Naturbeherrschung, und damit der Menschheit nahe. Ein weiterer Weg zum Fortschrittsgedanken geht von der "Quérelle des anciens et des modernes" aus, einer literaturkritischen Diskussion in der Academie Française, in der es um die Behauptung ging, die neueren Schriftsteller und auch die sonstigen Künstler könnten den antiken überlegen sein. Fontenelle leitet diesen Gedanken auf die Technik und mithin auf die Produktivkräfte über. Damit hat eine objektiv feststellbare Entwicklung ihren adäquaten subjektiven Ausdruck gefunden.

In seinem „Essay Concerning Human Understanding“ von 1690 stellt John Locke die These auf, das Bewußtsein des Menschen sei anfangs leer, eine tabula rasa, und gelange erst durch Erfahrung zu Inhalten. Die Erfahrung gliedere sich in Sinnesempfindung und Selbstbeobachtung der Sinnesempfindung. Dabei seien gewisse „Dispositionen“ des Verstandes mitbeteiligt. Keinesfalls aber bedeuten diese Dispositionen dasselbe wie „angeborene Ideen“ bei Descartes. Es handelt sich vielmehr um Anlagen, die den Verstand befähigen, überhaupt Sinneseindrücke zu unterscheiden. Mit der Ablehnung angeborener Ideen wird nicht nur die christliche Lehre von der Erbsünde zunichte; ihre soziologische Konsequenz ist auch, daß der Weg, den Menschen zu bessern, fortan über seine Umwelt läuft. Es seien schließlich die Erfahrungen, die den Menschen zu dem machten, was er ist. So gerät bei dem traditionellen Streben nach Vervollkommnung des Individuums die Vervollkommnung der Gesellschaft ins Blickfeld. Dies aber hat viel mit Besitzverhältnissen zu tun.

Auch Locke's Modell der Gesellschaft ist ein naturrechtliches Modell. Er setzt voraus, daß dem Menschen bereits von Natur ein Recht auf Eigentum zukomme, nicht erst aufgrund einer vom mächtigsten Individuum erlassenen Satzung. Unter Eigentum versteht Locke dasjenige, was die Menschen an ihrer Person sowie an ihren Gütern haben. Daß alle Menschen dieses Recht hätten, folgert er daraus, daß alle insofern gleich seien, als niemand von Natur eine Gerichtsbarkeit über einen andern beanspruchen könne. (Bei Hobbes wurde lediglich vorausgesetzt, daß alle Menschen hinsichtlich der Befriedigung ihrer Wünsche mit gleichen Erwartungen ausgestattet seien, und daß daher gleiches Recht für alle gegeben werden müsse.) „Daß es den Naturzustand — entgegen einer geläufigen Kritik am rationalistischen Naturrecht — nicht nur als eine Modellvorstellung, sondern auch in der Realität gibt, nämlich in dem Verhältnis der Staaten zueinander, die eine übergeordnete Entscheidungsinstanz nicht anerkennen […], hat J.Locke hinreichend klar gemacht“. (s. G.Ellscheid, a.a.O.) Er brauchte dazu nur bei Grotius anzuknüpfen. Nachdem aber Locke das Eigentumsrecht aus dem Naturrecht abgeleitet hat, hebt er alle von „natürlichen Gesetzen“ auferlegten Beschränkungen des Eigentums wieder auf.

Bevor einer etwas zu seinem Unterhalt verwenden kann, muß es ihm so zu eigen geworden sein, daß kein anderer mehr ein Recht darauf hat. Das Recht auf Selbsterhaltung rechtfertigt also die Aneignung.

Ein zweites natürliches Recht sei, daß auch die Arbeit eines Menschen sein Eigentum ist. Natürliche Grenzen des Eigentums: Den anderen Menschen müssen genügend und ebenso zweckentsprechende Objekte zur Selbsterhaltung übrigbleiben. Nichts darf als Eigentum beansprucht werden, was über den persönlichen Verbrauch hinausgeht, da es sonst verderben könnte. Arbeit schafft neues Eigentum. Fast sieht es so aus, als dürfe jeder nur Produkte seiner Arbeit sein eigen nennen.

Die Aufhebung dieser natürlichen Einschränkung wird, nach Locke, durch die Erfindung des Geldes erreicht. Es kann nicht verderben. Als Kapital eingesetzt, ist es auf seine Weise ebenso produktiv wie Grundbesitz. Wenn man es akkumuliert, werden mehr Tauschprozesse möglich. (Hier denkt Locke in den Bahnen des Merkantilismus.) Der Reichtum, den einzelne Menschen gewinnen, hebt zugleich den allgemeinen Lebensstandard. Locke meint, Kapital sei in seiner Ausdehnung nicht so eingeschränkt wie Grund und Boden, und daher bedeute das Ansammeln von Kapital keine Behinderung des Lebensunterhalts anderer Menschen. Gegen Lohn könne man außerdem die Arbeit eines andern und deren Produkte in seinen Besitz überführen. Hiermit sind ungehemmte Aneignung und Klassenunterschiede schon dem "Naturzustand" unterstellt und damit gerechtfertigt.

Locke überträgt die ökonomische und soziale Ungleichheit der ihm bekannten Gesellschaft auf sein Modell der Urgesellschaft ohne Autorität. Sein Naturbegriff funktioniert bereits anders als bei Hobbes: nicht mehr als Herausstellen des Vernünftigen gegenüber einer fragwürdigen und gebrechlichen Ordnung, sondern als Bekräftigung einer gesellschaftlichen Tendenz, die stark genug ist, sich gegen restliche Beschränkungen ohne obrigkeitliche Lenkung durchzusetzen, als die latent vorhandene bessere Ordnung. Er ist einer der Verfechter der konstitutionellen Monarchie. Zweifellos kommt diesen Gedanken ein hoher Grad von Gleichzeitigkeit mit den politischen Ereignissen in England um das Jahr 1688 zu. Daß man dort nunmehr ohne absolute Staatsgewalt, aber keineswegs ohne eine bestimmte Art von Gesetzen auskommt, deutet wohl darauf hin, daß die bürgerliche Gesellschaft nicht aus sich selbst, auf "natürliche" Weise, sondern nur mit Unterstützung durch eine, wenn auch eingeschränkte, Staatsgewalt ihre spezifischen Herrschaftsverhältnisse, die mit den Eigentumsrechten zusammenhängen, aufrechterhalten kann. Locke unterscheidet im „Essay Concerning Human Understanding“ zwischen drei Arten von Gesetzen: den göttlichen der Offenbarung, die mit Sünde und Pflicht befaßt sind; den bürgerlichen, "zivilen", die vom Staat ausgehen und Verbrechen und Unschuld definieren; den philosophischen oder Gesetzen der öffentlichen Meinung (den eigentlich gesellschaftlichen), die allein unter dem Aspekt von Tugend und Laster stehen. Seit aber der religiöse Bürgerkrieg, dem der Staat seine Existenz und seine Form verdankt, vergessen wurde, fallen Staatsgewalt und Staatsräson mehr und mehr dem Verdacht anheim, unmoralisch zu sein. Im weiteren Verlauf des 18.Jahrhunderts setzt sich die bürgerliche Moraldiskussion in steigendem Maße an die Stelle der Politik; dabei gerät jedoch auch ihre Ausgangsposition, das bürgerliche Klasseninteresse, vor „allgemein menschlichen“ Gesichtspunkten in Vergessenheit.


Sonstige Schriften, die zugrundegelegt wurden:


Georg Lukacs, Das Klassenbewußtsein, aus: Geschichte und Klassenbewußtsein, Studien über marxistische Dialektik, Berlin 1923, in: Ideologie, Ideologiekritik und Wissenssoziologie, herausgegeben und eingeleitet von Kurt Lenk, 6.Aufl. Darmstadt und Neuwied 1972, S.125.

Ernst Bloch, Politische Wirkungen der Ungleichzeitigkeit, aus: Erbschaft dieser Zeit, Erweiterte Ausgabe, Frankfurt/Main 1962, in: Kurt Lenk, Ideologie, S.130.

Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Tübingen 1934, S.63 ff.

Karl-Heinz Ilting, Über die Sprache des Naturrechts, in: Das Problem der Sprache, München 1967.

Ernst Topitsch, Das mythologische Denken, in: Kurt Lenk, Ideologie, S.92 und 97.

Hermann Krings, Artikel "Freiheit", in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd 2, S.493. — Krings bezieht sich auf Spinozas "Theologisch-politischen Traktat" von 1670.

Basil Willey, The Eighteenth Century Background, Studies on the Idea of Nature in the Thought of the Period, London, 4.Aufl. 1950.