Dritter Abschnitt: Engel und Barden
Es wäre schon ganz ungewöhnlich gewesen, wenn nicht auch Nürnberger der breiteren deutschen Öffentlichkeit zu einer Zeit bekannt zu werden versucht hätten, in der beinahe jeder Provinzler, der schreiben konnte, sich zum Original-Genie berufen fühlte. Georg Christoph Lichtenbergs Vorbehalte gegenüber diesem oft gehaltlosen Unwesen können, statt vieler Aufsätze, die Stelle der nüchternen Kritik vertreten: In einem 1780 zu Göttingen erschienen Aufsatz beklagt er, daß junge, unerfahrene Leute nach dem Vorbild weniger wirklich origineller Köpfe genialisch zu schreiben versuchen, und macht die leichtere Erreichbarkeit von Literatur und eine gewisse Gruppen-Mentalität dafür verantwortlich: "Durch die Gewohnheit immer süße Lehre zu empfangen, erschlappt bei den meisten das Talent selbst zu suchen. [...] Man schreibt daher leichter Romane aus Romanen, Schauspiele aus Schauspielen und Gedichte aus Gedichten, ohne im Stand zu sein oder auch nur den Willen zu haben, die Zeichnung endlich einmal wieder mit der Natur zusammenzuhalten. Törigt affektierte Sonderbarkeit in dieser Methode wird das Kriterium von Originalität [...]".
Lichtenberg mußte es wissen; sein Freund und Verleger Dieterich gab einen der damals so beliebten poetischen Taschenkalender oder Almanache heraus, in denen Jahr für Jahr Sammlungen bisher ungedruckter und anders kaum zu druckender Gedichte und Kurztexte zu finden waren. Namhafte Verfasser und Neulinge, Männer in Amt und Würden sowie vorsichtige Ungenannte stellten sich darin dem Publikum vor und fielen auch manchmal damit durch. Ein öffentlicher Prozeß literarischer Geschmacksbildung begann in den Mittelschichten — hundert Jahre nach den entsprechenden Vorgängen in Frankreich und England. Wenn das stimmt, erscheint höchstens das eine an der Mitwirkung des einen oder anderen Pegnesen merkwürdig: daß er es nicht unter seinem Ordensnamen, ja ohne Hinweis auf den Orden tat. Es hätte wohl vorerst, vor der Panzerschen Reform, eher hinderlich gewirkt, vielleicht jede unvoreingenommene Beurteilung unmöglich gemacht. Was Schiller in den Xenien bekanntermaßen Abträgliches über den Blumenorden äußerte: zu dieser Zeit hätte er damit recht gehabt; dies bestimmte die öffentliche Meinung über den Orden. Von daher kam wohl noch Schillers Fehleinschätzung. Das heißt nicht, daß die einzeln und auf eigene Verantwortung publizierenden Pegnesen um 1780 von vorneherein als schlechte Schriftsteller zu gelten hätten. Man sollte sich aus ihren Texten schon etwas ansehen.
Klopstock-Nachfolge
David Gottfried Schöber, der Bürgermeister von Gera (jetziger Partnerstadt Nürnbergs), war unter dem Namen Coelestin Mitglied des Ordens. Als er im Juni 1778 starb, gab der Orden, wie gewöhnlich, einen Einzeldruck des Leichcarmens heraus. Verfaßt hatte es Frank-Pylades. Daraus entnehme ich die besonders charakteristischen Strophen:
O! welch ein Glück, wenn uns nach abgeschiedner Sonne
Und abgeschiednen [sic] lieben Tag
Nie schwarzes Laster quält — wenn nichts als Seelenwonne
Uns folgt ins dunkle Schlafgemach.
[...]
Sein aufgeflogner Geist singt an Jehovens Throne
Der Himmelssänger Jubellied,
Indeß die Hülle nun, mit einer Mirthenkrone
Beschenkt, zur Mutter Erde flieht.
Da der Vortrag den Dichter macht, spricht es nicht von vorneherein gegen eine unvoreingenommene Betrachtung, wenn erst einmal der Inhalt der Aussage auf eine kurze Form gebracht wird; um so besser ermißt man den Anteil der poetischen Überformung:
Man sollte bei einbrechender Dunkelheit ein gutes Gewissen haben.
Die Seele ist im Himmel; der Leib kehrt zur Erde zurück.
Im Sinne eines eigenständigen Einfalls ist nur die erste Aussage zu werten, denn darin liegt bereits der Kern einer Metapher: Man sollte, heißt es eigentlich, wenn die Nacht des Todes beginnt, ein gutes Gewissen, d.h. gut gelebt haben. -- Und nun beginnt der dichterische Höhenflug. Diesen Ausdruck möge man bitte nicht so ironisch nehmen, wie man ihn heute üblicherweise versteht, denn nach der Einebnung der Lyrik zur mehr oder weniger witzigen, gereimten Gedankendrechselei begann man in jener Periode in vollem Ernst wieder eine besondere Sprache für die gebundene Rede zu suchen; Erhabenheit und Schwung, die nicht ohne Begeisterung zu erzielen sind, setzten solche Produkte wieder ebenso weit ab von der Prosa wie die Gedichte der ersten Pegnitzschäfer, nur daß sie nicht gekünstelt, sondern erfühlt wirken sollten. Ein Mittel hierzu waren Wort-Zusammensetzungen: 'Seelenwonne' (statt des bekannteren 'Seelenfreude' oder 'Seelenfriede'), 'Himmelssänger' (für 'Engelchöre'). Birken hätte dem Verfahren gewiß seinen Beifall nicht versagt. Man mache einmal den Versuch und setze die landläufigeren Wörter anstelle der Neubildungen: Alles wird ein wenig stumpfer; man kommt von der Grundaussage nicht weit genug los, um sich noch etwas dabei zu denken, geschweige denn, etwas Ungewöhnliches zu empfinden. Und war denn dies nicht der Zweck?
Beiwörter müssen gar nicht so originell sein, um die Empfindung zu erhöhen: 'schwarz' für das Laster und 'dunkel' für das Schlafgemach überraschen nicht, aber ihre Entsprechung sowie ihre Entgegensetzung zu dem 'lieben' Tag sprechen stark für das Argument, ohne daß man sich das bewußt machen muß. Noch paßt darauf das Wort der ersten wissenschaftlichen Ästhetik (von Alexander Gottlieb Baumgarten, 1735), daß eine poetische Rede keine deutliche, aber dennoch klar sei.
Was Schwung in die Aussage bringt, sind natürlich die Tätigkeitswörter. Hier erscheint glücklich gewählt der 'abgeschiedne' statt eines bloß 'vergangenen' Tags — so kommt die Assoziation mit dem Ende des Lebens zustande; 'aufgeflogen' ist der Geist, nicht 'aufgefahren in den Himmel', wie wohl nur von Christus gesagt werden dürfte; und doch ist Nähe zum 'Menschensohn' nicht unbeabsichtigt bei einem Frommen. Daß der Körper in die Grube 'flieht', könnte ein wenig zu dynamisch genannt werden. 'Mutter Erde' allerdings als Fluchtpunkt klingt schon ein wenig freundlicher.
Hier schlummert sie — ruht sanft im kühlen kühlen Grabe,
Ruht von der langen Arbeit aus —
Auf Hofnung eingesenkt, daß sie zu erben habe
Ein lichters glanzerfülltes Haus.
Heil ihr! Sie ahndet sie, die Freudenschöpfungsstunde
In ihres Grabes Finsternis.
Erwacht auf Gottes Ruf — und lobt mit frohem Munde
Den Ruffer, ihres Glücks gewiß.
[...]
Wir aber, Coelestin, wir irren in dem Haine,
der Dir o! Lieber, heilig war,
Um Dich betrübt, herum! und unsrer Thränen keine
Stellt Dich uns lebend wieder dar!
[...]
Was soll hierzu Lichtenbergs Kritik? Ihm paßte wohl die ganze Richtung nicht, sonst hätte er an jener Stelle auch einmal ein Wort darüber verloren, daß man keiner großen Erfahrung in der Welt der Geschäfte bedarf, um über Außerweltliches zu dichten; man muß nur Erfahrungen in der eigenen Seele gemacht haben. Daran allerdings muß sich derartige Lyrik messen lassen, und nicht nur daran, welche klopstockischen Verfahren der Verfasser gelernt hat — sonst fällt man wieder in die Auswüchse der barocken Virtuosenlyrik. Die gute Gelegenheit für angehende Dichter, die sich auf geistliche Dichtung verlegen — nämlich, nicht aus der platten Wirklichkeit etwas machen zu müssen — hat ihre Gefahr allerdings darin, daß man im Regelfall theologisch gebildet sein muß, um nicht in Schwierigkeiten mit dem Konsistorium zu geraten, und: daß man nicht über alle Gegenstände so schreiben kann, ohne über die Trennlinie zwischen dem Erhabenen und dem Lächerlichen zu stolpern. Man kann wohl Frank-Pylades abnehmen, daß er dieser Gefahr zu so traurigem Anlaß selbst in einem Gelegenheitsgedicht entgangen ist.
Die "seraphische" Richtung
Am 29. Juli 1782 starb im Alter von 31 Jahren ein weiterer Blumengenosse, den Lichtenberg unter die unerfahrenen Schwärmer gerechnet hätte: Amarantes II., d.i. Konrad Christoph Oye, in den Orden aufgenommen 1776, Mittagsprediger an der Heilig-Kreuz-Kirche. Auch er wollte Gott "im Engelton besingen", wie ihm Silvius II. (Georg Ernst Waldau) in seinem Trauergedicht nachsagt. Aus dem in Nürnberg erschienenen Almanach namens Poetische Blumenlese auf 1782 zitiert Sylvius-Waldau von S. 15 ein Gedicht des Verstorbenen, das geeignet scheint, auszugsweise das besonders Seraphische seiner poetischen Neigung darzutun. Dieser Ausdruck hat eine gewisse Verbreitung erlangt, weil unter den Großen, deren Namen bleibend sind, nicht nur Klopstock, Bodmer oder Jacobi Gedichte "im Engelton" gesungen haben; auch Wieland hatte seine "seraphische" Periode. Man könnte sie, samt ihrer Wirkung auf Nachahmer, geradezu als Nachhall der klopstockischen Bestrebungen in die Geniezeit hinein betrachten. Selbst Goethe und seine Schwester konnten davon als Halberwachsene bekanntlich nicht unberührt bleiben. Wie aber macht sich dieser Nachhall bei dem jünglingshaften Amarantes II. bemerkbar?
Daß ich unsterblich bin,
Fühl ich ganz — und ganz der Freuden Zukunft,
Die einst schimmernder mich umstrahlen,
Wenn meine Freunde mit mir Unsterblichkeit
Aus dem Quell der Seeligkeit trinken,
Der den Stuhl Gottes umfleußt,
Und wir vereint einst mit Moses und Sokrates,
Und jedes Weltteils, jeder Religion
Guten, fühlbarbeseelten Menschen
Theilen der himmlischen Freundschaft Wonne
Ewigkeiten hindurch! — —
"Hier ruht ein Dichter und — ein Christ." schließt Silvius. Den Christen nehme ich ihm — trotz seines Berufes — nicht ganz ab, mit dem gleichen Argument, mit dem herrnhuterisch Gesinnte den wohlmeinenden jungen Goethe zu seiner Verblüffung darauf aufmerksam machten, daß er, streng genommen, kein Christ sei: Was hat Sokrates in einem nach herkömmlicher Weise vorgestellten Himmel zu suchen; was hat der Gedanke an natürliche Religion mit dem guten alten Christentum zu schaffen? Es ist ein erfreuliches Zeichen für Bewußtseinserweiterung und Toleranz, daß man mit solchen Gedanken um 1780 sogar in Nürnberg bereits Beifall finden konnte, aber man sieht doch, daß die Begriffe ins Wanken geraten sind. Silvius hätte seinen toleranten jungen Freund besser einen philosophischen Kopf genannt. (Dann hätten Leute wie Lichtenberg Einspruch erhoben.) Immerhin bereitet dies den Weg für die spätere Vermengung von Christentum, Antike, Kantischer Philosophie und Gesellschaftskritik in der frühromantischen Literatur. Der Pegnesische Blumenorden war frühzeitig dabei, als die problematischen Unsicherheiten noch nicht zu programmatischen Entwürfen geworden waren.
Auf den zweiten Blick kann man Silvius auch sein Urteil über den Dichter nicht ganz abnehmen. Der ästhetische Eindruck der obigen Verse ist einfach schwächer. Das liegt beileibe nicht am Fehlen des Reims, und mit der typographischen Anordnung könnte man sich abfinden, doch diese allein macht noch keinen Rhythmus. Ziemlich störend: 'vereint einst'. Der einzige bildliche Eindruck geht von der Aussage aus, daß der Quell der Seligkeit Gottes Stuhl umfließe; alles übrige bleibt völlig unanschauliche Beschwörung von Gefühlen. (Welche Regel stellt der Deutschlehrer auf, wenn seine Achtklässer das Schildern lernen sollen? "Ihr sollt nicht schreiben: Ich fühle, ich freue mich, ich sehe, man sieht, man hört'; sondern: Dieser oder jener Gegenstand leuchtet, tönt'; und so fort. Die Welt spricht durch die Sinne zu uns, nicht wir verbreiten uns über die Welt!")
Sinnliche Rede erfordert eigentlich auch kürzere Sätze. Nun gut, diese soll übersinnlich sein; aber dennoch ist der Sinnbogen von 'mit Moses' bis 'guten [...] Menschen' zu weit gespannt; man kann kaum aufs erste Mal hören, daß sich 'mit' auch auf die 'guten Menschen' bezieht. Amarantes II. hätte noch viel zu lernen gehabt, aber so konnte man immerhin in die Almanache kommen.
Im Rückgriff auf den ältesten Almanach, der in der Ordensbibliothek noch vorhanden ist, trifft man eine Gattung der Lyrik an, die lange im Orden wenig vertreten war. Die Liebeslyrik ganz junger Leute, verpönt von ernsthaften, gesetzten Männern, ob sie jetzt Oeder, Munz-Philodectes oder Lichtenberg hießen, mag weitere Beispiele für das Neuerwachen poetischen Gefühls abgeben — denn der homme d'affaires, der "Mann von Geschäften", wie ihn letzterer als Leitbild aufstellt, kann zwar geistreiche Essays und Aphorismen schreiben, aber kein einziges Gedicht, das den Namen verdient, wenn er das nicht hat: poetisches Gefühl. Dies war eben der Trumpf, den die Jungen auszuspielen pflegten, und die einzige kritische Aufgabe angesichts solcher Gedichte muß sein, nachzusehen, ob sie es sich mit ihrer Gefühlserregungskunst nicht zu leicht machten.
Liebesgedichte
Johann Friedrich Degen wurde erst zur 150-Jahr-Feier, am 15. Juli 1794, in den Orden aufgenommen, aber schon 15 Jahre zuvor war er in einem Almanach vertreten gewesen: In dem in der Weygandschen Buchhandlung zu Leipzig erschienenen Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1779 7 findet man ein Gedicht von ihm, dessen Titel zunächst an ein Schäfergedicht denken läßt, wie sie der junge Goethe in seiner Leipziger Zeit um 1769 noch schrieb.
Amynt und Chloe
A.
Sag, Freundliche, für die mein Busen bebet,
Die meine Phantasien stets belebet:
Was floh vor meinem ersten Blick
Dein blaues Aug so schnell zurück?
So weit klingt es in der Tat nach Rokoko: konventionell verkleidete, kaum erotische Tändelei im nachgemachten Volkston, aber mit höfischer Wortwahl.
Chl.
Ich las auf deinen hochgefärbten Wangen,
O Freund, ein stilles inniges Verlangen;
Schnell schlug mein Herz, für dich entglüht —
Wie leicht, daß dies ein Blick verrieth?
In Chloes Antwort wird der Vers nicht nur rhythmisch besser; der gefühlvolle Augenblick ist knapp und deutlich herausgehoben, die Wörter 'hochgefärbt' und 'entglüht' alles andere als banal, ohne gestelzt zu sein, und die kokette Frage am Schluß wirkt sehr anmutig. "Es schlug mein Herz: Geschwind zu Pferde" aus Goethes Straßburger Zeit (1770/71) scheint ganz nahe zu liegen, ins Mädchenhafte abgewandelt.
A.
Da einst den Tisch ein buntes Spiel umkränzte,
Und mir dein Aug sanft gegenüber glänzte;
Da glimmt' in mir, ich fühlt es nie,
Das erste Fünkchen Sympathie.
Chl.
Der erste Kuß, den dir das Pfand erlaubte,
Den ich verschämt von deinen Lippen raubte, —
Sahst du nicht meine Heiterkeit? —
Gewann dir meine Zärtlichkeit.
Schon befinden wir uns bei einer Parallele zu den Erfahrungen, die Goethe, nach der Straßburger Episode heimgekehrt, in seinem Frankfurter und Offenbacher Freundeskreis und mit Lili Schönemann um 1773 machte: die (beinah) harmlose Kälberei, der gesellig organisierte Flirt. Pfänderspiele mit Küssen. Die einzige Gefahr: sich damit eine unüberlegte Verlobung einzuhandeln. Bürgerliche "Gemüt"-lichkeit, die sowohl in Leidenschaft als auch in Verdruß umschlagen kann; vielleicht sogar in beides gleichzeitig — das wäre der Ansatzpunkt genialischer Behandlung. Wie steht es damit bei Amynt und Cloe?
A.
Vor dir konnt nichts mein freyes Herz besiegen,
Kein schalkhaft Aug, kein Reiz in sanften Zügen;
Kein holdes Lächeln rührte mich,
Kein Götterwuchs entzückte mich.
Amynt trägt reichlich dick auf. Dabei ist 'besiegen' doch gar zu abgebraucht. Seltsam, welcher dünne Reim die beiden letzten Verse zusammenhält; auch wenn die letzte Silbe aus einem selbständigen Wort besteht, erwartet man eine weitergehende Übereinstimmung; doch was man hier bekommt, in dem zweimaligen 'ü', ist lediglich eine Assonanz, vokalischer Gleichklang. Dies ist dem Volkslied angemessen, wurde auch in Anlehnung an den spanischen Cid-Roman von Romantikern oft nachgeahmt, paßt aber zu dem gesellig-bürgerlichen Rahmen weniger gut. Chloe antwortet:
Chl.
Vor dir war nichts, das mir gefallen konnte;
Kein Jüngling lebte unter diesem Monde,
Dem meine Brust entgegen schlug,
Wenn er gleich Gold und Purpur trug.
Mit den reinen Reimen hat es Degen in der Tat nicht so sehr, doch heutige Leser sind gewöhnt, bei einem Größeren ähnliche Schnitzer als absichtliche dichterische Freiheit oder persönliches Recht auf dialektale Anklänge zu entschuldigen. Hauptsache, der gemüthafte Ton stimmt. Und das tut er in diesem Gedicht ab der vorigen Strophe nicht mehr! Um diese Zeit war es eine Selbstverständlichkeit, daß Liebe nicht auf Rang und Reichtum sieht, und wer meinte, das zum überflüssigsten Male wiederholen zu müssen, lief Gefahr, daß man ihm zutraute, er habe "Gold und Purpur" noch lange zu viel Platz in seinen Gedanken eingeräumt. (Das "Besitzdenken" war in weiter fortgeschrittenen Darstellungen so raffiniert geworden, daß man bei aller ausdrücklichen Abwehr materieller Gesichtspunkte doch sehr genau den Tauschwert von Gefühlen und Tugenden erkennen konnte.) Da aber Chloe diese Worte spricht: Soll sie bloß als naiv gekennzeichnet werden? Ist es der Widerhall der Märchensprache? Wenn es das ist, hätte die Sprache des Gedichts dabei bleiben sollen. Es zerstört den Eindruck einer so leichtgewichtigen Situation, wenn die lyrischen Subjekte nicht bei einer angemessenen Perspektive bleiben und erst tändelnd, dann wissend-heiter, dann empfindsam, dann naiv, dann gar noch ernsthaft werden, und nur deshalb, weil der Dichter aus verschiedenen Konventionen wahllos aufgreift, was ihm gerade zur Fortführung eines schon überlangen Dialoges einfällt:
A.
Nun bleibt mein Herz auf ewig dir verbunden;
Dank sey dem Gott, durch den ich dich gefunden!
Der Tod selbst lächelt mir versüßt,
Wenn deine Hand mein Auge schließt.
Chl.
Ach! Keine Macht kann dir mich nun entreissen;
Für dich, o Freund, will ich die Vorsicht preisen,
Hier, da den Geist nach [sic; noch] Staub umschließt,
Dort, wo ihn Engelsglanz umfließt.
Ein süßlich lächelnder Tod, 'Staub' als Benennung dessen, was kurz zuvor noch so appetitlich rotbäckig aussah, und nichts als Geist und Vorsehung und Seraphinen als End- und Gipfelpunkt eines reizenden Vorfalls unter jungen Leuten — Degen gehört wahrhaftig nicht zu den Genies. Bei denen, die obige Kapitelüberschrift "Engel" nennt, ist er mit diesem Gedicht besser aufgehoben. Aber das hätte nicht sein müssen, wenn er es halb so lang gelassen hätte.
Witziges
Johann Andreas Friederich, der gewitzte Jurist, stellte sich in dieser Gedichtgattung weniger steif an, wenn er auch genausowenig ein zeitiges Ende finden konnte. Das schon erwähnte, bereits 1777 verfaßte Gedicht "An die Sterne", von dem der Blumenorden in den Akten der Altdorfer "Deutschen Privat-Gesellschaft" ein handgeschriebenes Exemplar besitzt, wurde in der Poetischen Blumenlese für 1783 gedruckt, die bei Ernst Christoph Grattenauer in Nürnberg herauskam. Es hält durchgehend einen leichten, heiteren Ton ein, der wie eine milde Parodie auf Naturschwärmerei wirkt. Das Argument baut sich witzig bis zu einer Schlußpointe auf: Nachdem ein Knabe die Sterne als erhaben-schöne Naturerscheinung zu verehren gelernt hat, überträgt er diese Verehrung auf die zunächst ebenso unerreichbaren Mädchen; als er jedoch als junger Mann selber ein Mädchen hat, entlocken ihm weder die einen noch die anderen Sterne mehr Tränen. (Dies beschreibt freilich auch das Ende einer lyrischen Existenz.) Eine etwas freche Einlassung besteht darin, daß er von dem Wahn geheilt sei, selber ein Stern werden zu wollen. Man halte das gegen die damals beliebte Vorstellung (an der sich etwa Wieland, aber auch noch Heinrich von Kleist erbauten), ein guter Mensch könne bei seinem Tod auf einen anderen Stern versetzt werden. Das muß manchem Orthodoxen zu antikisch oder newtonisch, rationalistischen Geistern wie Friederich schlichtweg läppisch vorgekommen sein. Die betreffenden Strophen mögen einen ersten Eindruck davon geben:
Da wachte oft in meiner Seel
Der Wunsch, auf dieser Erden
Zu seyn gehorsam, fromm und gut,
Um dort auch Stern zu werden.
Als Jüngling zwar verschwand der Wahn
Doch blieb euch meine Liebe;
Ich sah euch oft, und immer wurd
Mein Auge thränentrübe.
Die Balladenstrophe, die schlichte Wortwahl, die unterschwellige Satire gegen alles Überspannte am Frommen und Guten — dies erinnert schon sehr an gewisse Verse Gottfried August Bürgers aus derselben Zeit. Es gab eine wirklich volkstümliche Dichtung, die eben nicht vor lauter Gemüt dümmlich war. Das schätzte Lichtenberg wohl an den Versen seines Göttinger Kollegen, und er hielt zu ihm, doch Schiller wertete die Ästhetik jener Produkte als plebejisch, nicht-idealisch ab und hat Bürger in dessen letzten, schweren Lebensjahren durch diese unfreundliche Rezension noch einigen zusätzlichen Kummer gemacht. Hätte er dagegen folgende Verse höherer ästhetischer Weihen würdig befunden?
Sie stehen in eben besagtem Almanach und stammen von Christian Heinrich Seidel, im Orden Philalethes I., Diakon bei St. Sebald, der 1743 zu Etzelwang im Sulzbachischen geboren war.
An eine junge Freundin.
Wie entgegen du mir unter der wölbenden
Stirn, die reifenden Witz, reifenden Wahrheitssinn
Und die Denkerin weissagt,
Blaues, liebliches Auge, blickst!
Blickest du und verheelst deiner Empfindungen
Keine, weil zu verheelen
Keine, Rednerin, du bedarfst. [...]
Auf deutsch: ein Mädchen, das weder mit Worten noch mit Blicken aus seinem Herzen eine Mördergrube macht und dennoch schon alt genug ist, um dadurch nicht albern zu wirken. Aber muß man das so feierlich sagen? Andersherum: Wäre es Schiller idealisch genug gewesen, oder hätte auch er gemerkt, daß ein gutes Gedicht erst einmal als Gedicht und dann erst unter kunstphilosophischem Aspekt gut sein muß? Wenn ich ein derartiges Wesen so beschrieben finde, muß ich immer an das Bild der Cornelia Goethe denken und daran, welch bedauernde Worte ihr Bruder findet, um das Grausame an einer Zeitmode herauszustellen, die eine hohe Stirn bei einem ohnehin spitzig physiognomierten Kinde noch künstlich höher machte.
Bardenstrophen
Seidel hat allerdings, wie Cornelia und Wolfgang, seinen Klopstock gelesen, ja seinen Bodmer, und mit deren Talenten wuchert er ungescheut. Seine Ode an letzteren ist wegen ihrer tyrannenfresserischen Implikationen sogar in politischer Hinsicht lesenswert; So immerhin konnte, ohne sich Schwierigkeiten einzuhandeln, ein Nürnberger Geistlicher zur Zeit des Kaisers Joseph II. im Bardenkostüm loslegen:
An Bodmer
Welche glückliche Zeit, die es verdient, daß die
Aeltern Schwestern sie neidend sehn,
Welche glückliche Zeit, immer die fruchtbare
Zukunft Teutschland gebähren mag,
Die es ahndet und iezt, etwa schon Embryon,
In dem Schoose der Mutter reift:
Dennoch würdiger Greis, freu' ich, voll Jubel mich
Der, in welche mein Leben fiel;
Die, es klage sie an, welcher nur Flecken späht
In der Schöne des Angesichts,
Und die Schöne nicht fühlt, sicher die Eifersucht
Jüngrer blühender Schwestern weckt. [...]
Lebt nicht Joseph in ihr? Lebet nicht Friederich?
Helden, Königen Lehrer sie?
Unter ihnen erhebt mächtig der teutschen Volk,
Im erwachenden Selbstgefühl,
Von dem Ausland bestaunt, freudigen Stolzes voll,
Sich zur Höhe des ersten Volks! [...]
Ha! mein Deutschland [sic], das schon an den Bedrückern oft
Rächer leidender Menschheit war,
Und die Fessel zerbrach, in die Gewalt und List
Sie und heuchelnde Dummheit schloß;
Es zerbricht sie auch jetzt — ganz und auf ewig — das
Weissagt, sichert die volle That.
Die schon eilend und kühn, schreckendem Donner gleich,
Der die räubrerische Burg zerschlägt,
Kühlt und reiniget die schwüle vergiftende
Luft und trächtiger macht das Land;
Die so furchtbar und mild über die Alpen wirkt
Bis zur alten Despotenstadt,
Und des Vatikans Stolz, welcher durch teutsche That
Einst schon zitterte, niederschlägt,
Die schon über den Rhein wecket das weisere,
Das wachsamere Nachbarvolk;
Dem betäubenden Schlaf bald auch entreissen wird
Den zu feigen Iberier, [...]
Es sieht beinahe so aus, als bereite Seidel sich darauf vor, dem Illuminatenorden beizutreten statt dem Pegnesischen Blumenorden und als Untergrundkämpfer zur Beförderung von Revolutionen nach Paris und Madrid zu gehen. Sollte die klerikale Verpackung ein bewußtes Tarnen einer ganz andersgearteten radikalen Tendenz sein? Oder sind Seidels Verse neue (und dazu geborgte) Schläuche, in die er den alten Wein der protestantischen Papstschelte gießt? Es scheint, das Erwachen der Völker soll hier die die Befreiung von gegenreformatorischer Geheimpolitik, von Gewissenszwang und Gesinnungsschnüffelei sein; das heißt: es geht gegen Jesuiten und Beichtstuhl. Alle diejenigen Tyrannen, deren Verfehlungen gegen ihr Volk nichts mit Religion zu tun hatten, konnten sich vor den Anklagen in einem solchen Gedicht sicher fühlen. Anders etwa die unentwegte Papst- und Klerusschelte in Johann Gottfried Seumes berühmtem Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 : Dort liegt die Anschauung ausgeplünderter Landstriche vor, und Seume sieht und nennt ebenfalls die feudalen Wurzeln des Mißstandes; ja, er konnte es über sich bringen, eine klerikal regierte, aber gut regierte Gegend glücklich zu preisen und im selben Buche Napoleon, der noch Konsul war, bereits als Tyrannen, als Rückfall der Geschichte, zu zeichnen. Seidel hätte einerseits die verhältnismäßig menschlich regierten geistlichen Fürstentümer Würzburg und Bamberg vor Augen gehabt, und andererseits den verhältnismäßig despotischen Regierungsstil seiner Joseph und Friedrich durchschauen müssen. Konnte er die Verschärfung des Freiheitsstrebens nicht wagen, oder fehlte ihm in Nürnberg die Anschauung davon, wie der Absolutismus eines protestantischen Fürsten aussehen konnte? Der junge Schiller hat sich in "Die Räuber" schon viel weiter vorgewagt und kommt erst in "Don Carlos" (und in der Erzählung "Der Geisterseher") auf die hier angesprochene Problematik zurück. Dabei unterläuft ihm, als einem Weltbürger, allerdings keine nationalistische Überheblichkeit.
Es geht jedoch nicht um eine Herabwürdigung Seidels. Andere konnten leicht ähnliche Fehler begehen, leichter (und entschuldbarer) in jener Zeit, als die Überschreitungen nach der einen oder anderen Richtung noch neuartig waren. Patriotismus und Frömmigkeit, Aufklärung und Kosmopolitismus konnten bei ein- und denselben ästhetischen Vorlieben quer durch die Bildung eines Menschen hindurchgehen, vermischt, getrennt oder im Widerstreit auftreten. Wer nicht angestrengt philosophierte, konnte sich kaum dessen ganz bewußt werden, wie es um ihn gerade stand. Im Pegnesenorden setzte sich auf die Dauer eine Richtung durch, die noch zu beschreiben sein wird, aber man hätte rein nichts zu betrachten und es wäre um die Teilnahme des Ordens an den Fragen dieser Zeit schlecht bestellt gewesen, hätten nicht schon vor dem Umsturz von 1786 einzelne mit Versuchen in den verschiedensten Richtungen des Denkens und Dichtens begonnen. Man kann nicht fordern, daß allezeit nur Ausgewogenes zu Papier gebracht wird, wenn die Zeiten im Umbruch sind.
Monastes-Leinker feierte 1781 die Anwesenheit Josephs II. in Nürnberg mit einem Gedicht, das er in der erwähnten Sitzung im "Rothen Hahnen", am 8. Februar 1788 — erst —, im Orden vorlas. Der Text stellt zwar nur gereimte Politik dar und ist insofern dem ästhetischen Anspruch des Seidelschen Werkes nicht an die Seite zu stellen, dafür ist er jedoch verständlicher. Einzelne Punkte dieses Fürstenlobs erscheinen zeittypisch:
[...] Der Böhmens Knechten Freyheit schenkt,
Der tolerant und billig denkt,
Giebt sich uns gnädig hier zu kennen.
— Aufhebung der Leibeigenschaft, Religionsfreiheit, Rechtssicherheit, Leutseligkeit. Wer wüßte nicht,
[...] Wie unter Ihm der Handlungspreis,
Der Wißenschaften Kunst und Fleiß
Zur aufgeklärten Zeit sich kehrte?
— Gewerbefreiheit, Freiheit der Lehre und Forschung. Dies sind alles Errungenschaften, die wir heute, zumindest in unserem Land, für selbstverständlich halten. Die Bürgerlichen von damals waren uns in ihrer Lebensweise schon näher als die Kleriker oder Aristokraten. Jedenfalls hatten sie ähnliche Neigungen zur Ausbildung eines bestimmten Typs von Gesellschaft. Es muß ihnen wie der Anbruch eines Goldenen Zeitalters vorgekommen sein, als sie die ersten halbherzigen Maßnahmen wahrnehmen konnten, die von oben vorgenommen wurden, um dem zu entsprechen. Daß diese Maßnahmen aber nicht anders als halbherzig sein konnten, ohne in eine Erziehungsdiktatur umzukippen, sieht man an den folgenden Versen:
[...] Das Bischofsrecht komt schon empor,
Doch mancher Psalter schweigt im Chor,
Nachdem das Kloster aufgehoben.
Der Wahn u. Aberglaube fliehn,
Ein kluger Pius komt nach Wien,
Sieht Anstalt und Erziehungsproben.
Umschreibend gesagt: Zwar hat Joseph die Stellung seiner Bischöfe gegenüber dem Heiligen Stuhl gestärkt (und damit nichts anderes unternommen, als was der Gallikanismus der französischen Könige schon seit Jahrhunderten aus der Kirche in Frankreich gemacht hatte), doch er ging noch weiter und hob etliche Klöster auf und verbot den Jesuitenorden. Dies hatte zur Folge, daß die von diesem Orden bisher geleiteten Schulen staatlich wurden. Papst Pius fühlte sich veranlaßt, bei einem Staatsbesuch gute Miene dazu zu machen.
Die Freiheiten, die Monastes rühmt, sind eben diejenigen, die Don Carlos und Posa in Schillers Drama den Niederlanden bescheren wollen. An den kleineren Schriftstellern und den Zeitzeugnissen aus vielen Orten ersieht man erst, wie zeitgemäß die Dichtung der Klassiker — eben auch — war. Selbst das Verfahren, dem Traditionsbewußtsein der herrschenden Schichten eine eigene Deutung der Geschichte entgegenzusetzen, um Neuerungen zu rechtfertigen, findet sich in kleinerem Maßstab in Leinkers Gedicht: Er läßt den zitierten Versen noch viele weitere folgen, in denen er dartut, was für kultureller Segen Nürnberg schon früher aus gutem Verhältnis zu Kaisern erwachsen ist. Dahinter steht immer die schlaue Rechnung: Vielleicht bemerkt der Kaiser endlich einmal, daß es auch in seinem Interesse ist, blühende Reichsstädte zu haben. "Sire — geben Sie Gewerbefreiheit!" Es sieht leider nicht sehr danach aus, daß er's bemerkt hätte. Er hätte sonst den Versuch machen müssen, den Reichsstädten außerhalb seiner Erblande eine neue Verfassung zu geben.
Zweite Generation der Empfindsamen
Weniger politisch, auch sonst nicht weltanschaulich, gibt sich ein Trauergedicht auf eine Freundin, das Maria Mandleitner (Laura) im selben Almanach untergebracht hat.
An Selindens Leyer
Hängst nun einsam an Cipressen Zweigen,
Heil'ge Leyer! und sie schlummert hin;
Klage trauernd — höhere Gespielin!
Der erblasten Sängerin. [...]
Das heißt wohl: Die Leier der verstorbenen Dichterin hängt einsam an Zypressenzweigen, während diese entschlummert ist; die Leier als Freundin höherer Art möge (falls 'Klage' eine Befehlsform darstellt) um sie trauernd klagen. Freilich ermißt man nach solch prosaischer Umsetzung erst den Reiz der gebundenen Rede, der klagend abgebrochenen Ausrufe des Gedichts. Und doch wäre es möglich, poetisch über dasselbe Motiv zu schreiben, ohne am Vers-Ende immer innezuhalten und im Satzbau so undurchsichtig zu werden:
Ihr Freunde, hänget, wenn ich gestorben bin,
die kleine Harfe hinter dem Altar auf,
wo an der Wand die Totenkränze
manches verstorbenen Mädchens schimmern.
[...]
"Oft", sagt er staunend, "tönen im Abendrot
von selbst die Saiten leise wie Bienenton:
die Kinder, hergelockt vom Kirchhof,
hörtens, und sahn, wie die Kränze bebten."
Sage keiner, die reimlose Strophe erzwinge weniger Umstellungen; eine sapphische Odenstrophe, wie sie hier vorliegt, ist etwas Kompliziertes. Aber Ludwig Heinrich Christoph Hölty, der Göttinger Haindichter, beherrschte sein Handwerk eben besser als Laura, und nur aufgrund seines Originals — er war schon 1776 verstorben — verstehen wir erst, was Selindens Leier in den Zweigen überhaupt tun soll.
Wahrscheinlich bezieht sich das folgende Gedicht auf denselben Trauerfall: Magdalis II., Kunigunde Scherb, redet darin Maria Mandleitner zu (nach einem Motto aus Gellert):
An die zurückgelaßne Freundin der nun erblaßten N...
Du bist von Gram jezt hingerissen
Die Freundin starb: —
Du ließest bittre Thränen fließen
Um ihren Sarg [...]
Schlicht und schön, nicht wegen irgendwelcher seraphischer Vorstellungen und verquälter Wortwahl, sondern wegen des innehaltenden Rhythmus: nach vierhebiger Verszeile jeweils eine zweihebige eingefügt, die, aufgrund der Erwartung von Verslänge, die man noch im Ohr hat, dazu veranlaßt, die offengebliebenen Takte zu pausieren. Wenn dazu die Aussage paßt, wie es hier zweifellos der Fall ist, entsteht eine rührende Wirkung. Deshalb war diese Strophenform auch damals so beliebt. Hat man davon allerdings 36 Strophen anläßlich eines Trauerfalls anzuhören, erfüllt dies den Tatbestand der Zumutung. Hier konnte beim besten Willen nicht mehr zitiert werden.
Während Barden stürmen, Engel säuseln, wandeln bürgerliche Freundespaare schwärmerisch Hand in Hand im Irrhain. Als Leinker stirbt, verfaßt Dietelmair-Orestes zum 28. 3. 1788 das Trauergedicht. Daraus:
Wie, wenn in der stillen Sommerabendstunde,
Freunden, kühle Lüfte Labsal wehn,
Sie im sichern Blumenfelde, Mund an Munde,
Hand in Hand geschlungen, einher gehn,
Ihres Bunds sich freuen, der so süsse Freuden,
Stolze Hofnung wonnereicher Zukunft schenkt —
Wenn sie dann vergessen alle Erdenleiden,
Jeder sich so überglücklich denkt:
Und urplötzlich, auf sonst friedevoller Haide
Mörderschuß den lieben Freund erlegt —
Und dann zitternd, an des kalten Freundes Seite
Des verwaißten Herze bange schlägt;
So auch wir erfreuten uns des Erdenlebens,
Als so schnell der Mörder Tod Sein Herz zerbrach —
Ach! wir wähnten uns so sicher — doch vergebens —
Fühlen nun die Qualen tausendfach.
Ich habe im März 1991 auch ein Freundespärchen "Mund an Mund" im Irrhain wandeln sehen, von denen der eine stark geschminkt und onduliert war, sodaß meine Kinder sich verwunderten. Aber so dürfen wir obige Verse nicht auffassen, und wenn sie noch so peinlich klingen. Der Freundeskult um 1800 war eine jugendliche Übersteigerung von Formen der Geselligkeit gegen eine unbefriedigende Gesellschaftsordnung, und er trat später in anderem Gewande als Burschenschaft auf. Rein männlich blieben diese Formen besetzt, solange Frauen in öffentlichen Angelegenheiten nicht mitspielen durften. Vielleicht war die Haltung vorgebildet im Freimaurertum. Als ich Kind war, wurde mir dort draußen einmal zugeraunt, der Irrhain habe irgendetwas mit den Freimaurern oder etwas ähnlichem zu tun. So hielten sich in der ungelehrten Bevölkerung unbestimmte Vorstellungen, daß der Blumenorden auch geheime Ziele haben müsse, die weiter gingen als nur auf das Sprachliche und Literarische. Beide Organisationsformen des politisch ambitionierten Freundeskultes wurden ja zeitweise nicht ganz ohne Grund verboten. Lockere Bünde wie unsere Altdorfer Privatgesellschaft hatten es leichter, gruppenweise in einflußreiche Stellungen zu sickern und von da aus den Staat mehr oder weniger merklich zu erziehen — "der Marsch durch die Institutionen", wie man um 1970 sagte.
Mir aber fällt angesichts obiger Verse immer mehr Schiller ein, und zwar nicht der echte, sondern der vom jungen Thomas Mann parodierte: "Schorke, kömmt auch dir die Stunde jetzt, wo dein Blick sich am ERHABNEN letzt?" Es ist schon ein Witz, daß Schiller nicht wußte, wie abgrundschön er von den Pegnesen seiner Zeit parodiert wurde; sein ins Leere mäkelndes Epigramm, das den Pegnesen heute noch ärgern könnte, wenn ihm die Pegnesen von 1905 nicht passenderweise eine Bildsäule im Irrhain aufgestellt hätten, wäre sonst vielleicht unterblieben. Jene Leute von 1785 dichteten ja nicht unbedingt ihm nach, sondern hatten die Wurzeln mit ihm gemeinsam, hätten ihm sympathisch sein können. Und er war doch auch viel zu sehr theoretischer Ästhet, um jederzeit zu merken, wann die Grenze vom Erhabenen zum Lächerlichen überschritten wurde.
Erhabenes zum 150jährigen Bestehen
Mit "Erhabenem" wird der Leser von Pylades besser versorgt als von Orestes, wie oben schon einmal zu sehen war. Johann Friedrich Frank las in der Jubiläumssitzung am 15. 7. 1794 ein Gedicht zum Andenken Harsdörfers vor, das unter den erhaltenen Einzeldrucken des Ordens das erste nicht gereimte ist und auch das erste, das mit einem Antiqua-Schriftsatz gedruckt wurde. Es heißt darin u.a.:
[...] Einst blüht' ein Palmenorden auf im Schoos
Germania's, durch Fürstenbeytritt groß,
Doch hindern konnte Fürstengröße nicht,
Daß, eh die Zeit das Seculum begrub,
Das ihn gebahr, schon durch des Schicksals Sturm
Der Blüthen letzte schon verwehet war.
Oft hat ein Mißgeschick auch ihm gedroht,
Dem Werke, das von Deinen Händen stammt,
Doch immer blieb des Unglücks härtster Schlag,
Vernichtung, abgekehrt von ihm, wenn schon —
Vielleicht Ermattung seiner Pfleger selbst —
Den schönen Fortwuchs schlummernd hat gehemmt:
[...]
Noch ein Gelübd! Wir weihen's, Sel'ger, Dir
Noch ehe dieses Tages Glanz verlischt,
Der uns zu froher Rückerinnrung stimmt,
Auf Dich, und unsers Bundes Ursprung führt!
Noch ein Gelübd! Wir weihen's, Sel'ger, Dir —
Und Du, vernimms auf Deinem Sternensitz!
Nie soll in uns der Trieb ersterben, der
Dich, Unvergeßlicher, zuerst beseelt!
Nie unser Fleiß ermüden, das zu thun,
Was Ordnung und Gesetz von uns erheischt!
Und unsrer Sitzungen so ernstes Ziel,
Nach Zeitbedürfnis nützlich stets zu seyn,
Werd nie von uns verfehlt, vergessen nie —
Dann, Strephon, grünt auch Dein Gedächtnis neu,
Dann nennen wonnetrunken wir noch oft
Dich Freudengeber, segnen Dein Gebein,
Und weihen Deinem Namen dort ein Lied
Im heilgen Dunkel unsers Musenhains: [...]
Es ist eine Freude zu sehen, welche Fortschritte das Deutsche als Literatursprache von Harsdörfer bis auf 1794 gemacht hat, und wie der Orden diesen Fortschritt mittrug. Zwar nicht ohne Vorbilder von außerhalb (Klopstock und Schiller, selbstverständlich!), doch auch früh genug, um nicht nur Nachahmer, sondern Weggenossen zu sein, dichten die Pegnesen jener Jahre auf jener mittleren Höhe, deren Klima zu einer Pflanzschule des guten Geschmacks geeignet ist, und sie erfüllen in ihrer Stadt ihre kulturelle Aufgabe als Vermittler des Verständnisses für Dichtung an die breitere Öffentlichkeit. Es kann keine Genies geben über einer Wüste von Unbildung. Nürnberg trägt nicht die Fackel voran, aber der göttliche Funke glimmt auch hier. (So werden es die Zeitgenossen empfunden haben, und in diesen Ausdrücken wohl auch gedacht haben.) "Von Verdiensten, die wir zu schätzen wissen, haben wir den Keim in uns" — dieser Satz aus Goethes 1771 entworfener Rede "Zum Shäkespeares Tag" steht als tröstliches Motto über allen unreifen Bemühungen der Geniezeit. Es ist aber, wie zu sehen war, nicht etwa so, daß erst nach den Umwälzungen von 1786 im Orden zeitgemäß zu dichten begonnen worden wäre, oder daß nur die oben zitierten Autoren, oder diese vor allem, jenen rettenden Umsturz herbeigeführt hätten. Das eine bedingte auf vielfältige Weise das andere, und eine bloße Wiederspiegelung des "Unterbaus" im "Oberbau" oder, anders gewendet, ein Triumph der Kunst über das Leben kann nach der erkennbaren Lage der Dinge nicht behauptet werden. Man wird in einer Fortführung dieses Buches noch sehen, wie der Kreis der Ordensmitglieder sogar mitbeteiligt war an Bestrebungen, die letztlich zum erneuten Aufschwung Nürnbergs durch Industrialisierung führten, und doch den Bereich der Dichtung als etwas Abgesondertes bewahrte.