ABRISS DER GESCHICHTE DES PEGNESISCHEN BLUMENORDENS ANHAND SEINER SATZUNGEN

Kriminalgeschichtlicher Einschub © Copyright Werner Kügel 2002

Genau besehen, ist es keine Abschweifung, sich mit zwei Kriminalfällen im Blumenorden an der Wende zum 19. Jahrhundert zu befassen. Auch diese Vorkommnisse lassen sich im Zusammenhang der Satzungsentwicklung betrachten, wenn auch mit einigem guten Willen und als Gegenbeispiele zum Zug der Zeit: In der Satzung von 1716 war noch die Möglichkeit des Ausschlusses von Mitgliedern ausdrücklich vorgesehen, in der von 1791/93 nicht mehr. Man hatte es nach dem Selbstverständnis der hochherzigen Ehrenmänner von damals nicht nötig, irgendwelche Sanktionen vorzusehen. Doch die Hochherzigkeit jener Zeitgenossen der bürgerlichen Revolution war das eine, die grimmige Politik- und Wirtschaftskrise im Deutschland zur Zeit der napoleonischen Wirren das andere. So fügt die nachstehende Betrachtung dem optimistischen Weltbild der Theoretiker, die im vorigen Kapitel zu Wort kamen, die notwendige Ergänzung von seiten einer trübseligen Praxis hinzu. Abzustreiten wird natürlich auch nicht sein, daß schiere Sensationsgier den Erforscher des sonst gar nicht sensationellen Blumenordens dazu bringt, sich auch einmal mit zwei Männern zu befassen, von denen der eine als Täter, der andere als Opfer zu einer gewissen Beschämung der Blumengenossen Anlaß gegeben haben.

 

Der Täter: Georg Ernst Waldau



Der Geistliche Waldau begegnete bereits als Verfasser eines Nachrufes auf Amarantes II. (1782) und, nachdem er an den umwälzenden Vorgängen im Orden seit 1786 regen Anteil genommen hatte, als einer der zusätzlichen Ratgeber, die dem Vorstand der bisher vorgesehenen Ordensräte nach 1788 hinzugefügt wurden. Über Herkunft und Ausbildung sowie die Entwicklung der Interessen, die ihm zum Stolperstein werden sollten, berichtet Nopitsch in seiner Fortsetzung von Will's Gelehrtenlexikon recht ausführlich:


"Waldau (Georg Ernst) Prediger zu St. Lorenzen und Inspector der Candidaten des Predigtamtes zu Nürnberg, ist daselbst den 25 März 1745. gebohren. Sein Vater [...] war Thorschreiber am Laufer Thor [...] Die erste wissenschaftliche Bildung erhielt er in der lateinischen Sebalderschule, besonders von den zwei aufeinanderfolgenden Rectoren, Reichel und Munker; und trat, mit dem Vorsatz, Theologie zu seinem Hauptstudium, Literärgeschichte aber zum Nebengeschäfte zu wählen, 1763. unter die Zahl der in Altdorf Studierenden. Nachdem er den Vorlesungen der Professoren, Will, Nagel, Adelbulner, Dietelmair und Riederer, drei Jahre hindurch beigewohnt [...] hatte, besuchte er die Universität zu Leipzig, und strebte hier anderthalb Jahre lang, den Unterricht der dasigen Professoren, [darunter] Gellert [...] zu benützen. [...] Zu Ende des 1767sten Jahres gieng er in sein Vaterland zurück [...] Dazu bot sich ihm bald eine erwünschte Gelegenheit, indem der damalige Duumvir (Losunger) von Geuder, von welchem er zum Hofmeister seiner beiden Söhne angenommen worden, ihm zu Anfang des Jahrs 1768. das Vicariat und die Feiertagspredigerstelle an der Kirche zu St. Claren übertrug. Im May 1772. ernannte ihn die Familie der Herren von Tucher als Suden- und Krankenprediger im Hospital zum heil. Geist. Den 12. August 1791. erhielt er das Amt eines Predigers oder Antistes der Kirche zu St. Egidien, nebst der damit verbundenen Inspection über das Gymnasium und 1795. den 17. Juni wurde er Antistes oder Prediger an der Haupt- und Pfarrkirche bei St. Lorenzen [...]. Schon vorher, nämlich 1789. war ihm die Professur der Kirchen- und Gelehrtengeschichte übertragen worden [...]"

Festzuhalten ist schon einmal, daß Waldau den ehrsamen Weg von bescheidener Herkunft zu bedeutenden Ämtern gegangen war, einen Weg, der die bekannten Stationen enthält und von manchen tüchtigen jungen Leuten schon zur Überwindung der Standesgrenzen zurückgelegt worden war: Lateinschule, Studium, Hofmeisterstelle und, nach Bewährung seiner Tauglichkeit, Protektion, Vermittlung einer Existenzgrundlage. Waldau brachte es von da an sogar noch weiter als zum Beispiel Meintel; er war auch offensichtlich besser qualifiziert. Gänzlich zum Erstaunen aber bringt den Betrachter die im Gelehrtenlexicon aufgeführte Zahl seiner Veröffentlichungen, Zeichen eines unermüdlichen Fleißes in der Studierstube: insgesamt 83 Einträge, wobei Nopitsch am Ende noch summarisch etliches Verstreute erwähnt. Eine bezeichnende Auswahl davon:


"Gellerts wahre Grösse [...] 1770. 8. [...] Almanach für Freunde der theologischen Lektüre überhaupts und der gelehrten Vaterlandsgeschichte insonderheit, auf die Jahre 1780-1783. 8. [...] Ostergeschenk für Kinder. 1782. 16. [...] Wöchentliche Unterhaltungen zum Nutzen und Vergnügen. 2 Jahrgänge. 1782. 1783. 12. — Ueber die Liebe und Ehe; ein Lehrgedicht. Altenburg, 1783. 12. [...] Geschichte der Protestanten in Oestreich, Steiermarkt, Kärnthen und Krain vom Jahr 1520. bis auf die neueste Zeit. 2 Bände. Ansp. 1784. 8. [...] Vermischte Beyträge zur Geschichte der Stadt Nürnberg. 4 Bände in 32 Heften. 1786-1789. 8. [...] Leben Anton Koburgers [sic], eines der erstern und berühmtesten Buchdrucker in Nürnberg, nebst einem Verzeichnisse aller von ihm gedruckten Schriften. Dresden und Leipz. 1786. 8. [...] Beytrag zur Geschichte des Bauernkriegs in Franken. Nürnb. 1790. 8. [...] Thom. Murner’s erster teutscher Kirchen- und Ketzer-Almanach mit erläuternden Anmerkungen als kleiner Beitrag zur Reform. Geschichte. Nürnb. 1804. 8. — Predigt beim ersten Gebrauch der erneuerten grössern Orgel in der Haupt- und Pfarrkirche zu St. Lorenzen am Kirchweihfeste als den XI. Sonnt. nach Trin. 1804. gehalten. Ebend. 1804. 8. [...]"


Ein aufgeklärter Theologe mit belletristischen Neigungen, darin Munz nicht unähnlich. Er ist jedoch schon durch die Phase der Empfindsamkeit hindurchgegangen, hat zwar eines der späteren Exemplare der Gattung ,Moralische Wochenschrift‘ herausgegeben, aber versucht sich schon an der modernen Jugendliteratur, veröffentlicht selbstverständlich auch die Ausarbeitungen, die er für seine seelsorgerliche Arbeit verfaßt hat, aber dringt in geschichtliche Materien mit einer Ausdauer und Liebe zum Detail ein, noch dazu mit einer Liebe zum lokalen, regionalen oder konfessionellen Bezug, die über das Dilettieren der meisten schriftstellernden Geistlichen hinausgeht. Darin entspricht er ziemlich genau den Neigungen der maßgebenden Pegnesen seiner Zeit. So liest er etwa in der Sitzung vom 8. Februar 1790 eine Urkunde von 1433 über die Aufbewahrung der Reichskleinodien vor und gibt seine Anmerkungen dazu. Es ist kein Wunder, daß er, bereits 1775 in den Blumenorden aufgenommen, ein gutes Jahrzehnt später zu den maßgebenden Mitgliedern zählt.


Am 21. Januar 1799 schreibt Ordensrat Friederich an Präses Panzer: "[...] Bekanntlich ist ein Mitglied des Ordens Herr Prediger Waldau, durch ein Fakultäts Urtheil, das ihm auch bereits publicirt worden ist, wegen eines Buches des Diebstahls für überwiesen erkannt und deshalb zu einer namhafften Geldstraffe verurtheilt worden."


Dieses "Fakultätsurteil" hier wiederzugeben, bei dem es sich, je nach der Bedeutung von "Fakultät", um einen Altdorfer Vorgang oder um ein Urteil der Theologen innerhalb des Nürnberger Scholarchats handeln kann, wäre im Hinblick auf eine Abschätzung der Schwere des Vergehens wünschenswert. Wie aus obiger Aufstellung hervorgeht, hat ja Waldau, als wäre nichts geschehen, weiter geforscht, gepredigt, publiziert, sein verhältnismäßig hohes Kirchenamt bekleidet, und niemand schien an seiner Person Anstoß zu nehmen, auch nicht sein Amtsbruder Nopitsch, der alles dies bis ins Jahr 1804 verzeichnet hat. Nur im Blumenorden war seines Bleibens nicht mehr, darauf drängten Männer wie Friederich.


"Hochehrwürdiger Herr, hochverehrter Herr Präses


[…] Es ist zwar richtig, daß E. Hochlöbl. Rath gegen Hr. Waldau noch nicht vorgeschritten ist, daß das Kollegium der Herren Prediger auf eine höchst unbegreifliche Art sich stille verhält, auch H. Waldau, was ich aber noch nicht gewiß weis, gegen das Faculthäts-Urtheil appellirt habe. Es ist aber auch mehr als zu richtig, daß H. Waldau, nachdem dieses Urtheil ergangen, aus einem muthmaßlichen Dieb ein höchstwahrscheinlicher geworden ist, und daß zwar wegen der interponirten Appellation Ein Hochlöbl. Rath mit der Exekution noch nicht vorrüken kan, daß aber derselbe den [knapp eingeflickt: "H."] Waldau durch die Publication des in seinem Nahmen geschöpften Urtheils bereits unumwunden für einen überwiesenen Dieb erkannt habe, den das Predigerkollegium durchaus auch auf den Fall, wenn die Angelegenheit des H. Waldau künftig etwas glimpflicher ausfallen würde, des Ärgernisses wegen nicht weiter dulten sollte."


Und nun überbietet sich Friederich in immer neuen Vorstellungen, wie das feine Ehrempfinden des Blumenordens dadurch litte, und wie unbescholtene Männer den Raum zu verlassen hätten, weil ein bescholtener neben sie zu sitzen käme, u.s.f.. Zunächst solle Waldau die Teilnahme an Ordensversammlungen verboten werden, bis er sich hinlänglich vom Verdacht gereinigt habe; das bittet er den Präses Panzer im Namen der Mitglieder gehorsamst. Dieser Brief, schon der zweite in dieser Sache, folgt auf den vorigen in kurzem Abstand:


"Nürnberg den 23. Jan. 1799


Euer HochEhrwürden gehorsamster Diener


Dr. JAFriederich, Ordenskonsulent."


Panzer reagierte — was sollte er anderes tun? —, aber offenbar nicht gerne, denn er sprach nicht persönlich mit seinem Amtskollegen, sondern schickte Schöner vor. Dieser gibt Bericht:


"Sr. HochEhrwürden Herrn Schaffer Panzer, zur hochgeneigten Eröfnung.


Eu. Hochehrwürden


zeige ich, auf erhaltenen geneigten Befehl gehorsamst an: Daß unser Herr Prediger [Waldau] von der bewußten OrdensVersammlung nicht nur freywillig wegzubleiben noch immer gesonnen ist, sondern auch Dero guten Rath, daß er nicht auf der Einladung bestehen mögte, anzunehmen geschienen hat.


Mit der schuldigsten Ehrerbietung verharre ich


Eu. Hochehrwürden gehorsamst-ergebenster


Dr. J. H. Schöner.


D. 29. Jan. -99"


Wieso war die Reaktion des Blumenordens derartig streng? Kann es sich nicht, in anbetracht der gewaltigen Büchermengen, die bei der stoffreichen Aufarbeitung geschichtlicher Quellen ständig durch Waldaus Hände gegangen sein müssen, um eine Nachlässigkeit, vielleicht bloß um ein Versehen bei der Einhaltung einer Leihfrist gehandelt haben? Oder war der Beschuldigte einer jener zwanghaften Bücherliebhaber, die sich ein seltenes Exemplar, wenn sie es schon nicht erwerben können, widerrechtlich aneignen? Wenn es sich um einen tatsächlichen Diebstahl handelte, dann muß ein Buchhändler oder der Besitzer einer privaten Bibliothek geschädigt worden sein. Es wäre zu erwarten, daß sich dann in den Verhörprotokollen des Schöffenamtes aus den Jahren 1798 oder 1799 etwas darüber fände; jede Beleidigung oder Ohrfeige, welche die Beteiligten nicht unter sich abgemacht haben, ist dort aktenkundig geworden, von Knutschereien höherer Töchter mit irgendwelchen Soldaten der damaligen Besatzungen ganz zu schweigen. Über Waldaus Diebstahl — nichts! Ist es aber eine Angelegenheit der Universität Altdorf gewesen, so steht man heute im Dunkeln. Laut persönlicher Auskunft von Herrn Prof. Dr. Wendehorst (am 22. Juli 1999) sind nicht alle Altdorfer Universitätsakten an die Universitätsbibliothek Erlangen gekommen; ein Teil muß als verschollen gelten. Was aber von den Akten vorhanden ist, enthält keine Fakultätsurteile aus der fraglichen Zeit. Nur kann man sich über die Strenge der Altdorfer Bibliotheksordnung anhand folgender Bekanntmachung ein Bild machen:


Vom 22.September 1777 liegt ein gedruckter Anschlag vor, in dem auf eingerissene Mißbräuche der "Trewischen Bibliothek" verwiesen und eine Bibliotheksordnung eingeschärft wird. Es heißt:


"Es sollen nemlich 1) die hiesigen Studiosi künftig sich nicht mehr unterstehen, die Bücher aus den Repositoriis eigenmächtig herauszulangen, oder auf den Bücherleitern nach Büchern hinaufzusteigen, sondern die zu Inspiciren oder Excerpiren benöthigten Bücher von dem Herrn Bibliothecario, nach den vorliegenden Catalogis, sich ausbitten; 2) diejenigen, so Bücher zum Gebrauch nach Hauß zu nehmen verlangen, solche anders nicht, als auf einen Cautions-Schein eines Herrn Professoris, bekommen, wie gleich Anfangs in den gedruckten Nachrichten bekannt gemacht worden; 3) der Gebrauch aber der erhaltenen Bücher länger nicht als auf vierzehen Tage verstattet werden, nach deren Verlauf solche wieder zurückgegeben, und im Fall eines benöthigten längern Gebrauchs die Prolongation des Cautions-Scheins beygebracht werden; 4) diejenigen, welche innerhalb solcher zum Gebrauch der Bücher bestimmten Zeit von hier etwan weggehen würden, die erhaltenen Bücher, auch ungemahnet, zurückgeben; 5) die bekommenen Bücher reinlich halten, auch aus ihren Händen nicht mehr an andere weiter geben, anbey aber für geschehene Beschmutzung und andere Schäden haften. Endlich 6) sollen auch diejenigen Studiosi, die bißhero Bücher nach Hauß bekommen, solche binnen acht Tagen in die Bibliothek zurückliefern.


Es versiehet sich demnach RECTOR und SENATUS ACADEMICUS, es werden sämtliche Studiosi den bißhero auf dieser vortreflichen Bibliothek eingerissenen Mißbrauch von selbst erkennen, und dieser Verordnung in allen Stücken gebührend sich fügen, damit man nicht andere mißbeliebige Anstalten, auch wohl Strafen, vorzukehren nothgedrungen seyn möge. Wornach sich zu achten."


Als der Blumenorden im Verlauf seiner Herbstfahrt 1999 von Herrn Hans Recknagel eine Führung im Universitätsmuseum Altdorf erhielt, wurden Erlasse dieser Art in großer Menge gezeigt, mit der Bemerkung, solche Dinge hätten immer wieder neu aufgelegt und eingeschärft werden müssen; die Durchsetzungsgewalt der Universitätsgremien sei gering gewesen. In der Tat ist auch obiger Auszug nur ein Exemplar mehrerer gleichlautender Blätter im Zeitraum bis 1809. Wenn das so war — warum wollte man ausgerechnet an dem tüchtigen Forscher Waldau ein Exempel statuieren?


Hier wird es nötig, den Zeithintergrund genauer zu betrachten.


1794 mußte das Patriziat, 22 Familien, sein Machtmonopol im "Grundvertrag" (zwischen Rat und Genanntenkollegium) abgeben und und die Kaufleute und Handwerker an den Entscheidungen beteiligen.


1796 besetzten Bayern und Preußen das gesamte Landgebiet Nürnbergs.


1797: Wegen der Verschuldung von 14 Millionen Gulden berufen die Mitglieder der städtischen Gremien eine kaiserliche Subdelegationskommission ein, die das Wirtschaften der Patrizier nachprüfen soll.


Am 23. Januar 1799 läßt Dr. Benedikt Wilhelm Zahn, Synd. und Ordens-Sekretär, ein Rundschreiben an die Ordensmitglieder ergehen, in dem vorgeschlagen wird, "[…] den fürtreffl. Kaiserl. Herrn Subdelegatum und Geheimen Hofrath Gemming zur nächstmaligen-künftigen [...] Ordens-Versammlung […] zu invitieren."


Daher wehte der Wind: Die im Blumenorden versammelten — nicht-patrizischen — Honoratioren vermeinten, der Stadt (und ihrer Literaturgesellschaft) einen guten Dienst zu erweisen, wenn sie einen der hochmögenden Kommissare etwas fester an sich banden.


Am 8. Mai 1799 sendet Zahn ein weiteres Rundschreiben umher mit der Frage, ob man unter Umgehung des üblichen Ballotage-Verfahrens den Kaiserlichen Subdelegaten durch Überreichung des Aufnahmediploms um Beitritt bitten solle. Faulwetter unterschreibt von 22 als erster: er ist dafür.


Friederich ist dafür, "Da der Beytritt des hochpreisl. Herren Subdelegati die erwünschteste und erfreulichste Ereigniß seyn muß […]" Diese politische Raffinesse ist das eigentliche Motiv Friederichs, gleichzeitig so vehement gegen Waldau vorzugehen; dessen angekratzter Ruf könnte den schönen Plan gefährden!


Der redliche Colmar zeigt sich, wie immer, bedenklicher: "[…] wie ich […] glaube, daß ein so delikater Gegenstand, bei Unbekantschaft mit der eigentlichen Veranlaßung, nicht aus dem Stegreif behandelt werden mögte, sondern konferenzialisch zu überlegen u. zu berathen seyn dürfte."


Frank: "Das Votum des Herrn Consulent Colmar ist auch das meinige. […]"


Schwarz: stimmt für den Antrag, hielte es aber für zweckmäßiger, "Hochdenselben mit einem Diplom zu überraschen, als Solcher ohnedies die Wünsche zum Eintritt in den Orden nicht ganz undeutlich zu vernehmen gegeben hat. […]"


Es hat geklappt: Gemming ist als Mitglied Nr. 245 in der Stammliste verzeichnet. Irgendwelche Beeinflussung des Überprüfungsverfahrens, in dem Gemming u.a. mit Faulwetter zusammenarbeiten mußte, wird sich nicht feststellen lassen. Aber im großen und ganzen konnten die politischen Köpfe im Blumenorden zufrieden sein. Von einer Rehabilitierung Waldaus war dennoch nicht die Rede. Er sah sich genötigt, am 23. August 1799 eine Kurzmitteilung (ein mit nur sechs Zeilen beschriebenes Quartblatt) an Panzer zu senden, auf dem es heißt: "P.[raemissis] P.[raemittendis, d.i. anstelle der gebührlichen Grußformeln] Was ich schon im Februar dieses Jahres gegen euer Hochehrwürden mündlich äusserte, das bestätige ich hierdurch schriftlich. Daß ich nämlich aus der löbl. Blumengesellschaft, die mir einige 20 Jahre lang manche Belehrung und manches Vergnügen gewährete, herauszutreten, durch verschiedene Ursachen veranlasset worden bin. Mich derselben ganz ergebenst empfehlend. Georg Ernst Waldau, Ant[istes]. Laur[entianus]."


Und wieso war dann alles mit einer Geldstrafe abgetan und man ging mit dem vom Blumenorden Verfemten anderswo um, als sei nichts gewesen?


Ein wenig Licht bringt ein Ratsverlaß vom Mittwoch, den 25. September 1799, in die Sache; wenigstens erhellt daraus, wieso sich über den Fall keine Akten aus dem Schöffenamt erhalten haben:


"Auf das von dem Inculpaten [Beschuldigten] Georg Ernst Waldau eingebrachte Gesuch, selbigem, jedoch auf seine Kosten, ulterior transmissio actorum in vim revisionis [letztliche Überführung der Akten in die Verfügungsgewalt der Revision] zu verstatten, wobei dem Dri Holzschuher, wenn er den gewöhnlichen Defensors Eid [Eid des Verteidigers] geleistet haben wird, und die Gutachten renoviert [überarbeitet] sein werden, und nur eine Abschrift von num. 26.6 beygelegt werden wird, die nachgesuchte Akten Restriktion in der Registratur, und zwar in Gegenwart des Registrators Heiling zu verwilligen, und zur Beybringung seiner angeblichen Beschwerungs- und Verteidigungs-Gründe ein Termin von 6. Wochen von dem Tag der Publication des Oberherrl. Verlaßes angeordnet, anzuberaumen.


                                                                      C. W. H. Stromer


                                                                      G. P. C. Volkamer"


Dr. Holzschuher muß ein geschickter, sogar ein wenig skrupelloser Verteidiger gewesen sein. Er erhielt die Akten, die somit aus dem normalen Gang des Archivierens ausschieden, und von Abschrift oder Revisionsverhandlung mit neuen Gutachten war offensichtlich später nicht mehr die Rede. Die Ratsmitglieder waren wohl stillschweigend der Ansicht, daß Waldaus Namen mit dieser Bagatelle fortan nicht mehr belastet werden solle; wegen der Besetzung durch die Franzosen und anderer großer Umwälzungen, von denen uns die Geschichtsbücher genügende Kunde geben, hatte man in Nürnberg andere Sorgen. Der Fall war zugedeckelt. Nicht so für den Blumenorden, der sich wohl gerne als Gesellschaft untadeliger Patrioten vorkam. Aber das spielte für Waldaus öffentliches Leben keine Rolle mehr.


Das Opfer: Carl Alexander Faulwetter



"Er hatte an dem unglückseligen Tage Seines Todes (es war der 15. May 1801) in Gesellschaft bey Seinen Freunden gespeist, gieng Nachmittags um halb drey Uhr nach Hause u. war ganz heiter. So daß Seine Ihn erwartende Frau Gemahlin zu Ihrer Tochter sagte: ,Heute kommt der Vater sehr vergnügt.’ Wie freuten sich beyde, die den geliebten Vater schon lange u. seit dem tod der Großmutter gewöhnlich traurig sahen. [...] Der gute Vater hatte kaum das Haus betretten, u. den Hafner Meister Rohmer, der Ihn erwartete, mit Sich auf Seine StudierStube genommen; so wurde er von demselben mit einem Messerstich so tödlich verwundet, daß er Seiner Ihm zu Hilfe eilenden Frau Gemahlin sterbend in die Arme sank."


Leser des ersten Bandes kennen Faulwetter als umsichtigen, Intrigen klar durchschauenden Juristen und gründlichen Gutachter des Satzungsentwurfs von 1788. Der Eintrag über ihn, den Nopitsch 1802 als Fortführer des Willschen Gelehrtenlexicons anfertigte, liest sich wie eine Kurzfassung der Lebensbeschreibung aus der Feder des Diacons Seyfried (Amaranth III.), aus der die obige Schilderung entnommen ist. Das ist nicht verwunderlich, denn Nopitsch, der zwar erst 1809 in den Blumenorden aufgenommen wurde, konnte sich auf Auskünfte mancher Mitglieder stützen, die Faulwetter persönlich gekannt hatten; vielleicht waren seine Beziehungen zum Orden bereits so gut, daß er die Lebensbeschreibung mitverwenden durfte:


"Faulwetter (Carl Alexander) ein Rechtsgelehrter, gebohren zu Nürnberg den 29 Jun. 1745. Sein Vater, Michael, war ein Posamentierer, und die Mutter hies Elisabeth Büttnerin. Weil ihm seine Eltern frühzeitig starben und ihn arm hinterließen, hat ihn ein Anverwandter, der ehemalige Forster Joh. Mich. Grimm zu Ungelstetten an Kindes statt angenommen und erzogen." — Seyfried überliefert die seltsame Tatsache, daß der verwaiste Junge wegen seines Ehrgeizes den Tod seiner Eltern sogar als günstige Fügung Gottes aufgefaßt habe. Sein Taufpate war interessanterweise ein Patrizier, der Stadtgerichtsassessor Carl Alexander Grundherr von Altenthann, und Onkel Grimm war in dessen Diensten, sodaß spätere Protektion möglich erscheinen konnte. — "Nachdem er bei dem sel. Gerichtsschreiber Leukam zu Wöhrd die Schreiberei erlernet, ist er durch Ermunterung, Unterstützung und Unterweisung des sel. Lic. und Synd. Hausfritz zum Studieren gekommen und hat 1765. die Universität Altdorf bezogen, wo er [...] endlich zweien jungen Herren von Behaim, die er nachher im J. 1770. auf ihren Reisen durch die Schweiz, einen Theil des Walliserlandes, Frankreich, Schwaben, Baiern und Oesterreich begleitete, zugegeben wurde."


In Altdorf gab es nicht nur für Söhne patrizischer Stifterfamilien Studierappartements im Hauptgebäude, sondern auch für unbemittelte Studenten im Dachgeschoß des östlichen Seitenflügels das sogenannte "Alumnaeum", in das der junge Faulwetter von dem Curator der Universität aufgenommen wurde. Das war, wenn jemand tüchtig genug erschien und aufgrund irgendwelcher Verbindungen zu maßgebenden Leuten empfohlen worden war, ein üblicher Vorgang. Nur war Faulwetters Bildungsgang bis dahin nach herkömmlichen Maßstäben sehr lückenhaft gewesen. Seyfried schreibt: "Allein er hatte nie eine lateinische Schule besucht, kannte die griechische Sprache gar nicht [...] sondern übte sich, so oft es seine Geschäfte erlaubten, in der lateinischen Sprache, mit der seinem Charakter eigenthümlichen Überzeugung, alles möglich machen zu können." Was ihm an humanistischer Bildung vorerst abging, machte er nach heutigen Maßstäben wieder wett durch diese Haltung eines Selfmademan und durch naturwissenschaftliche Studien: Er hatte noch in Nürnberg die Vorlesungen des Professors Löhe über Experimentalphysik gehört. In einer Zeit, als es noch keine Realschulen in Nürnberg gab, einzelne Veranstaltungen aber in diese Richtung drängten, gehörte Faulwetter mit seinen Interessen zu einem zukunftsweisenden Menschentyp. Im Gelehrtenlexicon heißt es weiter:


"1769. bewarb er sich um die Licentiatenwürde [...] und wurde sogleich ausserordentlicher Advocat, 1770 aber in seiner Abwesenheit ordentlicher, und 1772. Doctor und der Republik Syndicus."

Genauer vermeldet Seyfried, daß er seine Stelle als ordentlicher Advocat zu Ostern 1771 antrat. Er habe viel und einträgliche Arbeit zu tun erhalten, sein Ansehen sei gestiegen, und er erwählte die Schwester eines Freundes, des Rats- und Kreis-Consulenten Kaul, zu seiner Ehefrau. Und nun folgt ein befremdlicher Satz: "Unbekant mit den Gefahren, die in dieser von wahrer Liebe u. Hochachtung geschlossenen Verbindung Seiner Ruhe drohten, u. ihm das Leben kosteten, gieng er unbesorgt der ungewißen Zukunft entgegen."


Damit scheint angedeutet, daß der Vergleich mit der Stellung seines Schwagers, die Versippung mit einflußreichen Bürgern, seinem Ehrgeiz eine falsche Richtung vorgaben. Verdienter Beifall und Belohnungen "machten ihn so sicher, daß [er] den warnenden Rath Seiner Freunde nicht hörte vor der angenehmen Stimme der Hoffnung [...] Diese Sicherheit führte ihn gar bald in die Gefahren des Mangels [...] den er nie vermeiden noch ertragen lernte, u. der, wenn er auch Seinen Charakter nicht verderben, doch zuletzt das so sicher gehoffte Glück Seines Lebens vernichten mußte." — Ein Hang zum Leichtsinn in Geldangelegenheiten, zu einer Lebensführung wie die Romanfigur Mr. Micawber bei Charles Dickens, wurde sozialen Aufsteigern in einer Zeit ohne soziales Sicherungsnetz oft gefährlich. Man muß gar nicht so weit Umschau halten: Mozart bildete zur gleichen Zeit dieselbe Schwäche aus. Man hätte mehr als einen guten Charakter haben müssen, um nicht dabeizusein und mitzumachen, wenn man als erfolgreicher, aber noch nicht abgesicherter junger Mann in Kreise geriet, die grundsätzlich aufwendig gekleidet waren und sich hinter den Kulissen der Öffentlichkeit, in Gast- oder anderen Vergnügungsstätten, zu entscheidenden Gesprächen trafen; man konnte sich ja einbilden, durch sparsame Lebensführung Gelegenheiten zu versäumen, seinen Fleiß und sein Können ins rechte Licht zu rücken und vielleicht dadurch wieder zu mehr Einkommen zu gelangen. Nur, daß die Schere zwischen Aufwand und Effekt sich aufzuspreizen pflegte, wenn nicht seltene Glücksfälle eintraten. Der lohnabhängige Bürgerliche als politisches Subjekt, als unabhängiger, nicht von Mächtigeren ausgehaltener Teilhaber an öffentlichen Entscheidungen, war damals noch eine Utopie, deren Verfolgung viele in den Ruin führte. — "Er wagte es auch im Vertrauen auf die Gunst u. Verheißungen einiger Gönner, die Ihm der Tod bald raubte, eine RathsConsulenten Stelle anzunehmen. Gegen den Wunsch Seiner vorsichtigeren Gemahlin, gegen den Rath Ihres sterbenden Herrn Vaters that Er diesen gefährlichsten Schritt Seines Lebens. [...] Er selbst wurde von bangen Ahndungen lange zurückgehalten, zudem er wol einsahe, daß er mit Seinen Advocaten Geschäften, die ihm zur anständigen Erhaltung u. Versorgung Seiner zahlreichen Familie hinlängliche Einnahme verlieren müßte, u. das gewöhnliche Consulenten Gehalt im glücklichsten Falle keine Entschädigung für Ihn seyn könne." Friederich, wie berichtet, war umsichtig genug, einen Titel ohne Mittel loszuwerden. Faulwetter aber, weil ihn der Scholarch Behaim dazu drängte, konnte nicht nein sagen, "zumal Er Sich selbst überzeugte, daß Er dies Opfer Seinem Vaterlande schuldig sey."


Natürlich hat man ihn dafür "mit oberherrlichem Wolgefallen belohnt", das kostete den verarmten Stadtstaat nichts, und einem so tüchtigen und willigen Lastträger wurden immer höhere und damit zeitraubendere Ämter aufgebürdet. 1783 wurde er "Stadt- u. EhrGerichts Consulent", 1794 "vorderer RathsConsulent". Als solcher wurde er zu den geheimsten Beratschlagungen hinzugezogen, zum Beispiel in der höchst delikaten Angelegenheit jener Beschwerde gegen das Finanzgebaren der patrizischen Oligarchie. Dies trug der Stadt eine kaiserliche Untersuchungskommission ein, die "Aerial u. Kaiserlichen Comißions Angelegenheiten", anderswo auch genannt die "kaiserliche Subdelegations-Kommission". Die Stadtregierenden gingen aus dieser Untersuchung gerechtfertigt hervor: wieder gab es wohlfeiles Lob. Da Faulwetter als Theaterliebhaber bekannt war, wurde er auch zur Aufsicht und Zensur der Nürnberger Bühne bestellt. "Überall erwarb Er Sich Hochachtung u. Ehre. [...] Als Schriftsteller trat Er oft mit Beyfall auf. Seine Gedichte im Wochenblatt ohne Titel, Seine Übersetzungen aus dem Französischen" qualifizierten ihn zur Aufnahme in den Blumenorden (unter dem Namen Themistor mit der Blume Momordica), als dieser gerade, 1776, unter Präses Dietlmair einige Auffrischung erfuhr. 1788 war es gar keine Frage, daß er "erster Consulent" des Ordens wurde.


Von nun an erscheint sein Weg als ein unaufhaltsamer, immer stärker beschleunigter Verfall hinter ehrsamer Außenansicht. Warum nur ließen ihn seine wohlmeinenden Freunde, Kollegen, Patrone nicht wenigstens in Ruhe? Noch als Winkeladvokat wäre es ihm besser gegangen. Doch es hätte sich wohl keiner gefunden, der seine unentbehrliche Tätigkeit übernehmen wollte. "Seine gewöhnliche AmtsEinnahme stund lange in keinem Verhältnis mehr mit den weit größeren Ausgaben, die Sein Stand u. Seine Familie nothwendig machten." Von seinen acht Kindern starben sieben, und er konnte nicht einmal die verbleibende Tochter standesgemäß erziehen noch "versorgen", d.h. wohl, an den Mann bringen. Dazu hatte er 23 Jahre lang für seine Schwiegermutter zu sorgen, die während ihrer letzten acht Lebensjahre blind, also ein Pflegefall war. Seine eigene Gesundheit ließ unter der Belastung nach. "Daraus ist Sein Hang zur Zerstreuung begreiflich u. die Leichtigkeit, womit Er immer nur das Allernothwendigste so gut es seyn konnte, befriedigte: aber auch die damit verbundene Unvorsichtigkeit, Sich in dringenden Fällen für einen Preiß aufzuopfern, den weder Sein Verstand billigen noch Sein Herz lieben konnte."


"In dieser traurigen Lage, in der Er, bald der Schande Drohungen fürchtend, bald den Mangel der geliebten Seinigen beklagend, der Leidenschaft mächtige Stimme hörte u. der Menschheit Grenzen immer reger fühlte — in dieser unerbittlich scheinenden Nothwendigkeit, lieber der schmeichelnden KlugheitsRegel als dem strengen Pflichtgebot zu folgen, u. Sein GerechtigkeitsGefühl dem MitleidsGefühle aufzuopfern, konnte Ihn nur der Glaube an die Tugend stärken. Sie, die Ihn vormals zur Ordnung zum Verdienst zum wahren Rang führte — sie allein konnte auf dieser letzten gefahrvollen Laufbahn Seine Schritte sicher lenken."


Dieser Absatz Seyfrieds ist übersetzungsbedürftig, nicht nur, weil hier die Schönschreiberei allmählich verdächtig wird und erhebliche Fehler des Verstorbenen zu bemänteln scheint, sondern auch wegen der seither veränderten Bedeutung gewisser Leitbegriffe. "Schande" bietet noch kein Verständnisproblem; es muß nur hinter dem übrigen Wortschwall noch einmal ins Bewußtsein geholt werden als die Bezeichnung für das, was Faulwetter eigentlich verdient hatte. Das ist stark! Bisher war bloß von mehr und mehr Ehre die Rede gewesen. Diese äußerliche Ehre war allerdings noch weiter mithilfe von "Klugheit" aufrechtzuerhalten, während in Wirklichkeit schon "Leidenschaft" im Sinne von seelisch-moralischer Zerrissenheit in ihm hauste. "Der Menschheit Grenzen" sind, absichtlich oder aus Seyfrieds Mangel an Überblick undeutlich gefaßt, nichts weiter als die verfahrene Lage, in der sich das gesamte Nürnberger Staatswesen — mit unerträglichen, aber unaufhebbaren Auswirkungen auf die Einwohner — befand. Was wäre in besagter Lage das "Pflichtgebot" gewesen? Er hätte den Bettel hinschmeißen müssen! Es ist sehr fragenswürdig, ob nicht Diacon Seyfried nicht noch radikalere Konsequenzen für angebracht gehalten hätte, sie aber nur verschwommen anzudeuten wagte, etwa: seine Arbeitskraft zur Veränderung der politischen Machtverhältnisse einzusetzen. Immerhin hatte Nürnberg seit 1794 eine neue Verfassung, die erstmals auch Angehörigen nicht vormals ratsfähiger Familien ein gewisses Mitspracherecht einräumte. Sie ging nur nicht weit genug. Ein in dieser Hinsicht verdächtiger Gegensatz zwischen "Gerechtigkeitsgefühl" und "Mitleidsgefühl" scheint darauf hinzudeuten, daß Faulwetter besser die Interessen seiner selbst und seiner Klienten verfolgen hätte sollen, als in schwächlicher Nachgiebigkeit sein Mitleid den falschen, nämlich der wankenden Oligarchie und damit vordergründig auch seiner Familie zuzuwenden und eine Stütze der falschen Gesellschaftsordnung zu werden. Die "Tugend" nämlich ist für den Zeitgenossen von 1793 zuoberst ein gesellschaftlicher Wert, der dem Wohl des gesamten Volkes verpflichtet ist und an Fürstenhöfen (und im Nürnberger Rathaus von damals) nicht gedeiht. Diese Theorie kannte Faulwetter. Ob sie aber seine "Schritte sicher leiten" konnte, darf bezweifelt werden, Seyfrieds provozierender Schönrednerei zum Trotz.


Eine grimmige Karikatur des Schillerschen Wunschbildes vom ganzheitlichen Menschen, der nicht in eine Werktags- und eine Feiertagsexistenz auseinanderfällt, sondern geschäftliche Tätigkeit und ästhetische Bildung irgendwie vereint: das ist Faulwetters unermüdliches Abschweifen von allem, was ihn gerettet hätte. "So schrieb Er zu einer Zeit, wo Ihn mehr u. wichtige Amtsgeschäfte drängten, fünf Bücher über die Electrizität, arbeitete für Theater — gab Sich Mühe, Kranke mit der Electrizität gesund zu machen." Das Gelehrtenlexicon nennt acht Veröffentlichungen, darunter:


"Kurze Grundsätze der Electricitätslehre, 5 Theile mit vielen Kupfern. Nürnb. 1790-94. 8. [...]" — was mag ihn die Ausstattung mit Kupferstichen gekostet haben!


"Opfer der Ehrfurcht und der Pflicht; dem Andenken des verewigten Herrn Senators etc. und Deputirten zur Aufsicht und Censur des hiesigen (Nürnb.) Theaters, Hanns Carl Welser von und zu Neuhof etc. gewidmet. (Wurde auf dem Nürnb. Theater aufgeführt den 30. May 1800.)"


Ein frühes Beispiel für Faulwetters dramatischen Versuche ist eine Übersetzung: "In dem Wochenblat ohne Titel (Nürnb. 1770. 71.) findet sich von ihm B.1.n. 12: Der gefangene Amor, aus dem Metastasio [...]"


Seyfried fährt von der oben zitierten Stelle aus fort: "Und wie viel Zeit kosteten Ihm besonders in den letzten kriegerischen Jahren Seine Dienstfertigkeit, Sein Patriotismus, womit Er an allen Begebenheiten thätigen Antheil nahm." Das kann in bezug auf die vorherige halbverhüllte Schelte doch nur heißen, daß er schon gewußt hätte oder wenigstens neugierig genug darauf war zu erfahren, was ein wahrer Patriot zu tun hätte, sich aber verzettelte und im Amt seinen Einsichten nicht Raum gab, wenn er auch als Privatmann hilfsbereit war. Es konnte allmählich nicht mehr übersehen werden, daß er Amtsgeschäfte oft verschleppte. Am wenigsten konnten es die Betroffenen übersehen; Faulwetters oberherrliche Gönner schon mehr — auf eine gewisse Zeit.


"Wenn er aber das, was in seinem ungerechten ZeitAlter, in einem Stande, in dem die Gunst des Richters u. das Ansehen ehrwürdig gewordener Formalitäten nicht selten über die Rechte der Menschen entscheiden, gewöhnlich ganz ungestraft geschieht: wenn Er das, was viele andere aus weit verwerflicheren Absichten zu thun pflegen, aus Noth gethan hat, wenn Er selbst immer genügsam lebte, u. Seine bange Klage uns den Kampf vermuthen läßt, den Seine Gerechtigkeit mit der Pflicht der Selbsterhaltung kämpfte — wenn die Macht der Motive, die Ihn von der wahren Ehre zu der eingebildeten hingetrieben hatten, sehr groß war: so können wir zwar das, was Er Selbst durch Sein Benehmen mißbilligte, nicht beschönigen [...] wir müssen es laut beklagen, daß Er keinen Weg mehr aus diesem unglückseligen Labyrinth finden, Seine angefangene Arbeiten nicht vollenden u. für Seine geliebteste Gattin u. Tochter gar nichts mehr thun konnte."


Hier läßt sich Seyfried einmal unverstellt heraus, es sei denn, der Leser muß aus Mangel an Übung den Periodenbau seiner Sätze schon als Verstellung betrachten. Sie sagen aber klipp und klar: Faulwetter war das Produkt fauliger Verhältnisse, meinte es gut, konnte aber nicht als Individuum aus den Zwängen, die ganz Nürnberg lähmten, ausbrechen. Da hätte er schon mithilfe anderer Patrioten ein anderes Staatswesen errichten müssen.


Ironischerweise bekam er noch kurz vor seinem Ende eine namhafte Gehaltserhöhung. Deshalb wohl die ungewöhnlich heitere Stimmung, mit der er aus dem Gasthaus heimkehrte, zu Frau und Tochter, die an solcher halböffentlicher und geselliger Existenz selbstverständlich keinen Anteil hatten und bänglich sowie zu Tode gelangweilt zu Hause herumzusitzen hatten, unfähig und als Frauen von Stand auch nicht in der Lage, zu ihrem Auskommen etwas beizutragen. Nopitsch erwähnt ganz knapp:


"[...] und starb den 15. May 1801. Nachmittags, zwischen 2. und 3. Uhr in seinem 56sten Lebensjahr, nach einem meuchelmörderischen Stich, den ihm der Nürnb. Hafnermeister Joh. Ludw. Rohmer, wegen verzögerter Acten-Herausgabe in seinem eigenen Hause und Studierzimmer beigebracht hatte, auf der Stelle."


Und nun das ganz und gar Seltsame (wenn es nicht schon seltsam genug erscheint, daß hier immer bloß von den Fehlern des Opfers, seinen Motiven, seiner wirtschaftlichen Lage, und gar nicht von den Motiven des Täters, seiner wirtschaftlichen Lage, seiner Bestrafung die Rede ist): Weder in den Einzelakten noch in den Verhörprotokollen des Schöffenamtes aus den Jahren 1801 und 1802 findet sich Erwähnung dieses Falles. Der Zeitraum wird von Faszikel B 15 nicht ganz abgedeckt; der anschließende Faszikel B 16 fehlt!


Wären auch hier wieder die Akten absichtlich versteckt oder vernichtet worden, so muß das von höherer Stelle als von Rohmers Verteidiger Leuchs betrieben worden sein. Eine Neigung zum Vertuschen gab es. Sie äußerte sich früh:


"Montag, den 18. Maii 1801.


Dem Gesuch der verwittibten [...] Frau Sibilla Dorothea Faulwetter [...] die feierl. Beerdigung ihres seel. Ehegattens mittels des vierspännigen Peuntwagens betr., ist [...] zu willfahren [...] jedoch unter der Voraussetzung, daß die Beerdigung bey früher Tageszeit geschehe, und darbey von einer ohnehin Oberherrl. verbothenen Standrede [...] abstrahieret [abgesehen] werde, als selbiges zumal bey der Lage der Umstände von sehr bedenklichen Folgen sich darstellet.


                                                                      Herren Aelteren Herrlichk.


                                                                      Polizey.departement


                                                                      BauAmt


                                                                      KirchenAmt"


Man hätte erwarten sollen, daß der Mörder ebenso milde abgestraft werde, wie das Verhaltens des Opfers als skandalös empfunden worden war. Schließlich mußte Meister Rohmer einen erheblichen Schaden erlitten haben, bevor er sich so vergessen konnte, daß er nicht nur den Schädiger und dessen Familie, sondern sein eigenes Wohl und das seiner Angehörigen derart verspielte. An einen Ruin durch eine nicht rechtzeitig geklärte Zivilsache wäre zu denken. Nur Geschriebenes darüber findet sich nicht. Was die Ratsverlässe dazu bloß noch enthalten — obwohl sie sonst in Eigentums- und Schuldfälle durchaus eingreifen — ist folgende oberherrliche Anordnung:


"Montag, 8. März, 1802.


Der Hafnermeister, Joh. Ludw. Romer [sic], ist zur wohlverdienten Strafe seiner an dem Herren Konsulenten, Faulwetter, verübten Tödtung [Totschlag, nicht Mord] u. zur Aufstellung eines warnenden Beyspieles für Andere vom Leben zum Tode hinzurichten, somit aber das L. Schöpfenamt zu beauftragen, die dießfalls erforderlichen vorläufigen Verfügungen zu veranlassen.


                                                                                              Schöpfen."


Die auf Mikrofilm im Staatsarchiv Nürnberg zugänglichen Ratsverlässe unter der Nummer S 1119 decken jedoch längst nicht alle behördlich erfaßten Umstände ab. Auch schien der im Stadtarchiv auf den Faszikel B 15 folgende B 16 abhandengekommen; ein bedenklicher Umstand. Unklar blieb dadurch, wie es sich mit der Aburteilung und Hinrichtung des Hafnermeisters Rohmer, des Mörders an dem Konsulenten Faulwetter, eigentlich abgespielt hat. Um so überraschter und dankbarer kann man sein, daß der langjährige Einsatzleiter bei der Polizeidirektion Nürnberg, Friedrich von Hagen, bei seiner Sammlung von Akten zur Hinrichtungspraxis des reichsstädtischen Nürnberg solche Materialien erschlossen hat, die auch in diesen Fall mehr Licht bringen. Zur Veröffentlichung aufbereitet wurden diese Materialien von Manfred. H. Grieb, dem langjährigen Vizepräses des Blumenordens, herausgegeben dann von dem Leiter des Stadtarchivs, Michael Diefenbacher, und sie liegen als 35. Band der Reihe „Quellen und Forschungen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg” unter dem Titel „Die Henker von Nürnberg und ihre Opfer” seit 2010 vor. Hier werden von den Seiten 332 bis 336 des Buches die einschlägigen Ratsverlässe aus dem Stadtarchiv Nürnberg, Rep. 60a, mit Angabe der Nummern 4365 bis 4377 zitiert.


Samstag, 16. 5. 1801

Das in dem Löbl. Burgermeister-Amte unterm gestrigen Acto abgehaltenen Vernehmlassungs Protokoll des Hafnermeisters, Joh. Ludw. Rohmer, über den von ihm an dem H. Kons. Faulwetter verübten Mord, ist nebst den dazu gehörigen Aktenstücken dem Löbl. Schöpfenamte zum Vollzug der Summarischen Inquisition zu kommuniziren, u. sind die geschlossenen Akten zu seiner Zeit vor 2. H[errn] Konsiliarien zur Berathung zu befördern, nach eingeholter Instruktion aber bey E. Hochlöbl. Rath zur Fassung eines Endurthels vorzulegen. Anbey ist die Bestimmung das der verwittibten Frau Konsulentin zur Bestreittung der Beerdigungs Kosten des Entleibten auf ihr Gesuch zu verwilligenden Geldquanti lediglich dem Ermessen der Herren Aeltern Herr[lichkei]ten zu überlassen. Herren Aeltern Hherr[lichkei]ten; Schöpfen; Rentkammer; Burgermeister Jun.


Die alte Rechtsmaschine erfaßt den Fall in einem ersten Protokoll und setzt sich in Gang, indem das Schöffenamt davon informiert wird; außerdem werden die dem Rat als juristische Sachverständige dienenden Rechtskonsulenten, wie auch Faulwetter einer war, zur Beratung aufgefordert. Die endgültige Rechtsprechung liegt beim sogenannten Kleineren Rat, in dem nur Angehörige des Patriziats vertreten sind und nach einem streng eingehaltenen rotierenden System die Ämter untereinander aufteilen. Es gibt darin ältere und jüngere Senatoren, wie es auch einen älteren und jüngeren Bürgermeister gibt. Die Rentkammer. d.h. die städtische Finanzbehörde, wird von den sieben Älteren Herren, der eigentlichen Stadtregierung, angewiesen werden, der Witwe des Ermordeten, welche durch dessen Ehrenamt und sonstige Geschäftsuntüchtigkeit verarmt dasteht, die Beerdigungskosten zu erstatten; dabei wird noch zu entscheiden sein, welcher Aufwand bei der Beerdigung den Umständen nach zulässig ist. Noch läuft alles normal ab.


Am Dienstag, den 19. 5. 1801, wird „ertheilt” (verfügt), daß die Ehefrau des Mörders die Kosten der Leichenschau aus dem Vermögen ihres Mannes bezahlen soll.  Dies erscheint als erster vorgreiflicher Akt der Gerechtigkeit, doch am darauffolgenden Donnerstag ist von der Sicherheit in der so klar erschienenen Schuldfrage nichts mehr zu spüren. Aufruhr liegt in der Luft:


Bey der dermaligen Stimmung der gemeinen Volks Classe in Bezug des von dem Hafner [über der Zeile eingefügt: Rommer] freventlich verübten Mords ist von Seite des Löbl. Policey Departements das Erforderliche wegen Einziehung gemeiner Kenntniße und Nachrichten zu verfügen, sowie auch der Bedacht zu nehmen, daß zur Begegnung der etwa zu besorgenden bedenklichen Folgen sachgemäße Maasregeln eingeschlagen werden. Policey Departement; Schöpfen.


Der Verhaftete wird nun behutsamer behandelt. Bei den einfachen Leuten hat sich herumgesprochen, daß Rohmer seine Tat aus Verzweiflung beging, da Faulwetter die Akten in einem für den Hafnermeister sehr wichtigen Prozeß lange nicht bearbeitet, also den Prozeß verschleppt hatte. Die empörte Witwe regt sich über die Milde der Behörden auf, wird aber beschieden:


Freitag, 12.6.1801

Der Frau Cons. Faulwetter ist auf ihre vermeintliche Beschwerde über das Schöpfen Amtliche Benehmen gegen den Romer, zu erkennen zu geben, wie nach eingezogener Erkundigung sich ergeben, daß das belobte Amt den Romer keineswegs begünstiget, und der Frau Consulentin durch die Gewährung derjenigen seiner Bitten, welche ohne Verlezung der Menschenrechte und der positiven Geseze nicht haben unerfüllt bleiben können, keine Veranlassung zu irgend einer legalen Beschwerde gegeben habe. Schöpfen; Burgermeister Jun.


Wie schon in Hartmut Frommers einleitendem Aufsatz zum hier zitierten Buch erwähnt, erscheint hier zum ersten Mal das Wort „Menschenrechte” im Zusammenhang nürnbergischer Strafrechtsprozesse.


Wahrscheinlich hatte die Witwe zum Ausgleich der als zu milde empfundenen Behandlung des Delinquenten für sich eine vergleichbare Gnade gefordert, nämlich eine Witwenrente. Das ging wohl deswegen nicht an, weil das Amt des Ratskonsulenten keine, wie wir heute sagen würden, Vollzeitstelle war. Auch keiner der Stadträte, der Senatoren, erhielt ein eigentliches Gehalt. Die verarmte Stadt hätte sich keine Beamten im heutigen Sinne leisten können und konnte auch keine Präzedenzfälle dieser Art schaffen:


Freitag, 12.6.1801

Der Frau Cons. Sybilla Dorothea Faulwetterin ist ihr Gesuch um VerwiIligung eines Wittwen Gehalts bewandten Umständen nach zu benehmen, und ihr dießfalls das Erforderliche vorstellig zu machen, anbey aber selbiger die Zusicherung zu ertheilen, daß Bedacht genommen werden würde, ihr mit einer Unterstüzung an Stiftungen an Hand zu gehen; als weswegen auch von den einschlagenden Löbl. Behörden, daß hierinn der Oberherr. Intention baldmöglichst entsprochen werde, Vorsorge zu tragen seyn wird. Stadt Allmoß Amt; Burgermeister Jun.; Sämtl. einschlagende Löbl. Behörden.


Am Ende der Ratsverlässe werden immer die Stellen genannt, denen diese Vermerke zugehen sollen.


Am 27. 7. 1801 wird dem Gesuch der Frau Rohmer stattgegeben, als Verteidiger für ihren Mann den Dr. Leuchs zu bestellen, wie Faulwetter ein Mitglied des Blumenordens. Und nun zieht sich die Sache hin. Man holt ein Gutachten der Juristischen Fakultät der Universität Gießen ein. Die Angelegenheit wird dadurch nicht gerade einfacher, daß der Unmut in der Bevölkerung sich gegen den Ermordeten richtet. Vorstellbar ist der Vorwurf, die Regierenden könnten jemanden straflos ruinieren und seien überhaupt unfähig, dem Niedergang der städtischen Wirtschaftskraft entgegenzuwirken. Unterdessen kommt der Oktober heran, und im Lochgefängnis wandeln sich die Verhältnisse vom Ungemütlichen zum Unerträglichen.


Freitag, 9.10.1801

Dem p[unc]to homicidii in gefänglicher Detention befindl. Hafnermeister Romer ist gebettenermassen zu verstatten, sich bey der bevorstehenden kalten u. feuchten Witterung ein Bett in den Lochverhafte zu seinem Gebrauch bringen zu lassen. Schöpfen.


So geht der Winter hin.


Montag, 8.2.1802

Das in der Hafnermeister Joh. Ludw. Romerischen Inquisitions-Sache von der L. JuristenFakultät zu Giesen geschöpfte Urthel ist von Seite E. Hochlöbl. Raths bestättiget, u. das L. Schöpfenamt zu beauftragen, sich rüksichtlich der in dieser Inquisitions-Sache ferner zu beobachtenden Verfahrungsart ganz in Konformität des hierüber von den Herren Konsiliarien ausgestellten Bedenkens zu benehmen. Schöpfen.


Offenbar hatten die Gießener Juristen auf Todesstrafe erkannt; Leuchs aber gibt eine Gegenmeinung zu bedenken:


Donnerstag, 25.2.1802

Der von dem Dr. Leuchs als Defensor des Inquisitens, Romer, übergebene Vortrag u. Bitte um Milderung der gedachtem Inquisiten andictirten Todesstrafe ist morgen beym Rath zum Rechten vorzulegen, u. sich hierüber zu einem gemeinsamen Schlusse zu vereinigen. Burgermeister Sen. u. Jun.; Schöpfen.


Freitag, 26.2.1802

Dem Dr Leuchs ist auf seinen in der Romerischen Inquisitions Sache übergebenen Vortrag u. die darinnen gestellte alternative Bitte, die dem Inquisiten, Romer, zuerkannte Todtesstrafe in eine gelinde Gefängniß-Strafe auf unbestimmte Zeit zu verwandeln, oder aber ihm die fernere Defension des Inquisitens bereits dekretirtermassen zu gestatten, zu eröfnen, daß E. Hochlöbl. Rath ihm, Dr. Leuchs, lediglich überlasse, ob er mit einer weitern Defensions Schrift einkommen wolle, in welchem Falle ihm sodann von L. Schöpfenamts wegen zu deren Beybringung ein 14.tägiger Termin anzuberaumen, übrigens aber der von den Herren Konsiliarien gutachtlich vorgezeichnete Weg zu verfolgen seyn wird. Schöpfen.


Statt daß infolge der langen Untersuchungshaft der Fall Rohmer-Faulwetter aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwunden wäre, machen sich jetzt schon des Schreibens kundige Bürger mit einer anonymen Denkschrift zu Fürsprechern. Dem Rat kann das nicht angenehm sein. Es wird versucht, herauszufinden, wer die Schrift abgefaßt hat:


Dienstag, 2.3.1802

Ehebevor auf das von verschiedenen hiesigen Bürgern um Begnadigung des Inquisitens Romer, überreichte Gesuch eine Oberherrliche Resolution gefaßt wird, ist vordersamst die Erklärung des Dr. Leuchs wegen fernerer Defension des gedachten Inquisitens abzuwarten, von Seite des L. Schöpfenamts aber ein nochmaliger Versuch zur Eruirung des Verfassers dieses Memorials zu machen. Burgermeister Jun.; Schöpfen.


Und vom selben Datum:


Die von dem Dr. Leuchs in der Romerischen Inquisitions-Sache unterm heutigem Dato abgegebene Erklärung, daß er die Bestimmung des Schicksals des Inquisitens lediglich der Gnade E. Hochlöbl. Raths übergeben, u. von der ihm verwilligten weitern Defension u. Aktenversendung keinen Gebrauch machen wolle, ist künftigen Montag bey versammelten Rath zum Rechten vorzulegen, u. das endliche Urthel in dieser Inquisitions-Sache zu fällen. Anbey erhält das L. Schöpfen-Amt den Auftrag, diejenigen Bürger, welche ein Begnadigungs Gesuch für den Romer übergeben haben, nunmehr durch die eingreiffendsten Vorstellungen zur Angabe des Schriftverfassers zu veranlassen zu suchen. Burgermeister Sen. u. Jun.; Schöpfen.


Leuchs tut, als könne er kein Wässerlein trüben, dabei kommt zwei Monate später heraus, daß er publizistische Wege zugunsten seines Mandanten eingeschlagen hat. Möglicherweise kommt er sogar als Verfasser der genannten Bittschrift in Frage:


Donnerstag, 29.4.1802

Der Abdruck des in der Romerischen Inquisitions Sache von der Juristen Fakultät zu Gießen geschöpften Urthels ist ohne weiteres zu konfisziren, u. dem Dr. Leuchs das ernstliche Oberherrliche Mißfallen wegen eigenmächtiger öffentlicher Bekanntmachung dieses keineswegs zum Druck bestimmt gewesenen Responsi, mit der Weisung, zu erkennen zu geben, seine von ihm in vorliegender Sache verfaßte Defensions Schrift bey Vermeidung schärfern Einsehens nicht etwan auch durch den Druck zur Publizität zu bringen. Vormund-Amt; Schöpfen.


Dazu würde, nebenbei bemerkt, nicht übel passen, daß er auch in der Sache der anonymen Schrift, die den Buchhändler Palm das Leben gekostet hat, als Verfasser in Frage käme.


Dem Eppelein von Gailingen legt die Sage die höhnischen Worte in den Mund: „Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn zuvor!” Im Falle Rohmer könnte es heißen: “Die Nürnberger hängen keinen, sie erhielten zuvor Zutritt zu ihrem Richtplatz!” Wie Frommer von einer anderen, noch späteren Exekution berichtet: „Hauptproblem der letzten Hinrichtung war, dass der Rabenstein nach der preußischen Landnahme von den Franzosen besetzt worden war […]”  Im hier dargestellten Falle kommt es zu einem beinahe freundschaftlichen Briefverkehr und Absprachen zwischen der in die Enge getriebenen, ihres Territoriums zum größten Teil beraubten Stadt und der Besatzungsmacht:


Montag, 15.3.1802

Der Herr Scholarch, C. C. S. Harsdorf, erhält hiemit den Auftrag, mit dem k. Preußischen Herrn Direktorial Gesanden u. Kammer-Vicepräsidenten, Hänlein, unter Beziehung auf die von lezterm wegen Hinrichtung der beiden Malefikanten, Reindel u. Romer, gegen belobten Herrn Scholarch gemachte Aeusserung, deßhalb Rücksprache zu pflegen, u. darauf anzutragen, daß durch seine gefällige Vermittlung die Einleitung gemacht werde, daß der Hinrichtung gedachter Inquisiten, falls sie noch erfolgen sollte, u. den deßhalb zu machenden gewöhnlichen Vorkehrungen, so wie der Besezung des Hochgerichts durch hiesiges Kreis-Militär weder von jenseitigen Civil- noch Militär-Stellen Hindernisse in den Weg gelegt werden, sondern diese freundschaftliche für beide Theile unverfängliche Rücksprache mit ihm für begnügig angenommen werde, wo sich dann aus seiner Gegenäusserung das Weitere entnehmen lassen wird. Kreis-Deputation; Schöpfen.

 

Dies geht nun einen Monat lang hin und her, und zuletzt mögen es Bedenken wegen der Durchführbarkeit gewesen sein, die auf einmal einen Verzicht auf die Todesstrafe geraten erscheinen ließen:


Samstag, 10. 4. 1802

In der Romerischen Inquisitions Sache ist ertheilt, die Herren Schöpfen zu beauftragen, sich unverzüglich in das Lochgefangniß zu verfügen, dem Inquisiten, Joh. Ludw. Romer, seine Begnadigung anzukündigen, u. ihm nachstehenden Oberherrlichen Verlaß zu publiziren: Der Inquisit, Joh. Ludw. Romer, soll, ob er gleich wegen des an dem vordern Herrn RathsKonsulenten, Carl Alexander Faulwetter, verübten Todtschlags mit dem Schwerd vom Leben zum Tod hingerichtet zu werden, den Rechten nach allerdings verdient hat, aus bloßer Oberherrlicher Gnade u. Milde mit der Todesstrafe verschonet, u. dagegen zu einem lebenslänglichen Zuchthaus-Verhaft in der Maase [so!] verurtheilet seyn, daß er zu keiner Arbeit angehalten werden, die zu seiner Unterhaltung erforderlichen Kosten aber aus eigenen Mitteln bestreiten soll. Uibrigens hat Inquisit die bisher verursachten sämmtlichen Inquisitions-, Siz-, Azungs-, Aktenversendungs u. Vertheidigungs-Kosten zu erstatten. Militär-Behörde; Bau-Amt; Gerichts-Herren; Schöpfen.


Unverzüglich kommt der Schöffe Holzschuher mit der Nachricht zurück, „daß der Inquisit, Joh. Ludw. Romer, bey Eröfnung des in seiner Inquisitions-Sache am heutigen Dato emanirten Oberherrlichen Verlasses die Bitte vorgebracht habe, ihn, statt der dekretirten lebenslänglichen Zuchthaus-Strafe hinrichten zu lassen indem er den Tod einer lebenslänglichen Detention vorzöge”.  Überraschend kann das nur finden, wer sich nicht anschaulich klar macht, wie zermürbt der Mann von seiner Lochgefängnis-Haft sein mußte, was ihm ein auf unbestimmte Zeit verhängter Gefängnisaufenthalt, wenn auch an anderem Ort, für eine Aussicht bot und wie teuer für seine Familie die angeführten Rechtspflege- und Haftkosten sein würden. Er mag geschrien haben: „Warum kann man mich nicht gleich freilassen, wenn man mich schon nicht umbringen will!” Im Aktenvermerk liest sich das so:


Mittwoch,12.5.1802

Der in dem Zuchthaus in gefänglicher Detention sizende Joh. Ludw. Romer ist mit seinem unverschämten [über der Zeile: u. unbesonnenen] Gesuch, auf freyen Fuß gestellt zu werden, ein für allemal mißfälligst ab- u. zur Ruhe zu verweisen, auch von Seite der kompetenten L. Behörden keine weitere auf seine Befreyung zielende Vorstellung anzunehmen. Burgermeister Jun.; Schöpfen.


Ruhig solle er also sein. Valium geben konnte man ihm damals noch nicht. Er nimmt einen anderen Ausweg, und dazu verhalf ihm wohl ein Wächter, der danach noch nicht einmal bestraft, sondern nur vermahnt wurde, wohl aus schierer Erleichterung:


Montag, 17.5.1802

Der Kadaver des Selbstmörders, Joh. Ludw. Romer, ist heute Nachts durch den Löwen [den Hauptgehilfen des Scharfrichters] u. dessen Gehilfen aus dem Zuchthause hinwegzuschaffen u. ausserhalb des Kirchhofs bey St. Rochus einzuscharren, dem provisorisch aufgestellten Zuchthaus-Verwalter, Erdle, aber, welcher [wegen seiner 3.fachen groben Dienstvernachläßigung, daß er nemlich 1.) dem Inhaftirten Poussier-Werkzeuche ohne vorgängige Anzeige bey Amt habe zukommen lassen, 2.) ihm die Aufwartung durch einen Züchtling, namens Buchner, zugestanden, u. 3.) nicht nur selbsten eine Abschrift von dem in der Romerischen Sache am 12. 1. M. emanirten Oberherrlichen Verlaß u. den lezten Worten des Romers an seine Richter genommen, sondern es auch nicht verhindert habe, daß der Dr. Preu hievon gleichfalls eine Kopie habe nehmen können,] mit einer Gefängniß-Strafe angesehen zu werden gar wohl verdient hat, solche aus bloßer Oberherrlicher Gnade u. Milde zwar zu erlassen, derselbe jedoch bey Vermeidung unausbleiblicher schärfern Ahndung vor ähnlichen Dienstpflicht-Verlezungen ernstgemessenst zu verwarnen, u. zur künftigen genauern Beobachtung seiner Dienst-Obliegenheiten geschärftest anzuweisen, so wie auch dem Dr. Preu darüber, daß er von befraglichen Aktenstücken eine Abschrift zu nehmen keinen Anstand genommen hat, das Oberherrliche Mißfallen, mit der Auflage, zu erkennen zu geben, das eidliche Handgelübde darüber zu leisten, daß er solche Piecen bereits wirklich vernichtet habe, u. hievon bey niemanden irgend einigen Gebrauch machen wolle.  Schöpfen.


Es ist, wieder sei es bemerkt, kein Wunder, das Verschwinden gewisser Aktenstücke und das Herumdrucksen des Blumenordens in dieser Angelegenheit zu beobachten.


Was tat aber der Blumenorden wirklich? Am 17. August 1801 war auf einer ordentlichen Versammlung "decretieret" worden, Carl Alexander Faulwetter ein Ehrengedächtnis zu schreiben und in Druck zu geben. Einige Mitglieder hielten das aber für bedenklich, äußerten diese Bedenken allerdings erst nach der eigentlichen Sitzung. (Hier ist vor allem Dr. Leuchs zu nennen.) Präses Panzer rollte die Sache am 6. Oktober 1801 wieder auf. Eine weitere Sitzung zu dieser Frage fand am 16. Oktober statt. Man einigte sich darauf, wenigstens eine kurze Gedenkschrift für das Ordensarchiv zu verfassen, wobei "durch Abstrahierung von allen Lobes-Erhebungen und politischen Verhältnißen aber unangenehme Sentiments von Seiten des Publikums, so wol gegen den Orden, als die Ehre und Ansehen des Verblichenen selbst beseitiget werden mögten." Geplant war, am Ende des von Leuchs verfaßten Ehrendenkmals für Friederich (der unterdessen seiner Fettsucht erlegen war), einen "Übergang" auf Faulwetter zu machen, und der Buchdrucker sollte zwischen beiden Beiträgen eine Linie ziehen. So hätte man nicht gerade eine auffällige Einzelveröffentlichung veranstaltet und doch dem neu eingeführten Ordensbrauch der Nachrufe Genüge getan. Als Verfasser war der Ordensrat Dr. Christian Gottfried Lorsch vorgesehen.


Aus begreiflichen Gründen scheute Lorsch vor einer Aufgabe zurück, die der Quadratur des Kreises gleichkam, und der Diacon und Milizgeistliche Seyfried nahm sie tapfer auf sich, konnte aber, wie zu sehen war, weder Lobeserhebungen vermeiden (die literarischen Gattungsgesetze für Nachrufe sind einfach zu stark in bezug darauf) noch politischen Anzüglichkeiten aus dem Wege gehen. Die Blätter wurden bis zum 31. Juli 1802 im Orden herumgegeben, um anderen Mitgliedern die Möglichkeit zu Ratschlägen für eine Schlußredaktion zu geben. Auf dem dafür vorgesehenen Doppelblatt, das noch heute beiliegt, äußert denn auch Lorsch: "Man kan sich unmöglich nur etwas über diesen Mann verbreiten, ohne auf die verhaßte Seite zu stoßen, und dadurch zu Bemerkungen veranlaßt zu werden, welche für dritte Personen anstößig und beleidigend sind. Gönnen wir ihm daher seine Ruhe." Er meint, Seyfried hätte besser, genau wie er, die Finger davon gelassen; es solle gar nichts herausgegeben werden. Am 2. August 1802 legt Syndicus Dr. Benedikt Wilhelm Zahn ein Gutachten zur endgültigen Verfahrensweise bei, das auf möglichste Verschwiegenheit hinausläuft. Der gewissenhafte Dr. Colmar, der seither Faulwetters Stelle und Bezüge übernommen hat, schließt sich dem zwar an (9. August 1802), gibt aber zu bedenken, Faulwetter brauche ebensogut einen Verteidiger wie sein Mörder, und man solle daher "einige starke Stellen" des Seyfriedschen Manuskripts nicht ändern.


Ein Ausweg bietet sich an, der auf eine sehr elegante Weise dafür sorgt, daß der Nachruf im Archiv begraben wird und dadurch sogar ein gutes Werk geschieht: Seyfried teilt in einem Brief vom 13. August 1802 mit, Faulwetters Angehörige seien durch den Tod des Familienvaters in äußerste Not geraten und "leben von Stiftungen u. dem ansehnlichen Geschenk, das sie der Wohlthätigkeit einer hiesigen Maurerloge zu danken haben." (Auch bei den Freimaurern war sich Faulwetter die Mitgliedschaft anscheinend schuldig.) Was liegt da näher, als daß sich der Blumenorden seinerseits nicht lumpen läßt und die für den Druck des Nachrufs bereits gesammelten 8 fl. 52 Kreuzer der Witwe übergibt.


Es war ein Tropfen auf den heißen Stein. Noch vom 22. 11. 1806 gibt es ein Gesuch "Vorstellung der verwittibten Consulentin Faulwetterin" um Fortsetzung der jährlichen Unterstützung von 50 fl. vom Magistrat durch das Königlich Bayerische General-Land-Kommißariat. Darauf erfolgt am selben Tag Weisung, man solle sich nach ihren Verhältnissen erkundigen. Bericht wird erstattet am 27. 11. 1806: sie sei in der Tat mit ihrer Tochter ohne Einkommen "in der kummervollsten Lage hinterlassen" worden, und die Gläubiger hätten sich ihres gesamten Vermögens bemächtigt, bis auf die Kleider. Am 18. 12.1806 wird das Gesuch gewährt. Wer weiß, was später aus den Frauen geworden ist!


Exkurs des Exkurses: von Bodman alias Dr. Müller



Am 14. Mai 2002 reiste Herr Dr. Joachim Halbekann, Archivar, von der Universität Hohenheim nach Nürnberg und hielt dem Pegnesischen Blumenorden (oder was von diesem anwesend war) einen Vortrag über ein seltsames Mitglied aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts, dessen Lebensspuren er im Archiv der Familie von Bodman-Bodman am Bodensee aufgespürt hatte. Sein Aufsatz über diese Funde war bereits erschienen in der Zeitschrift Hegau [57 (200), S.133-210]. An dieser Stelle ist die köstliche Schilderung nicht nachzuerzählen, wie Dr. Halbekann von Woche zu Woche der immer bedenklicher blickenden Tischrunde im Schlosse Bodman von immer skandalöseren Einzelheiten aus dem Familienarchiv über dieses Schwarze Schaf berichtet hatte. Ein Auszug dieser Lebensgeschichte jedoch gehört hierher, weil er den Zwiespalt beleuchten kann, der zur damaligen Zeit zwischen dem hohen Anspruch des Blumenordens und einzelnen verborgenen (gut verborgenen!) Befleckungen bestand.


Der Herr „Dr. jur. Anton Müller„, Mitglied Nr. 272, war eigentlich Freiherr Johann Adam von Bodman-Bodman, geboren 1765. Obwohl er der älteste Sohn war, wurde er von seiner Familie erst dem geistlichen Stand gewidmet. 1791 wurde er nach gewissen Flegeleien, die eine Stelle im höheren katholischen Klerus nicht angeraten erscheinen ließen, Pfarrer in Bodman, aber wegen Verfehlungen ab 1795 samt seiner schwangeren Freundin flüchtig. Aufenthalte in mehreren Städten Norddeutschlands schlossen sich an, und, wie nur leider deutlich zu vermuten ist, auch ein Diebstahl und versuchter Raubmord. Er versuchte seinen Unterhalt als freier Schriftsteller zu verdienen: immerhin ist er Verfasser von etwa 20 Büchern, darunter Werke über Landbau, die sich nicht durch Sachkenntnis auszeichnen, aber ein als tüchtig angesehenes Lehrbuch des Französischen. Ab 1807 hielt er sich in Nürnberg auf. Aufgrund eines fiktiven Lebenslaufes erhielt er eine Stelle als Lehrer für neuere Sprachen am Realgymnasium und wurde sogar sehr vorteilhaft beurteilt. In den Blumenorden wurde er als Ehrenmitglied aufgenommen am 10. 8. 1807 und auf seinen Wunsch seit 7. 11. 1808 ordentliches Mitglied. Seine Freundschaft zu dem verdienten Mitglied Kiefhaber überstand seinen Konkurs von 1817. Er ging etwa gleichzeitig mit diesem als Professor der neueren Sprachen nach Landshut; 1823 nach München. Die ganze Zeit hielt er seine mißbilligende Familie in Atem, indem er einmal als drohender Enterbter aus der Ferne seine mageren Zuwendungen aufzubessern trachtete, dann wieder als schluchzender Verlorener Sohn auftrat. Er ist verstorben am 4. März 1833 in München


Es wundert nun gar nicht mehr, daß sich im Archiv des Pegnesischen Blumenordens nichts, aber auch schon gar nichts über diesen Mann findet. In der Stammliste ist er freilich (unter seinem falschen Namen) geführt worden.