POESIE DER PEGNESEN

Erster Abschnitt: Galante Epoche und Frühaufklärung


Die dritte Generation der Pegnesen an der Wende zum 18. Jahrhundert hat, wie wir gesehen haben, wegen ihrer Verdienste um das bloße Fortbestehen des Ordens unsere Beachtung gewiß verdient. Wenn man aber den einen Hauptzweck einer literarischen Vereinigung im Auge behält, fragt man sich doch: Kann die Dichtung dieser Ordensmitglieder noch den heutigen Leser ansprechen; kann sie wenigstens den Vergleich mit der Dichtung der ersten Pegnesen aushalten, die ungleich stärker in der Forschung und im Gedächtnis der Nachwelt gewürdigt werden; oder kann sie gleichrangig neben zeitgenössische Gedichte von anderer Seite gestellt werden?

Diese Arbeit beabsichtigt nicht, dem Leser ein unaufrichtiges Lob verwelkter Poesie abzuringen. Nur dazu sollen einzelne Textbeispiele aus der Vergessenheit gehoben und knapp erläutert werden, damit man selbständig den Zusammenhang und Vergleich mit ähnlichen, aber zugänglicheren Gedichten finden kann. Die Auswahl ist dabei geleitet von gewissen Lesegewohnheiten und Erwartungshaltungen, die etlichen Umgang mit Texten jener fernen Zeit voraussetzen. Wer einen von Schulen oder gängigen Auslesen vermittelten Bestand bekannter Texte als Maßstab zugrundelegte, würde vielleicht nichts Erwähnenswertes finden; allzusehr beherrschen klassische und romantische Vorbilder jede Übereinkunft der breiteren lesenden Öffentlichkeit, was ein gutes Gedicht sei. So wird man aber auch HARSDÖRFER, KLAJ und BIRKEN nicht gerecht.



OMEIS: Persönliche Aussagen vorindividueller Art

MAGNUS DANIEL OMEIS, der in seiner "Gründlichen Anleitung" bestimmt nicht weniger Sachverstand als andere Poetologen (oder Dichtungs-Theoretiker) zeigt, wird sich selbst nicht für das gehalten haben, was man heute ein Genie nennt. Aber einen tüchtigen Poeten nach den Maßstäben der gelehrten Welt konnte er schon abgeben. Es ist nur leider in seinen angehängten "Ehr-Gedichten" nicht dasjenige aufzufinden, wovon in der Sitzung im Irrhain die Rede war, nämlich das Gedicht zum Antritt seines Rektorats der Altdorfer Universität. Ein anderes teile ich auszugsweise mit, das auch ihn selbst betrifft; es liegt nahe, daß ein persönlicher Anlaß oder Bezug etwas hervorgebracht habe, was auch dem heutigen Leser weniger äußerlich vorkommt. Es handelt sich um den insgesamt 37 vierversige Strophen umfassenden Text: Auf meinem [!] Namen-Spruch: Mundus Decipitur Opinionibus .

Offenbar hat er einen lateinischen Spruch als Ausgangspunkt gewählt, dessen Wörter mit den gleichen Buchstaben anfangen wie sein Name. Hieran ist schon einmal zu sehen, daß nicht eine Stimmung, eine Naturbeobachtung oder eine Meditation über den eigenen Charakter zu der Verschränkung von Ich und poetischem Gegenstand führt; es ist eine ganz geistige Übung, weniger eine seelische. Diese Dichter waren Intellektuelle, keine Ergriffenen oder Erleuchteten. Nach solchen Bewußtseins-Zuständen außerhalb der Religion zu streben, wäre ihnen wohl vermessen vorgekommen. Möglicherweise erklärt sich daraus das scheinbare Auseinanderfallen von pietistischer Frömmigkeit und rationalistischer Sprachpflege. Wie bearbeitet nun OMEIS seinen Einfall, so daß er dichterisch wird?

Es wird die ganze Welt durch Meynungen betrogen.

Gleichwie sich von der Schlang das Paar im Paradis

durch hohe Meynungen zu erst betriegen ließ;

also hat diese Seuch sich auch auf uns gezogen.


Die erste Zeile bietet, wie recht und billig, die Übersetzung der Überschrift. Zwanglos ergibt sich das Metrum — Jambus — und der Vers: Alexandriner. Daß in der nächsten Verszeile die Aussage am Ende nicht abgeschlossen ist, bringt die Strophe in Bewegung. Passenderweise schließt die Strophe aber mit einer einversigen Aussage ab, damit man an der eintretenden Pause hört, wie lang die Strophe ist und daß eine neue kommen wird. Wer das erst einmal als Schema im Ohr hat, wird gleicher Behandlung nicht bei allen Strophen bedürfen, und der Dichter kann hernach freier mit dem Schema spielen. Inhaltlich fängt OMEIS bei Adam und Eva an. Das gilt heute als sprichwörtlich schlecht, wird aber im Sinne eines wohl durchgeführten Argumentes mit der Erwartungshaltung damaliger akademischer Leser übereingekommen sein.

Kaum wir entwichen sind dem Wickel-Band und Wiegen/

so flößet Baucis uns durch albre Fabeln ein

viel hundert Meynungen/ die offt durch leeren Schein/

wie den Aesopus-Hund der Schatten/ uns betriegen.


Baucis, die aus OVIDs Metamorphosen bekannte alte Frau (Philemon und Baucis), steht hier für eine alte Erzieherin, Amme oder Großmutter. Wenn wir heute sagen: "Erzähl' mir doch keine Ammenmärchen", so ist dies ein Nachklang des Widerwillens, den der aufgeklärte Mensch des 18. Jahrhunderts gegen eine Erziehung hegte, die nicht ausschließlich über den Kopf ging, sondern sich in märchenhafter Einkleidung, bildhafter Ausdrucksweise und mit abergläubischen Drohungen an die Kinder wandte. Mit Ausnahme des Aberglaubens denken wir heute wieder umgekehrt. Im Unterschied zu tiefenpsychologischen Überlegungen muß damals die Befürchtung, Kinder könnten durch alle Arten der Beeinflussung von seiten ungelehrter Personen auf ihrem Wege zur Weisheit aufgehalten werden, in Gelehrtenfamilien sehr stark gewesen sein. Man schüttete sozusagen das Kind mit dem Bade aus und bildete mit Vorliebe altkluge Fratzen heran. Beobachtungen dazu macht man in Dutzenden "Moralischer Wochenschriften" sowie in Büchern zur Weltklugheit von den namhaftesten Philosophen der Zeit. Daraus folgt aber auch, daß OMEIS in diesem Punkte einer aufklärerischen Geistesrichtung zuzurechnen ist. Ironisch wirkt allerdings, daß er seine Abneigung gegen die durch leere Fabeln vermittelten Einstellungen anhand einer aesopischen, moralisch ausdeutbaren Fabel vom Hund und seinem Schatten exemplifiziert. Übrigens leistet sich OMEIS gegen seine späteren Überzeugungen hier noch unprosaische Wortstellung im ersten und zweiten Vers. Von den weiteren Strophen, die das Thema so vollständig verfolgen, daß an keinerlei Bildungserlebnis, auch nicht am Reisen, noch ein gutes Haar bleibt, zitiere ich nur noch die eine, die vom Schul-Unterricht handelt:

Bald hat sich/ der uns lehrt/ dem Stagirit verschwohren/

bald nimmt er unversehns Cartesens Meynung an;

Der hälts mit Scaliger/ und jener mit Cardan/

und diser hat die Sect der Stoiker erkohren.


Auch hier erinnern wir uns leicht an ein geflügeltes Wort: "Die Vielfalt der Schulmeinungen". Unsere Sprache hat Einstellungen aufbewahrt, die in der damaligen Zeit erst gewonnen wurden. Es muß, ähnlich wie im "postmodernen Bewußtsein" (was immer das sein mag), dem Zeitgenossen um 1700 der ewig unentschiedene Wettstreit unvereinbarer Standpunkte aufgefallen sein, nur daß man diesen geistigen Sachverhalt als eine große Unbequemlichkeit empfand. ARISTOTELES, der "Stagirit", einst mit der Duldung der Kirche als der eigentliche Schulphilosoph behandelt, weil man ihn mit dem Dogma vereinbaren zu können glaubte, muß neben sich Neuerer wie DESCARTES, CARDANUS und SCALIGER gelten lassen. Dazu gewinnt seit dem 17. Jahrhundert eine christliche Version des Stoizismus Anhänger. Wenn wir über OMEIS selbst in diesem Gedicht etwas zu erfahren hoffen, so wird es wohl das sein: Er verfällt aufgrund vielfältiger Bildungseinflüsse, die ihn unsicher gemacht haben, auf jenen lateinischen, sehr skeptischen Spruch zu seinen Namensinitialen, und führt ihn aus, sodaß man über sein Bewußtsein etwas erfährt.

Es muß nicht die Totalität seiner Bewußtseinsinhalte sein. Dazu ist die Gattung des Gedichts nicht vorgesehen. Es läßt sich nur immer ein Ausschnitt, eine bestimmte Rolle der Person, darin darstellen. Wir sollten deshalb vorsichtig damit sein, aufgrund dieser wenigen zeitüblichen Aussagen OMEIS geradezu als einen der Avantgardisten unter den Aufklärern zu beanspruchen. Ihm ist jederzeit, wie andere seiner Schriften zeigen, die Wendung zuzutrauen: "Aber ich finde Halt und Trost in meinem Glauben." Als Dichter jedoch kann er sich zu jeder Gelegenheit andere geistige Vorbilder suchen, solange er den jeweils rechten Ton trifft. Diese Fertigkeit und die rein handwerkliche hat er uns in obigen kleinen Ausschnitten, wie ich meine, erwiesen.


FÜRER: Lebendigkeit in der gewandten Benützung von Gattungen


So wie CHRISTOPH VII. VON FÜRER haben damals viele junge Leute aus gehobenen Kreisen Verse gemacht, weil es einfach dazugehörte. Er aber hatte davon bereits einen hinreichenden Vorrat beisammen, bevor er auf die übliche Bildungsreise durch halb Europa ging, sodaß er zum Abschied seinen Freunden ein (auf eigene Kosten gedrucktes) Büchlein zurücklassen konnte: "Vermischter Gedichte-Kranz/ bey Muß- und Neben-Stunden/ aus Lust zusammgebunden von dem Pegnesischen Blum-genossen LILIDOR. Nürnberg/ In Verlegung Georg Scheuerers Kunst-Händlers. Gedruckt daselbst bey Andreas Knorzen. Im Jahr Christi 1682".

Vor dem Titelblatt ist ein doppelseitiger Kupferstich eingebunden, der hinter einem Barockgarten im Mittelgrund das Landschlößchen Haimendorf von Nordwesten und dahinter den Moritzberg mit seiner Kapelle zeigt, als einzigen Hinweis für den Ortskundigen, wer sich hinter dem Hirtennamen verbirgt.

(Abbildung in etwa 60% der Originalgröße.)


Erstes Beispiel: Occasionaldichtung


Die Nummer VIII aus der Abteilung "Ehren- und Pflicht-Gedichte" ist gewiß nicht ohne innere Beteiligung zustandegekommen, unerachtet des nach gesellschaftlicher Sittenübung schmeckenden Sammeltitels. Fürer wendet sich darin kurz vor seiner eigenen Abreise an einen Bekannten, der schon eher die Kavalierstour antritt:


Abschieds-Gedicht/ auf eines guten Freundes Abreise.


Wie? ist es Schlaffen oder Wachen?

quält mich nicht Morpheus bey der Nacht?

daß er durch so betrübte Sachen

die Ruh zur grösten Unruh macht:

Soll der/ den man nie satt kan preisen/

so bald von unsren Gränzen reisen?


Ach freylich ja/ es ist kein Schlaffen:

kein Traum/ der mich mit Lügen kränkt;

könnt ich doch mein Gedächtnus straffen/

wann es an diese Reis gedenkt:

Doch nein: was wir geliebet haben/

bleibt auch dem Denken eingegraben.


Zwar quält die Freude diß Entschliessen/

so Freund von Freund- und Brüdern reisst:

Man siht viel hundert Thränen fliessen/

wann uns das Glück entweichen heisst.

Man siht/ bey solchen Schmerzen-Stimmen/

die Treu auch auf den Wangen schwimmen.


Diß/ liebster Freund/ quält uns ingleichen/

es quillt aus dem betrübten Kiel

diß/ was der Mund nicht kan bezeugen/

dieweil er lieber schweigen will/

und deines Ruhmes Eingedenken

viel mehr dem stillen Herzen schenken.


Dein Ohr kan nicht das Lob vernehmen/

ich weiß/ die Demut leidt es nicht:

Drum will ich mich darzu bequemen/

im Fall dein Daseyn uns gebricht.

Dann wer den Schmeichel-Nam will meiden/

der lobt die Freund zu andern Zeiten.


Diß sag ich/ daß ich/ weil ich lebe/

nicht deiner Lieb vergessen kan:

Wann ich in fremden Orten schwebe/

und geh/ gleich dir/ mein Reisen an/

so soll dein Nam zu allen Zeiten

mich auch bis in die Fremd begleiten.


Sollt etwan dich der Neid verfolgen/

der sich nur an die Tugend wagt/

und wetzt die Zäne nur an solchen/

die Muth und Blut zu Edlen macht;

so glaub/ daß solche Neid-Beschwerden

wir möglichst unterdrucken werden.


Und sind gleich eine hier zugegen/

die dein Entfernen nur ergötzt/

die nichts als Lust und Freude hegen/

daß du den Fuß hinweg gesetzt:

Die lassen alle Welt erfahren/

daß sie nicht deiner würdig waren.


Noch eins/ ich sag es zwar mit Grämen/

doch weil ich es je sagen muß/

und weil ich muß den Abschied nehmen/

so nimm dann hin den letzten Kuß.

Leb höchstvergnüget unterdessen!

Doch gleichwohl meiner unvergessen.


Als Hilfe für das Einlesen in einen längeren Text jener Zeit versuche ich nun eine Umschreibung zu geben, die für manche heute mißverständliche Stelle Worte einsetzt, wie sie in entsprechender Lage unter Zeitgenossen gebraucht werden könnten. (Das Verfahren lehnt sich an die Paraphrasierungen an, die KARL BERTAU seine Oberseminaristen von mittelhochdeutschen Texten anfertigen ließ und die er selbst in seiner Literaturgeschichte "Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, München 1973" dem heutigen Leser gibt, wobei Fachgenossen derartiges ruhig verschmähen mögen. Doch indem die Zyklen der kulturellen Bewußtwerdung immer kürzer werden, haben junge Studenten der Germanistik heute schon Schwierigkeiten mit Früh-Neuhochdeutsch.)


Schlafe oder wache ich? Quält mich in dieser Nacht ein Albdruck (Morpheus, der Gott des Schlafes)? Die Bettruhe wird durch dieses Ungewisse zur größten Unruhe: Ob derjenige, den man nicht genug loben kann, schon so bald aus unserem Land abreist?


Ach, es ist tatsächlich nicht der Schlaf, es ist kein Traum, der mich mit Lügen kränkt; wenn ich doch mein Bewußtsein dafür bestrafen könnte, daß es an diese Reise denkt! Doch nein: was wir geliebt haben, läßt sich nicht verdrängen.


Derjenige Entschluß verdirbt die Freude, der den Freund von Freunden und Brüdern reißt. Wenn das Schicksal uns abzufahren befiehlt, fließen viele Tränen. Während solch schmerzlicher Ausrufe sieht man sie als Zeichen der Anhänglichkeit auf den Wangen.


Auch mich, lieber Freund, quält es, und ich schreibe lieber auf, was mein Mund scheut zu sagen, da ich lieber das Gedenken an deine Vortrefflichkeit bei mir behalte. Was ich an dir zu loben finde, hörst du nicht; du wärst auch zu bescheiden dazu. Darum will ich dich loben, wenn du nicht da bist. Wer nicht als Schmeichler erscheinen will, der lobt die Freunde in ihrer Abwesenheit.


Ich kann, so lange ich lebe, deine Freundschaft nicht vergessen. Wenn ich mich, wie du, im Lauf meiner Reise an fremden Orten aufhalte, soll mich dein Name auch in die Fremde begleiten.


Wenn sich neidische Leute über deinen Ruf hermachen, weil solche sich ja grundsätzlich an die Guten wagen und an die, deren Haltung, nicht nur deren Abstammung sie zu Edlen macht: dann kannst du dich darauf verlassen, daß wir solche Nachreden nach Kräften niederhalten werden.

Und wenn es welche hier gibt, die sich über deine Abwesenheit nur freuen, dann kann daran die ganze gute Gesellschaft lediglich ersehen, daß sie deiner nicht würdig waren.


Noch eines (ich kann es nur traurig sagen, aber weil ich es nun schon einmal sagen muß, und weil ich Abschied nehmen muß): Laß dich zuletzt in die Arme schließen. Laß dir's einstweilen gutgehen, aber vergiß mich nicht.


Nun sollte man grundsätzlich eine derartige Aussage nicht für unmittelbaren Ausdruck des Erlebten und Gefühlten halten, gerade im 17. Jahrhundert. Ich nehme zwar dieses Gedicht, wie gesagt, nicht für ein kühl berechnetes Kunststückchen; es ist dennoch aus einer Rolle heraus geschrieben, in der sich mancher wiederfinden konnte – und sollte. Ganz genau und ausführlich wird der Kreis der gesellschaftlichen Umstände abgeschritten, keine der von der Höflichkeit erforderten Überlegungen ausgelassen; und daß als der Augenblick des Schreibens eine schlaflose Nachtstunde gewählt ist, geschieht wahrscheinlich nicht deswegen, weil FÜRER wegen der Abreise des Freundes tatsächlich nicht hätte schlafen können, sondern zur Unterstreichung der nahen Beziehung: Man denkt an den Verabschiedeten sogar, wenn man allein auf der Kammer liegt. Es ist eine Feinheit, daß sich daraus zwanglos das versteckte Lob, die Vermeidung der offenen Schmeichelei ableiten läßt; andere hätten wohl zu dem gröberen Mittel des Unsagbarkeitstopos ("es läßt sich nicht ausdrücken...") oder der Correctio ("was sage ich...") gegriffen.


Durchaus als überlegtes Mittel ist auch die Strophen- und Versform gewählt. Zur Vertrautheit mit dem Freund passen die volkstümlich liedhaften, vierhebigen Verse, und daß die Strophen nach zwei Kreuzreimen mit einem Reimpaar schließen, betont nicht nur das Strophenende bei mündlichem Vortrag, sondern gibt auch Gelegenheit, das in jeder Strophe enthaltene Argument zuzuspitzen: Die Verspaare ergeben jeweils einen gedanklichen Abschluß, den man beinahe als Spruch, als Sentenz, aus dem Zusammenhang nehmen könnte. Davon rührt der ins Allgemeine zielende Ernst dieses Abschiedes her. (Besonders deutlich: "Doch nein: was wir geliebet haben, bleibt auch dem Denken eingegraben.") Man sieht: FÜRER, allem Anschein nach ein Musterschüler und fleißiger Student seines Professors OMEIS, beherrschte die Rhetorik aus dem Grund. Und das war damals eine Empfehlung für einen Dichter.


Dazu gehört auch, daß man sich vor plattem, gar zu selbstverständlichem Ausdruck scheut (auch wo man nichts Besonderes auszudrücken hat). An mythologischen Anspielungen haben wir hier zum Glück nur eine, den Morpheus, sodaß es nicht zu gelehrt wird. Aber an Entgegensetzungen, Antithesen, ist schon die erste Strophe verhältnismäßig reich: "Schlafen oder Wachen", "Ruh zur grösten Unruh". Dieses Wenden und neu Betrachten, so bezeichnend für den Denkstil des Rationalismus, scheint Fürer zur zweiten Natur geworden zu sein. Wir werden immer wieder darauf stoßen. Zusätzlich bedient sich der Autor eines in der Lyrik eigentlich bedenklichen, weil unanschaulichen Mittels: Er erhebt abstrakte Hauptwörter wie 'Gedächtnis', 'Entschließen', 'Eingedenken', 'Demut', 'Dasein', 'Tugend', 'Neid' zu handelnden oder zumindest erleidenden Wesen. Von hier ist es nicht weit zu Allegorien wie 'Glück' — die Dame Fortuna. Freunden der Metapher und anderer Mittel uneigentlicher Ausdrucksweisen tut FÜRER jedoch auch einen Gefallen: "es quillt aus dem betrübten Kiel" — nur ist dies nicht gerade ein Beispiel einzigartiger Erfindung. Weit eher noch originell scheint das Concetto zu sein, daß man "die Treu" in Gestalt von Tränen "auf den Wangen schwimmen" sieht. Hier überlegte der damalige Leser (man will wissen, nicht ohne Genuß), wie das Bild nun mehrfach zusammengesetzt sei.


Eine Schwierigkeit, deren sich FÜRER damals noch kaum bewußt gewesen sein dürfte, behinderte jedoch die wohlwollende Aufnahme eines derartig gelungenen Gedichtes über die Weite des deutschen Sprachraums hinweg. Es sind die Provinzialismen, anders gesagt, die sprachlichen Anzeichen, daß hier ein Franke schreibt. Zwar stehen dem Auge kaum Besonderheiten entgegen, die das Verständnis behindern, aber ein Sachse wie HUNOLD nahm wohl Anstoß am Wegfallen des Endungs '-e' in Wörtern wie 'Ruh', 'Reis', 'Treu'. Wirklich verräterisch wird das aber erst bei Reimen, und damit fürs Ohr: 'ingleichen' — 'bezeugen'; 'meiden' — 'Zeiten'; 'verfolgen' — 'solchen'; 'wagt' — 'macht'. Seit GOETHE hat man dazu wieder ein unverkrampfteres Verhältnis und findet es wohl gar heimelig; doch in einer Zeit, die gerade anhand der Reinheit der Reime um eine allgemeinverbindliche Hochsprache rang, schürte es Feindseligkeiten. Man nahm den Pegnesen andernorts ihre Sprachpflege nicht mehr ab, wenn sie sich nicht nach dem "meißnischen Idiomate regulireten".


Wichtiger wäre freilich anzuerkennen, daß hier ein Dichter am Werke ist, der das Klappern und Leiern metrisch regelmäßiger Verse vermeiden kann. Das erreicht er durch Überspielen der Zeilengrenze, etwa bei: "daß er durch so betrübte Sachen die Ruh zur grösten Unruh macht"; dazu kommt, daß innerhalb der Verse verschieden lange Sinn- oder Sprechabschnitte auftreten, deren trennende Staupausen den Fluß des Metrums leicht verzögern: "Ach freylich ja/ es ist kein Schlaffen: kein Traum/ der mich mit Lügen kränkt"; nicht zuletzt wirkt daran auch die Abwechslung von weiblichen und männlichen Versendungen mit, die am Ende jeder Strophe durch zwei aufeinanderfolgende Zeilen mit unbetonten Endsilben noch einmal eine Abwechslung erfährt. Man betrachte einmal, wie die so entstehenden Wechsel der Lesegeschwindigkeit mit den Aussagen zusammenpassen: eine Unstimmigkeit habe ich dabei jedenfalls nicht gefunden.


Man möchte dieses Gedicht schon fast "natürlich" nennen, wenn man es mit den hochtrabenden Wortarien und künstlich gesponnenen Erfindungen der vorhergehenden Generation vergleicht. Die Stilebene ist niedrig bis mittelmäßig (Genus humile ohne Grobheit), und das Kluge daran ist eher weltklug als pedantisch. In Hinblick auf einen Leitbegriff der damaligen Zeit qualifizierte sich FÜRER mit dergleichen Äußerungen als ein "Galanthomme". Freilich galt es für ihn auch, sich mit den schwerblütigeren Produkten der damals noch so gerühmten zweiten schlesischen Dichterschule auseinanderzusetzen, und in Nürnberg konnte er auch auf Zustimmung rechnen, wenn er gelegentlich ein etwas derberes, aufrecht-treudeutsch lutherisches Register zog.



Zweites Beispiel: Geistliches Lehrgedicht


Auf der Höhe seiner Kunst zeigt sich FÜRER mit dem Buch: "Christliche Vesta und Irrdische Flora. Oder Verschiedene theils aus fremden Sprachen übersetzte theils selbsterfundene Geist-und Weltliche Teutsche Gedichte eines Mitglieds der Pegnesischen Blumen-Gesellschaft. Anno 1702." Der einseitige Titelkupfer des ersten Teils zeigt einen vom Jahwe-Zeichen überstrahlten Rundtempel mit opfernder Vestalin, dahinter, ganz klein, Haimendorf und Moritzberg von Westen.

Aus dem geistlichen Vesta"-Teil des Buches wähle ich zur Verdeutlichung des lutherischen Tones das Gedicht "Auf einen Eigennützigen". Man kann darin eine Satire sehen, die zur Predigt geworden ist. In einer herkömmlichen Satire werden nämlich die Torheiten vor den Richterstuhl einer innerweltlichen, gesellschaftlich geltenden Wertordnung gezogen; hier aber ist der Maßstab das ewig gültige göttliche Gebot, und das Strafgericht besteht nicht in der Lächerlichkeit, sondern in der ewigen Verdammnis.


Was suchst du/ du Erden-Ratz!

alles nur an dich zu ziehen?

wie kanst du dich doch bemühen

zu vermehren deinen Schatz?

Welche Sorge/ welchen Fleiß/

welche Klugheit/ Müh und Schweiß

pflegest du nicht vorzukehren/

um dein kahles Gut zu mehren?


Hör/ du Narr/ in dieser Nacht

wird die Seel von dir genommen/

wo wird wohl der Koth hinkommen/

der dich ewig elend macht?

Alles läßest du zurück

Reichthum/ Ehr und anders Glück;

nichts als deine Laster-Thaten

folgen dir zu deinem Schaden.


Hast du hier auf dieser Welt

manchen um sein Guth betrogen/

fremde Haab an dich gezogen/

denk/ was man davon behält;

ders bekommt/ der lachet dein/

und wird nicht gesegnet seyn;

aber du wirst ewig müssen/

die verschluckte Bißen büssen.


Ach der saure Witwen-Schweiß/

ach der Waysen heiße Threnen/

ach der Unschuld seufzend sehnen/

sind wie glühend Pech so heiß;

deß Gewissens Zwick und Biß

sind die rechte Zangen-Riß/

und die glüend-rothe Eisen

die einst Herz und Brust zerreißen.


Zehle an den Fingern ab

deines Lebens kurze Stunden/

denk/ wie bald sie sind verschwunden/

und wie nah du seyst dem Grab:

kommt der letzte Augenblick/

der gewiß nicht bleibt zurück/

da du vor Gericht sollst gehen/

Jammer! wie wirst du bestehen?


Dieser Richter fürcht sich nicht/

daß du ihn könntst wieder drücken/

wann du gleich auf ihn läßt blicken

dein erbostes Angesicht;

stelle alles grübeln ein/

bey ihm hilft kein falscher Schein

kein bemänteln/ kein verdrehen/

weil er selbst ins Herz kan sehen.


Es ist ihm mit keinem Geld

etwan durch den Sinn zu fahren;

auch kein Unterscheid von Jahren

macht/ daß er die Ordnung hält;

keine Freundschafft/ Macht noch Ehr

die hier gilt/ gilt dorten mehr:

ja kein poltern/ Zorn und zanken

hindert seine Macht-Gedanken.


Und wie lange daurt ers doch/

daß du deine Lust gebüßet?

welche doch so bald verfließet;

etwann stirbst du heute noch/

da der Tod den Schwammen druckt/

der zu viel hat eingeschluckt/

welcher Safft und Geist und Leben

in der Preß muß wiedergeben.


In der Hölle denk daran/

laß dir deinen Mammon helfen/

sihe/ ob er auch dein gelfen

hören und dich retten kan;

Warum bist du ihm dann hold/

sag/ was half dich dann dein Gold?

Was dir guts davon geschehen/

ist/ daß du es angesehen.


Dieses sehen ist zu teur/

du must es zu hoch bezahlen;

ach ihr ewig-lange Qualen!

Ach du schmerzlichs Höllen-Feur!

wie wird man in deiner Qual

denken so viel tausendmal:

daß das Unrecht werd gerochen/

sey ein scharfes Recht gesprochen.


GOtt! laß mich ja nimmermehr

in ein unrecht Gut verlieben/

sollt der Reichthum mich betrüben/

so gib lieber Armut her;

schenk mir einen solchen Sinn/

der nicht trachte nach Gewinn;

laß an Schätzen mich ergötzen/

die der Tod nicht kan verletzen!


Wieso werden eigentlich solche Gedichte so lang? Mußte es sein, daß die Drohung mit der jenseitigen Gerechtigkeit dreimal wiederkehrt? Auf solche Fragen geben die Regeln der Homiletik, der Kanzelberedsamkeit, Antwort; die damalige Zeit hätte sie gar nicht gestellt. Das Gedicht verfolgt seinen Zweck unter verschiedenen Gesichtspunkten und steigert sich in den Mitteln. Was heute so langatmig erscheint, ist die Tugend, an alles gedacht zu haben, kein Schlupfloch zu lassen für abweichende Deutungen. Eine Gedichtinterpretation in heutigem Sinne ist darum auch unnötig.


Aus sprachgeschichtlicher Sicht fällt die unterschiedliche Schreibung ein- und derselben Wörter auf. Das geht vielleicht auf die Rechnung der Setzer, vielleicht zeigt es aber auch die vielfältigen Einflüsse, denen FÜRER aufgrund seiner auswärtigen Verbindungen ausgesetzt war. Verschiedene Normen kamen den Lesern tag-täglich vor Augen, je nachdem, wo das Buch gedruckt worden war, mit dem sie sich befaßten. In Leipzig hätte die Überschrift gelautet: Auff einen Geld-Geitzigen", und Auslassungen von Buchstaben, Elisionen oder Kontrahierungen wie in 'Feur' und 'daurt' oder gar in 'könntst' waren dort verpönt als gar zu billige Mittel, viele Wörter in einen Vers zu zwängen. Bairische Texte jener Zeit sind voll davon. Auch das 'druckt' statt 'drückt' und andererseits die eher nördliche Schreibung 'Threnen' für 'Thränen' sind Anzeichen, daß sich Nürnberg eigentlich in einer günstigen Mittellage zwischen ober- und mitteldeutschem Lautstand befand: Bei anderen politischen und personellen Verhältnissen hätte die Normierung ganz gut von den Pegnesen ausgehen können. Jedenfalls hat FÜRERs Rechtschreibung recht behalten, wo er sparsam umgeht mit dt ('Tod'), th ('Gut'), tz ('kurze') und ck ('Gedanken'); nicht gehalten hat sich die Kleinschreibung substantivierter Verben ('grübeln').

Christoph VII. Fürer, der unter anderem auch Kastellan der Nürnberger Burg war (im Bild links).

Ausschnitt; Original 32,5 x 42,5 cm





Drittes Beispiel: Wider den aufklärerischen Optimismus


Der heutige Leser mag wieder mehr Verständnis für Klaglieder auf die gebrechliche Einrichtung der Welt haben als manche von FÜRERs Lesern, sofern sie vom zeitgenössischen Glauben an die beste aller denkbaren Welten durchdrungen waren. Ganz und gar keine aufgeklärte ist die im folgenden angedeutete 'Klugheit': "Was das Leben vor Jammer/ und der Tod vor Freude/ bey einem klugen Menschen erwecke". Der Titel klingt allerdings jämmerlicher als die von einem gewissen schwarzen Humor gewürzten Verse.


So bald uns nur des Schöpfers Macht/

zu seiner Ehr ans Liecht gebracht/

so bald und bey dem ersten Tritt/

kommt auch die Meng der Schmerzen mit.


Was herber Schmerz wird schon gespürt/

indem ein Mensch gebohren wird;

biß ihn die Mutter bringt heraus

aus seinem ersten Kerker-Haus.


Kaum ist er noch darvon befreit/

so ist ein neues zubereit

die Welt das andre Kerker-Loch/

ist warlich weit betrübter noch.


Man merkt gleich was darhinter sey/

weil mans empfängt mit Klag-Geschrey;

man weint/ und dieser Threnen Noth

fliest fort und daurt biß in den Tod.


Dann unser Leib ist so bestellt/

daß alle Tag ein Pfeiler fällt;

und wann man diesen unterstützt/

ist schon ein andrer abgenützt.


Da kommen so viel Krankheit her/

der Fieber Hitz- und Kält-Beschwehr/

des Haubtes Weh/ der Füße Pein/

der Hände Schmerz/ der Lenden-Stein.


Zehl Mensch nur deine Glieder ab/

die dir GOtt zur Vergnügung gab:

keins ist davon/ da nicht behend

der gröste Schmerz sich finden könnt.


Ein Finger ist ein kleines Glied/

das doch viel Jammer nach sich ziht/

wann nur in ihm ein Spahn versteckt/

wird gleich der ganze Leib erschröckt.


Kein Hercules wird mehr geschaut/

der unsre Schmerzen-Köpf abhaut.

Hilft schon der Arzt von einer Plag/

so folgen hundert andre nach.


Was helfen? Ach man siht ja wol/

daß offt ertödt/ was retten soll;

die Aderläß/ die gut soll seyn/

läßt aus die Krafft/ die Krankheit ein.


[...]


Schlag/ HErr/ den Kerker nur entzwey/

doch so daß es zu leiden sey/

daß diese/ die hinein gesetzt/

die Seel/ nicht werd dardurch verletzt.


[...]


Aussage und Form dieses Gedichtes stechen von den oft hochfeierlichen Hymnen und Andachtsgesängen des Bandes ab wie Hausmannskost vom Heiligen Abendmahl, und doch ist das Gedicht eine wohlgeformte und beredte Anwendung schmerzlich errungener Weisheit. Man könnte den Autor in den Augenblicken des Lesens beinahe für einen EUGEN ROTH des 18. Jahrhunderts halten; es wäre auch reizvoll, einmal die entsprechenden Verse von FRANÇOIS VILLON, aus BRECHTs Hauspostille oder aus den Nichtarischen Arien von GEORG KREISLER zum Vergleich heranzuziehen. Warum es aber für diesmal gerechtfertigt sein soll, unter Umgehung eines 'lyrischen Ich' gleich vom Verfasser zu sprechen, erhellt aus seinen Lebensumständen. Er litt schon in verhältnismäßig jungen Jahren an vielfachen Auswirkungen einer allgemeinen Gesundheitsschwäche und hatte eigentlich nicht erwartet, über dreißig Jahre alt zu werden, wurde aber neunundsechzig.

Das Fürersche Gartenhaus in der Nähe des heutigen Rennwegs,

italianisierte Idealdarstellung




Viertes Beispiel: Mythologische Einkleidung erotischer Gegenstände


Auch der Frömmste, falls er nicht gerade ein Mucker war, konnte damals, wenn er sich im Vorwort ein wenig für den weltlichen Leichtsinn seiner Jugend entschuldigte, allerhand Themen auf poetische Weise behandeln, ohne seinen christlichen Lebenswandel dem Vorwurf der Heuchelei auszusetzen. Zum Menschsein mit seinen Widersprüchen und Unvollkommenheiten gehörten auch die vielen Schattierungen des Umgangs mit dem anderen Geschlecht; humanistische Gelehrsamkeit hatte auf dem Gebiet der Künste zu einiger Großzügigkeit beim Nachempfinden der alten heidnischen Muster geführt; gerade Lutheraner betonten, daß die Sünde des Menschen der Gnade Gottes nie zu groß sei und verleiteten als Studiosi gelegentlich jemanden zu Ausschweifungen, den sie im Verdacht hatten, Calviner zu sein: hätte er sich allzusehr gegen das 'fortiter peccare' gesträubt, wäre offenbar geworden, daß der Mensch seiner ketzerischen Ansicht nach schon um einer einzigen Sünde willen die Verdammnis verdiene und immer im Ungewissen sei, ob die Vorsehung ihn zur Rettung vorherbestimmt habe. Kurz: das Wort 'Pornographie' ist eine Erfindung des finsteren neunzehnten Jahrhunderts, in dem auch Nicht-Puritaner puritanisch waren (was seither zu einer um so widerlicheren Verbissenheit ins primitiv Aufreizende geführt hat); vorher hieß so etwas 'scherzhafte Muse' und konnte durchaus ehrbare Liebesgedichte neben deftig lüsternen Darstellungen bezeichnen. 'Verliebte Materien' waren eines wie das andere. Dies sei vorausgeschickt zum Verständnis, wie der sehr vornehme und sehr fromme, kränkliche Herr VON FÜRER mäßig frivole Verse machen konnte, obwohl die unter seinem Vorsitz erstellte Ordenssatzung auf Wohlanständigkeit hielt.


Liebs-Erklärung


Wo hat mein Leben dann ganz meinen Tod beschloßen?

Ist keine Rettung da vor einem [!] armen Knecht?

Sih doch die Threnen an/ die ich vor dich vergoßen;

und wann ichs nicht verdien/ gib nur der Liebe recht.


Die Versform ist nach französischem Vorbild der Alexandriner, wobei die Reimform nicht, wie in zeitgenössischen englischen Gedichten dieser Art, paarweise Couplets zusammenfaßt, sondern als Kreuzreim jeweils vier Zeilen überspannt. Diese bilden, als 'Quatrains', eine gedankliche Entwicklung und bewahren den Alexandriner vor dem Klappern.


Ich muß dir noch einmal auch wider Willen schreiben/

die Noth die zwinget mich/ und treibet meine Hand/

ich weiß mir länger nicht in diesem Stand zu bleiben;

sih deinen Sclaven an/ und öffne seine Band!

Du kennst ja den Spital/ in dem ich bin gefangen/

du weist die Fessel auch/ darinn ich bin bestrickt;

die Ketten die du sihst an meinen Gliedern hangen/

die sind mir nur allein von deiner Hand geschickt.

Spott meiner Schmerzen nicht/ die ich vor dich empfunden;

der Schalk/ der mich verwundt/ ist noch nicht aus der Welt.

Ein Krüppel dient zwar offt zur Kurzweil der gesunden/

doch komts/ daß gleiche Plag auch auf die Spötter fällt.

Ist gleich dein Herz von Stein/ und läßt sich nicht erweichen/

denk/ daß es mit der Zeit auch fleischern werden kan;

die Jugend pflegt indeß mit Kummer zu verstreichen;

im Alter reut uns offt/ was wir nicht jung gethan.

Wer frische Rosen will/ der brech sie an dem Morgen/

wann noch der feuchte Thau auf ihren Blättern hafft/

wann noch in Knospen ligt die beste Krafft verborgen/

und nie kein Bien genascht von ihrem Purpur-Safft.

Du weist/ was Jupiter mit Danaë getrieben/

da dieser Künstler Gold auf ihrer Schos gemacht;

welch eine lange Nacht must nicht Alcmene lieben/

biß daß ein Hercules wurd auf die Bein gebracht?

Ach könnt ich deiner Lieb hinfort versichert leben/

so wär ich warlich mehr als Jupiter beglückt;

die Liebe könnte uns vergnügte Nächte geben/

ob sie gleich heut zu Tag nicht güldnen Regen schickt.


Die mythologischen Anspielungen erscheinen nicht nur als Redeschmuck und beliebig aus dem Zettelkasten gegriffen, wenn wir uns den Aufbau der letzten sieben Verse ansehen. Der mittlere mit dem Wunsch, der die Bedingung stellt ( "Ach könnt ich...") wird schalenweise eingerahmt von Entsprechungen, die über das mythologische Personal angeknüpft sind: Die erste und letzte Zeile beziehen sich auf Jupiter und Danaë, die zweite und vorletzte auf die überlange Nacht des Jupiter mit Alkmene, und die unmittelbar einrahmenden auf das Höchstmaß von Liebeslust, dem der stärkste Mensch, Herakles, sein Dasein verdankte. Diese Zusammenstellung bringt den Wunsch noch deutlicher heraus, als es das antike Kostüm an sich könnte, daß die Liebe höchst beglückend sein und auch die besten Früchte tragen möge. Daher werden nämlich auch gleich zwei göttliche Liebeshändel auf einmal als Bezugspunkte genommen: Der göttlichen Aura, dem Goldregen, wovon Danaë sich umgeben sah, entspricht auf der Erde die vollkommen gelungene Verkörperung der Liebe im Zeugen eines Helden.


Ich pflanzt um unser Bett Violen und Jasminen/

die Rosen wären mir mit ihrem Ruch zu schlecht/

Cupido müste uns zu unsrer Wollust dienen/

du wärst mein Venus-Bild/ und er wär unser Knecht.

Ich lachte aller Plag/ die mein Gemüt berührte/

wann ich bey dir/ mein Kind/ nur Trost zu hoffen hätt:

Ich scherzte/ wann das Glück mich auf die Spitzen führte/

dein Brust wär meine Lust/ dein Arm mein Schwahnen-Bett.

Es ist schon Mitternacht/ da ich dir hab geschrieben;

mein Nachbar steht schon auf/ eh ich zu Bette geh:

diß macht/ daß ich von Furcht und Hoffnung bin getrieben/

und nicht/ wie er vergnügt/ in süsser Ruhe steh.

Doch will ich auch einmal nach Schlaf und Ruhe streben/

von Liebe/ Sorge/ Furcht und Wachen abgematt.

Vielleicht wird mir ein Traum bald zu erkennen geben/

was etwan meine Lieb von dir zu hoffen hat.




Fünftes Beispiel: Entwertung mythologischen Materials durch Komik



Das übernächste Gedicht der Sammlung könnte ganz gut im Sinne des obigen Wunsches eine Fortsetzung sein:


Ein Traum eines ohne Hoffnung lebenden Liebhabers.


Es war nunmehr an dem/ daß Phöbus höchst vergnüget

von seiner Thetis ging/ und ihre Kammer ließ/

allwo ihm [!] ihre Lieb in nasser Schos gewieget/

biß die Aurora kam/ und ihre Rosen wieß;

die Thetis grämte sich/den zarten Freund zu lassen/

Aurora riß ihn fast aus ihren Armen loß/

Apollo muste fort und seine Ziegel fassen/

als Thetis ganze Flüß der Threnen von sich goß.

Ich Armer lag allein auf meinem Wehmuts-Bette/

wo keine Thetis war/ die mich vergnügen kundt/

auch keine Cynthie besuchte diese Stätte/

hier war kein Schwahnen-Schos und auch kein Rosen-Mund.

Doch spielt ich/ wie ich pfleg/ mit vielerley Gedanken/

mein Geist flog/ wie ein Bien/ so manche Blum vorbei/

ihn hielte keine Furcht/ auch keiner Satzung Schranken/

er suchte/ wo er glaubt/ daß süsses Honig sey.

Hier/ sagt er/ gibt es zwar die angenehmste Beuten/

und meine Sylvie steckt voller Süssigkeit;

doch dieser Honigseim ist vor mich nicht bescheiden/

weil mir mein Unglück nur betrübten Wermut streut.

Darf meine Armut dann ihr Reichthum nicht ersetzen/

und dient ihr Uberfluß vor meinem[!] Mangel nicht;

darf mich das Paradieß der Liebe nicht ergötzen/

ist Eden mir verwehrt/ wo Adam Aepfel bricht?

Bin ich dann ausgebant vom süssen Land der Liebe?

Soll meine Lebens-Zeit betrübt und elend seyn?

Wird mir zur Folterbank der Liebe sanfter Triebe/

und kehrt die Hoffnung nie in meinen Grenzen ein?

Die Morgenröth verweilt; kein Tag will mich ergötzen/

der Abend ruckt indeß mit kaltem Alter an/

es will auch keine Nacht des Tages Last ersetzen/

es quält mich immerzu/ was ich nie haben kan.

So sagt ich und entschlief. Morpheus ließ sich erbarmen/

dieweil er meine Wort und Seufzen angehört/

und sprach in seiner Sprach: Dieweil dann diesem Armen

bey Tag und auch bey Nacht ist keine Ruh beschehrt/

so soll die Demmrung doch ihm ietzt zu statten kommen;

ich will durch einen Traum/ der nicht kan süsser seyn/

diß alles/ was das Glück mit Unrecht hat genommen/

ihm liefern ungesäumt zu treuen Händen ein.

Mach deine Arme auf/ du armer/ und umfasse/

rief er mir eilend zu/ beherzige dein Glück

in deiner Sylvia, die ich dir überlasse/

und ohne Eifersucht in Schos und Arme schick.

Drauf war ich ganz entzückt von ungewohnten Freuden/

es saß die Sylvie verliebt auf meiner Schos;

Sie sprach: es ist erlaubt/ nun will ich alles leiden/

nimm hin/ was Paris einst von Helena genoß.

Hier wallte mein Geblüt/ und es kan niemand glauben/

wie wol mir damal war/ wie süß und angenehm.

Ich sprach: nun soll kein Mensch mir meine Beute rauben/

wann auch ein Hercules mit hundert Keulen käm.

Allein ich hatte kaum im Traum den Wunsch erreichet/

da ein verfluchter Knecht mit ungestümmen Lauf

mir sagt: der Zeiger hat die sechste Stund bezeiget;

da hörte Sylvia, Traum/ Glück/ und alles auf.



Sechstes Beispiel: Eine Sprache für das Theater?



Der zweite Teil des Sammelbandes enthält eine vollständige Übersetzung der Tragödie "Cinna". FÜRER gibt ihr den Untertitel "Die Gütigkeit Augusti in einem Trauer-Spiel vorgestellt durch P.Corneille, und aus dem Französischen ins Hoch-Teutsche übersetzt." Daraus wähle ich als Probe den zweiten Auftritt des fünften Aktes, worin die Knoten der Handlung sich allmählich lösen und, ganz gegen klassische Tragödientheorie, eine Aufwärts-Katastrophe, ein Glückswechsel zum guten Ende, angebahnt wird. Da der deutsche Leser in den seltensten Fällen Gelegenheit findet, sich mit dem französischen Original zu befassen, findet er es den zitierten Versen der Übersetzung gegenübergestellt; was allerdings den Zusammenhang der Handlung angeht, so verweise ich der Einfachheit halber auf MOZARTs Oper "Titus", die man schon eher kennt hierzulande. METASTASIO und sein Bearbeiter haben im Opernlibretto zu "La Clemenza di Tito" eine sehr ähnliche Verwicklung dargestellt.


Augustus, Livia, Cinna, Æmilia, Fulvia.


Liv. Mein Herz/ ihr wißt noch nicht/ es suchet eur Verderben

auch die Aemilia/ und ist mit Haß entzündt.


[LIVIE

Vous ne connaissez pas encore tous les complices:

Votre Œmilie en est, Seigneur, et la voici.]


Cinna. Ihr Götter sie kommt selbst!

Aug. Und du dann auch/ mein Kind!


[CINNA

C'est elle-même, ô Dieux!


AUGUSTE

Et toi, ma fille, aussi!]


Æmil. Ja/ was er hat gethan/ that er mich zu vergnügen/

ich selbsten war der Lohn von eurem Unterliegen.


[ŒMILIE

Oui, tous ce qu'il a fait, il l'a fait pour me plaire,

Et j'en étais, Seigneur, la cause et le salaire.]


Aug. So hat die Lieb/ die heut durch mich den Anfang macht/

dich in so kurzer Zeit schon also weit gebracht/

daß du willst ihm zu lieb aufopfern Leib und Leben?

Du liebst den Liebsten sehr/ den ich dir hab gegeben.



[AUGUSTE

Quoi? l'amour qu'en ton c ur j'ai fait naître aujourd'hui

T'emporte-t-il déjà jusqu'à mourir pour lui?

Ton âme à ces transports un peu trop s'abandonne,

Et c'est trop tôt aimer l'amant que je te donne.]


Æmil. Die Liebe/ die mich treibt/ kommt nicht so ungefehr

von einem Wort von euch und eurer Ordnung her.

Wir haben allbereit/ ohn euch und eur Verlangen/

fast bey vier Jahren her/ zu lieben angefangen;

und obgleich unsre Lieb die Herzen stark bewegt/

so war uns doch der Haß weit tieffer eingepregt.

Ich hab ihm meine Treu nur mit Beding versprochen/

wann er zuvor an euch des Vatters Tod gerochen:

Er schwur mir dieses zu/ und suchte seine Freund;

der Himmel hindert uns/ und ist dem Vorschlag feind.

Drum komm ich/ und will mich euch selbst zum Opffer geben/

nicht daß ich Cinna will erhalten bey dem Leben/

sein Tod ist ganz gerecht nach dieser seiner That/

dann der wird nicht verschont/ der sich verschworen hat

zu einem Keisers-Mord. Wer Könige will stürzen/

dem darf man auch mit Recht den Lebens-Faden kürzen.

Drumb such ich keine Gnad. Ich möchte nur allein

bald sterben/ und mit ihm bey meinem Vatter sein.


[ŒMILIE

Cet amour qui m'expose à vos ressentiments

N'est point le prompt effet de vos commandements;

Ces flammes dans nos c urs sans votre ordre étaient nées,

Et ce sont des secrets de plus de quatre années;

Mais quoique je l'aimasse et qu'il brûlât pour moi,

Une haine plus forte à tous deux fit la loi;

Je ne voulus jamais lui donner d'espérance,

Qu'il ne m'eût de mon père assuré la vengeance;

Je la lui fit jurer; il chercha des amis:

Le ciel rompt le succès que je m'étais promis,

Et je vous viens, Seigneur, offrir une victime,

Non pour sauver sa vie en me chargeant du crime:

Son trépas est trop juste après son attentat,

Et toute excuse est vaine en un crime d'Etat:

Mourir en sa presence, et rejoindre mon père,

C'est tout ce qui m'amène, et tout ce que j'espère.]


Aug. Ihr Himmel/ hat noch nicht eur Zorn ein End genommen/

soll dann mein Unglück stets aus meinem Hause kommen:

Die Julia hab ich als unkeusch weggebannt/

und setzt Æemilien aus Lieb in ihren Stand.

Doch seh' ich/ daß auch die mit Untreu ist umgeben;

die eine raubt die Ehr/ die andre raubt mein Leben;

die erste tödt mich fast durch ihrer Geilheit-Sinn/

und diese andre wird gar meine Mörderin.

Muß dann August allein nur darum Vatter heißen/

daß man vor seine Treu ihm Untreu sollt' erweisen?

Ach Tochter/ ist dann diß vor meine Lieb der Lohn!



[AUGUSTE

Jusques à grand, ô ciel, et par quelle raison

Prendrez-vous contre moi des traits de ma maison?

Pour ses débordements j'en ai chassé Julie;

Mon amour en sa place a fait choix d'Ömilie,

Et je la vois comme elle indigne que ce rang.

L'une m'ôtait l'honneur, l'autre a soif de mon sang;

Et prenant toutes deux leur passion pour guide,

L'une fut impudique, et l'autre est parricide.

O ma fille! Est-ce là le prix de mes bienfaits?]


Æmil. Mein Vatter trug von euch einst gleichen Lohn davon.



[ŒMILIE

Ceux de mon père en vous firent mêmes effets.]


Aug. Gedenk zu was vor Sorg mich deine Zucht bewogen.


[AUGUSTE

Songe avec quel amour j'élevai ta jeunesse.]


Æmil. Mein Vatter hat euch einst mit gleicher Sorg erzogen.

Er war eur Vormund-Freund/ und ihr sein Henkers-Knecht/

was euch einst billich war/ ist mir anjetzo recht.

Es hat mir eure Hand den Undanks-Weg gezeiget/

drum schändt nicht meine That/ weil sie der euren gleichet:

da diß den Unterschied noch bey uns beeden macht/

daß ihr aus Hochmuht[sic] nur den Vatter umgebracht;

ich aber wollt eur Blut/ durch rechte Rach getrieben/

der Unschuld opffern auf/ die ihr habt aufgerieben.


[ŒMILIE

Il éleva la vôtre avec même tendresse;

Il fut votre tuteur, et vous son assassin;

Et vous m'avez au crime enseigné la chemin:

Le mien avec le vôtre en ce point seul diffère,

Que votre ambition s'est immolé mon père,

Et qu'un juste courroux, dont je me sens brûler,

A son sang innocent voulait vous immoler.]


Freilich, für 'tuteur', 'assassin' und 'immoler' standen keine ebenso gehobenen deutschen Wörter zur Verfügung; und wer denkt, statt 'Hochmut' hätte 'Ehrgeiz' als Übersetzung von 'ambition' besser gepaßt, täuscht sich über den viel stärkeren Unterton von unbeherrschtem Laster, der dem Wort damals noch anhing, und der wohl zu Augustus nicht gepaßt hätte. ('Geiz' hieß eine 'Gier' nach dem Besitz hoch bewerteter Dinge. Es hatte noch nicht eindeutig mit Geld und Bewahren-Wollen zu tun, deshalb mußte man damals auch ausdrücklich 'Geldgeiz' sagen, wenn man das meinte.) Wir sehen aber schon, daß es FÜRER gelungen ist, eine angemessene Übersetzung zu liefern, die der Vorlage Zeile für Zeile folgt — bei gereimten Texten ist schon das eine beachtliche Leistung — und die sogar gut zu sprechen ist. Um Cinna bei uns einzubürgern, fehlte es eigentlich nur an der Propaganda. Dem Stück fehlte es zwar für deutsche Verhältnisse außerdem noch an Zeitbezug, während CORNEILLE um 1640 auf ein Komplott gegen RICHELIEU bzw. auf eine Volkserhebung in der Normandie anspielen konnte. Aber welches Theaterstück aus der großen Epoche der französischen Literatur, das diesem vorgezogen wurde, hatte hierzulande unmittelbaren Zeitbezug? Oder hatte einen solchen nötig?




Siebtes Beispiel: Poetische Rollenverteilung überspielt Gegensätze



Wer bisher CHRISTOPH VON FÜRER als einen im Grunde voraufklärerischen, protestantischen Autor gesehen hat, kann daran beinah irre werden, wenn er seine letzte Sammelveröffentlichung ansieht:


Pomona, Oder Aufgesammlete Früchte der Einsamkeit, von verschiedenen Poëtischen/ Teutschen auch andern Gedanken und Erfindungen. Nürnberg/ zufinden bey Johann Friederich Rüdiger. Gedruckt bey Lorenz Bieling/ 1726.

Der doppelseitige Titelkupfer zeigt im Vordergrund eine etwas geschönte, zu einem Halbrund veränderte Arkadenstellung beim Rockenbrunn, darüber im Hintergrund rechts den Moritzberg mit Kapelle, im Mittelgrund links das Schloß Haimendorf, dahinter Lauf, und ganz weit entfernt, kaum noch erkennbar, Nürnberg. So vollständig war der Umkreis, in dem diese Schriften entstanden sind, in den vorigen Büchern noch nicht abgesteckt.


Aber sehen wir uns das einleitende Scherz-Gespräch zwischen Vesta/ Flora und Pomona näher an. Vesta, die dem Himmel geweihte, beklagt sich unter anderem über die (nicht mehr ganz neue) Lehre, daß die Erde sich um die Sonne drehe:


Philosophia wird zu schanden,

weil sich die Welt selbst ändern kan.

Die Erde macht sich auf die Bahn,

die etlich Tausend Jahr gestanden;

da Phoebus still dargegen steht,

und nicht, wie sonst, spazieren geht.


Auch die Göttin der Heilkunde findet sie neuerdings befremdlich:


Hygeia macht es etwas besser;

doch ändert dis verwegne Weib

bißweilen gar des Menschen Leib;

sie nimmt an statt des Schwerds das Messer,

und löst damit der Rätzel Hauf,

wie Alexander Knoten, auf.


Das Blut muß jetzo circuliren,

so doch vor diesem anderst war;

Stieg einst Galenus aus der Bahr,

wie sollte der nicht admiriren,

daß, wie der Ledae Söhn', auch er,

aus einem Ey geboren wär!


Die dem Irdischen nicht abgeneigte Flora verteidigt dagegen alles Neue, ob es sich nun um wissenschaftliche Errungenschaften oder das Alamode-Wesen handelt:


Ja! Vesta, ich muß zwar bekennen,

die Welt ist voller Eitelkeit;

doch bin ich darum nicht bereit,

mich völlig von ihr abzutrennen:

dann sie ist ein Comödi-Haus,

und sieht bunt, unvergleichlich aus.


Schon hier könnte der Leser mißtrauisch werden, ob er der Flora noch ein einziges Wörtlein glauben soll. Es sieht zunächst nicht danach aus, als habe FÜRER auf seine alten Tage das Theater noch so wert geschätzt, daß er im Ernst die guten Seiten der Welt damit verglichen haben wollte. GOETHE, der sich doch weit enger mit dem Theater verbunden hatte, läßt einen der Pädagogen in Wilhelm Meisters Wanderjahren seltsam kalt über die Bühne urteilen, und man ist darauf gefaßt, daß würdige ältere Herren der früheren Zeiten dafür nicht mehr viel übrig haben konnten, wollten sie nicht aus der Rolle fallen. Flora aber fährt munter fort:


Mir scheint, du habest heut gelesen

ein Stuck aus dem Misanthropo,

und aus dem Spötter Boileau

die mit der Welt im Krieg gewesen;

weil sich der Welt-Kopf, wie er sollt,

nach ihrem Kopf nicht richten wollt.


Der Ausdruck 'Weltkopf' trägt zwar kein philosophisches Gewicht, das annähernd an HEGELs 'Weltgeist' herankäme, aber er verallgemeinert die herrschenden Anschauungen, ohne daß man dargestellt findet, wie sie sich bilden. Sie sind einfach da und scheinen nicht beeinflußbar. So sieht es jemand, der nicht gewohnt ist, sich auseinanderzusetzen, sondern von anderen Unterwerfung unter seine vermeintlich ewig gültigen Ansichten verlangt. Es ist für Floras Rolle bezeichnend, daß sie diese Haltung als charakterkomischen Typ auf der Bühne oder in der Satire verkörpert findet. In diesen Medien wurde auch zuerst so etwas wie öffentliche Meinungsbildung versucht. Man schrieb dagegen an, daß sich die Angehörigen alter Bildungsschichten gegen Neues abkapselten, ohne sich mit dem Urteilen viel Mühe zu machen; sich von Vorurteilen beherrschen zu lassen und andere dadurch zu beherrschen, ist aber ein Hauptvorwurf der Aufklärer an die Bewahrer der Tradition. Flora ist gar nicht so oberflächlich, wie es erst schien, wenn sie kenntnisreich weiterargumentiert:


Sophia pflegt sich zwar zu ändern;

jedoch zu ihrer Besserung.

Man fehlt offt wann man ist noch jung,

und bessert sich mit den Calendern.

Dann wer den Circul recht versteht,

sieht leichtlich, daß die Erde geht.


Je weiter eines Circuls Kreise

von diesem Punkt entfernet sind,

der in dem Mittel sich befind,

je grösser werden dessen Gleise.

Jezt meß den Weg der Sonn zur Erd,

und denk wie groß der Circul werd.


Meß' auch das grosse Sonn-Gerüste,

und rechne nach mit was für Grund,

in Zeit von vier und zwanzig Stund,

der grosse Cörper lauffen müste;

und ob es leichter nicht gescheh,

daß sich die Erde nur verdreh?


Das heißt doch nichts anderes als: Die neue Philosophie ist zunächst einmal darum besser, weil sie mehr Zeit gehabt hat, sich herauszubilden — der Glaube an einen geradlinigen, unumkehrbaren Fortschritt ist die Bedingung für diese Aussage! FÜRER hatte in Paris Gelegenheit gehabt mitzuerleben, welche Kreise die "Quérelle des Anciens et des Modernes" seit 1683 zog; Flora läßt er die Partei der letzteren ergreifen. Sie tut das am Beispiel des Planetensystems mit mathematischen und physikalischen Argumenten. NEWTONs neue Lehre von der Gravitation liefert allerdings mittelbar eine Begründung, die KOPERNIKUS und KEPLER noch nicht geläufig war, wenn sie auffordert, die beteiligten Massen in Betracht zu ziehen.


Insofern ist die Darstellung auf neuestem Stand; sie ist das aber nicht in sprachlicher Hinsicht, denn FÜRERs Zeitgenosse, der Philosoph CHRISTIAN WOLFF, ging in diesen Jahren daran, die aus dem Lateinischen stammenden Ausdrücke 'Circul', 'Linie' und dergleichen durch 'Kreis', 'Gerade' und so fort zu ersetzen.

Immerhin bedient sich FÜRERs Flora eines logischen Lieblings-Hilfsmittels der Aufklärer: des Satzes vom zureichenden Grund: "[...] mit was für Grund [...] der grosse Cörper lauffen müste". Hernach nimmt sie ihre Gründe zugunsten der neuen Medizin wieder aus der Anschauung, die das Theater vor die Sinne stellt:


Wann ein gesunder Molière

die edle Medicin veracht;

so macht er, daß man mit ihm lacht;

doch der malad' imaginaire

zeigt allen Spöttern deutlich an,

wie bald man sich versünden kan.


Bekanntlich war Molière in der Rolle des eingebildeten Kranken an seiner echten Schwindsucht gestorben.


Wem sollt die Poësie belieben?

die dir und mir so sehr beliebt,

und stetig etwas Neues giebt.

Wann sie beym Alten wär geblieben,

Hanns Sachs gieng allen Sachsen vor,

und Lobesan wär noch im Flor.


Eine treue Nürnbergerin scheint diese Flora nicht zu sein, wenn sie den Vorrang der neuen sächsischen Dichterschule vor dem guten alten Schusterpoeten noch eigens hervorhebt. Sie übernimmt damit eigentlich die Redensarten der Auswärtigen von GRYPHIUS bis THOMASIUS und weiter; erst der junge GOETHE, der die alten Volksbücher liebte, verbannte alle in den Froschpfuhl, die ihren Meister je verkannt hatten. Gehörte auch FÜRER zu jenen, stand er gänzlich hinter seiner Flora?


Wir selbsten bleiben nicht beym Alten,

zumal in diesem Scherz-Gedicht;

wir fürchten uns der Sünde nicht,

auch fremde Wörter einzuschalten;

Französisch, Griechisch und Latein,

muß Salz auf unsre Suppe seyn.


Hier verliert Flora in unseren Augen jede Glaubwürdigkeit: Das konnte doch der Präses des Blumenordens nicht selbst meinen! Flora spielt den Anwalt der Gegenseite. Oder? Schließlich fallen einem in manchen Schriften FÜRERs gewisse Fremdwörter auf, wenn auch nicht in so unbekümmert großer Zahl. Und dies soll ja ein "Scherzgedicht" sein, also gehört wohl etwas Selbstironie dazu. Wie steht es aber mit Floras aufklärerischen Tendenzen, über deren Gedankengänge sich FÜRER wohlunterrichtet zeigt? Wir müssen den Schiedsspruch der Pomona abwarten, um der wahren Meinung des Verfassers näherzukommen. Nachdem Pomona, also die Titelallegorie, ihre sittsame Schwester Vesta aufgefordert hat, sich lieber um ihre Stickerei zu kümmern, und Flora ein wenig zurechtgewiesen hat, vermittelt sie zwischen den beiden, indem sie weltanschauliche Unterschiede als Generationenkonflikt relativiert:


Es fordern allzeit andre Zeiten,

auch andre Sitten in der Welt;

was offt der Jugend wol gefällt,

diß mag das Alter nicht mehr leiden.

Drum hat der alles recht gefügt,

der nutzt und auch zugleich vergnügt.


Daß nur niemand vermutet, derjenige, der alles recht gefügt hat, sei der Schöpfer! FÜRER macht in einer Fußnote klar, daß er damit die poetologische Empfehlung des HORAZ "omne tulit punctum qui miscuit utile dulci" übersetzt. Dem Dichter wird zur Aufgabe gemacht, sowohl die Floren zu erfreuen als auch den Vestalinnen moralischen Nutzen zu bieten. Das bedeutet, daß neue Erkenntnisse und Moden als erfreuliche Abwechslung durchaus Gegenstände der Dichtung sein dürften, dabei aber die unveränderliche christliche Lehre von der Sorge um die ewige Seligkeit nicht außer Betracht gesetzt werden dürfe.


Leicht wird ein solcher Vorsatz um 1730 nicht mehr zu verwirklichen gewesen sein. Die dichterischen Gattungen fielen immer weiter auseinander in erbauliche und kühn mit ungelösten Fragen befaßte. Lehren wollte die neuere Dichtung auch, aber kaum noch auf eine Weise, die den Schriftsteller zum dilettierenden Theologen ohne Amt gemacht hätte. Was die Grundlage neuer, weltlicher Klugheit bildete, war FÜRER, wie wir gesehen haben, nicht unbekannt. Ist es ihm gelungen, durch dichterische Mittel beiden Seiten gerecht zu werden? Pomona scheint vorauszusehen, daß sie mit ihrer Art wenig Gefolgschaft und Öffentlichkeit findet:


Sollt aber jemand nicht verlangen,

diß, was ich theils zum Haus-gebrauch,

und dann vor gute Freunde auch,

in meinem Garten aufgefangen;

der denke, daß Pomonen Freud

besteh auch in der Einsamkeit.


Darin zeigt sich bis auf einen gewissen Grad epikuräische Überlieferung: man zieht sich aus dem städtischen Treiben auf sein Landgut zurück, unterhält Freundschaft und strebt nach heiterem Gleichmut; bis auf die Pflege freundschaftlicher Beziehungen und die Heiterkeit hätte es FÜRER auch ähnlich gesehen, einem christlichen Stoizismus das Wort zu reden, der nach irdischen Dingen überhaupt nichts mehr fragt. Jedenfalls ist die Einsamkeit nicht nur daraus abzuleiten, daß er mit seinen Ansichten und seinen Dichtungen je länger je einsamer geblieben wäre. Aber zu den Bahnbrechern der weiterführenden Entwicklung hat er sich einsichtsvoll nicht gezählt, obwohl er ja gewußt hat, daß die Dichtung nicht einfach nach bewährten Mustern betrieben werden könne. Er dichtete in Pomona wohl nur noch für sich und seinen exklusiven Kreis und ließ sich, wie wir wissen, lange zur Veröffentlichung drängen.


In diesem Buch machen Huldigungsgedichte einen großen Teil aus. Sie sind an alle möglichen Habsburger gerichtet, auch an den Prinzen EUGEN, bemerkenswerterweise auch an den neuen "König in Preußen" und dessen Ansbacher Verbindungen. (FÜRER war Politiker, und Nürnbergs Politik war seit eineinhalb Jahrhunderten ein Seiltanz zwischen Katholiken und Protestanten, dem Kaiser, Fürsten und anderen Reichsständen gewesen.)


Eine Gattung von Gedichten, die man wenig später nicht mehr schrieb, besteht in Beschreibungen von Gedenkmünzen. Desgleichen finden sich Aufschriften, Devisen (deutsch und lateinisch), und mehrere geistliche Gedichte und Abhandlungen. Alles sehr gelehrt, mit einer Fülle von Fußnoten, die Parallelstellen antiker Dichter anführen, ungemein wohl konstruiert und – nach heutigem, damals aber schon sich ankündigendem Verständnis — leer von Poesie. Und damit nimmt meine Betrachtung des bedeutendsten Pegnesen seiner Zeit ein betrübtes Ende.




MUNZ: Literarisches Rokoko

Freilich bestand die Pegnesendichtung der fraglichen Zeitspanne nicht allein aus Werken CHRISTOPH FÜRERs. Die Werke JOHANN FRIEDRICH RIEDERERs, eines zweifellos bemerkenswerten Mannes, schienen mir jedoch nicht typisch für Nürnberg und die Zielsetzung des Ordens — man kann genausogut HUNOLDs oder HENRICIs "galante" Drechseleien bzw. Unverschämtheiten lesen. Mir blieb, um breiteren Überblick zu erhalten und vielleicht auch die vierte Generation der Pegnesen in den Blick zu bekommen, nur die Sammlung "Poesie der Franken", in der sich nach HERDEGENs Auskunft Texte von Mitgliedern finden sollen. Erschwert wird die Zuschreibung allerdings dadurch, daß von den Namen der einzelnen Verfasser nur die Anfangsbuchstaben aufgeführt sind.

GEORG LUDWIG OEDER war kein Pegnese und überdies in Ansbachischen Diensten. Als er aber 1730 im Verlag Peter Conrad Monath zu Frankfurt und Leipzig eine "Erste Sammlung" mit dem Titel "Poesie der Franken" erscheinen ließ, äußerte er Hoffnungen in der Vorrede, die dem Gedankengut des Ordens nahestanden. Er wollte das Vorurteil vom "altfränkischen Wesen" bekämpfen, indem er in Bezug auf Sprachpflege und Versifikation zeigte, wozu Dichter hierzulande imstande seien; sogar die Hoffnung auf einen fränkischen Beitrag zu einem deutschen Wörterbuch hatte er noch.

Kühn war er, das muß man ihm lassen: Das Buch enthält Beiträge von nur drei verschiedenen Autoren, die sich wohl zu Vorreitern der Sache machten, um andere nachzuziehen, einschließlich OEDER selbst. Sie wurden aber nur mit Anfangsbuchstaben genannt, wahrscheinlich, damit die personelle Armut nicht gleich auf den ersten Blick zutage träte. Einer der Autoren ist G.C.M., und im Hinblick auf die in seinen Gedichten auftretenden Bezugnahmen auf Nürnberg und einen Hinweis bei AMARANTES ist es leicht zu erraten, daß sich dahinter GEORG CHRISTOPH MUNZ verbirgt, genannt PHILODECTES. Er war 1691 in Nürnberg geboren, wurde 1719 Frühprediger an der Walburgiskapelle, 1720 in den Orden aufgenommen, 1722 Konrektor an der Spitalschule, 1731 Rektor am Egidiengymnasium, 1737 nach Saalfeld als Rektor berufen und 1740 noch Pfarrer in Markt Gölitz. Auch nur so ein Theologe?


Erstes Beispiel: Bürgertugend im Gedicht für einen Patrizier

Auf Seite 29 der Oederschen Sammlung beginnt sein "Ehrengedicht an Herrn Gustav Georg Tetzel von Kirchensittenbach, zu Vorra und Artelshofen, etc. Ihro Römisch-Kayserlichen Majestät würklichen Rath, und des ältern geheimen Raths der Stadt Nürnberg etc." Es enthält die bemerkenswerten Zeilen:

Die Tugend nimmt an sich, wie Marmor, keine Schminken,

Und kan sich damit schon beglückt und herrlich dünken,

Daß zum gemeinen Wol ihr Wolthun Nutzen schafft,

Wie Ströme, die getrost aus ihren schönsten Höhen,

Dem Land, nicht sich, zu gut, durch stille Thäler gehen.


Hier finden sich auf engem Raum die wesentlichen Leitbegriffe der bürgerlichen Aufklärungsphase, in der neue Schichten über akademische Qualifikationen nach Besitz strebten, in ihrem Streben nach Durchlässigkeit der Standesschranken moralische Argumente gegen eine Einordnung gemäß dem Rang der Geburt gebrauchten und sich mit den bisher verachteten und beschränkten kleinen Gewerbetreibenden zusammentaten, um statt des Reichtums die Kreditwürdigkeit, statt des Geizes die Investitionsbereitschaft, statt der Repräsentation die Produktivität auf ihre Fahnen zu schreiben und alle Welt danach zu messen: 'Tugend', 'Gemeinwohl', 'Wohltätigkeit' (im Sinne von Anregung der Wirtschaft), 'Nutzen', und – im Bild — Entäußerung der adligen Vorrechte, Abkehr von einem Leben des müßigen Genusses zugunsten der Arbeit für das Land. Es kann gut sein, daß Herr TETZEL ein altnürnbergisch guter Haushalter war und patriarchalisches Wohltun übte. Indem man ihm in diesen Worten schmeichelte und ihn dadurch in die Pflicht nahm, ein Citoyen zu werden, untergrub man allerdings die geistigen und politischen Grundlagen seines Daseins. Ob er es geahnt hat? Ob es MUNZ gemerkt oder gar beabsichtigt hat?

Immerhin muß man für eines seiner Hauptwerke einen Rednerwettstreit betont weltabgewandten Inhalts ansehen: "Die in den Leiden JESU geoffenbarte Liebe. In einem Teutschen Redner-Auftritt gezeiget von Georg Christoph Munzen/ Nürnberg, gedruckt mit Felßeckerschen Schrifften, An. 1735." Es handelt sich um "oratorische Passions-Übungen", in denen Schüler des Egidiengymnasiums von ihrem Rektor Texte vorzutragen bekamen, die teils Streitgespräche in Prosa, teils längere Reden, teils Oden und teils tatsächlich musizierte Kantaten waren, immer schön abwechselnd. Die Aufführung, deren erbauliche Wirkungsabsicht, Länge und Vielgestaltigkeit vielleicht auf die Form der von KLAJ und BIRKEN in Nürnberg eingeführten Rede-Oratorien zurückgeht — näheres mögen zünftige Barockforscher untersuchen — beschäftigte eine ganze Reihe von jungen Herrschaften, deren Familiennamen später bei anderen Personen im Blumenorden wieder auftauchen. So hatte u.a. ein JOHANN PHILIPP DIETELMAIR zu untersuchen, "ob die etwas freyen Poeten mögen entschuldigt werden" — natürlich konnten in einer Passionsübung die "Galanten" mit ihren zuckrigen Zoten nicht entschuldigt werden!


Zweites Beispiel: Schlichtere Pastoraldichtung



Am Anfang einer poetischen Gratulation Als Tit. Herr Johann Friedrich Pömer, Das Pfleg-Amt Herspruck antrat. findet sich folgende Darstellung:


Pegnesis schlief vergnügt an ihrem gelben Strand.

Das Lager war mit Moos, das Haupt mit Schilf bedecket,

Sie aber hatte Mohn und Palmen in der Hand,

Und ruhte, bis sie schnell ein Jubel-Schall erwecket.

Verarget (fieng sie an, da kaum ihr Angesicht,

So noch voll Schlummer war, sich etwas ausgekläret),

Verarget, die ihr sonst nichts als mein Wol begehret,

doch meinem sichern Aug die süsse Ruhe nicht.

Ihr kennt die Sorge wol, die mich so sorglos machet:

Ich schlaffe, weil für mich die edle Noris wachet.

Jetzt aber tringt ein Ton zu meinen Ohren ein,

Der mich ganz munter macht, und spricht von sondern Freuden.

Es liegt um meine Stirn ein angenehmer Schein,

Daß keine Wolke darf sich um mein Auge breiten.

Ihr Berge, saget mir, was macht euch so erfreut?

Kan euer steiler Fels der Menschen Lust empfinden?

Und warum eilet ihr, ihr Ströme, aus den Gründen,

Die ihr so lang benetzt, mit solcher Hurtigkeit?

Mich dünkt, ihr dränget euch, und wandert zu den Auen,

Um Pömers hohes Glück in voller Blüh zu schauen. [...]


Oft und oft haben die Pegnesen ihrem namengebenden Fluß Gedichte gewidmet oder die Pegnesis auftreten lassen, doch MUNZ gelingt dabei ein neuer Ton. Nicht die beschwingten Dreierrhythmen der ersten Generation, nicht gesuchte Bilder und mit ungewöhnlichen Wörtern und Reimen ausgezierte Naturbeschreibungen gibt er, sondern schlichte, scheinbar ungekünstelte Aussagen, die für uns besser zum pastoralen Kostüm passen. Nur die geradezu an LESSING erinnernde Unterbrechung und schwungvolle Wiederaufnahme der Rede bei "verarget" zeigen, daß MUNZ seine Rhetorik gelernt hat. Ansonsten entsteht vor dem inneren Auge ein Bild wie von pastellfarbigen Fresken eines Gartenpavillons anstatt der heroischen oder elegischen Landschaften von POUSSIN oder SCHÖNFELD. Kurz: Das literarische Rokoko ist in Nürnberg angekommen.



Drittes Beispiel: Psychologisch gebändigte Rhetorik



Man erwartet eigentlich nicht, in Gelegenheitsgedichten zu Leichenbegängnissen besondere Proben dichterischen Talentes aufzufinden: Wenn man den Tod von Menschen zu betrauern hat, die einem selber nahegestanden sind, wäre Kunstfertigkeit schon fast unaufrichtig, und im andern Fall wird auf die Gefühle anderer Leute in einer Weise gezielt, die um so schamloser ist, je besser es gelingt. Aber eines von MUNZens Trauergedichten ergreift das Gemüt eben doch — gerade weil er das erwähnte Dilemma zum Ausgangspunkt nimmt und anständig durchführt, sodaß gefühltes und dargestelltes Leid ununterscheidbar werden. Dazu hatte er bloß die Worte in den Mund der Witwe zu legen. (Dieser perspektivische Kunstgriff war allerdings nicht neu und lag vom barocken Rollen-Gedicht her nahe. Schuber LXI a des Archivs enthält zum Beispiel ein Klag-Lied Der höchstbestürtzt- und bekümmerten Edlen Frau Wittib von 1669, das von FERRANDO I. stammt, JOHANN LUDWIG FABER.)


An MUNZens Gedicht ist beachtenswert, wie sich der madrigalische, aufgelöste Versbau den Seufzerfiguren der Rede anschmiegt: Je gewichtiger die Aussage oder herber das Leid, desto karger fallen die Worte aus:


Nach der Leich-Predigt. Klage der Frau Wittib.


Weicht, ihr beredten Tröster, hin,

Und lasst mich ganz allein.

Ein schmachtend, ein gebeugter Sinn

Mag lieber einsam sein.


Mein Ohr ist taub, euch anzuhören:

Und, wo ich selber reden will;

So stehen alle Triebe still,

Die mich sonst Wort und Antwort lehren.

Das Herze denkt, bey einem stillen Ach,

Nichts, als dem harten Schlusse nach,

Der ein so liebreich Band zerschneidet,

Und mich von meinem Pfinzing scheidet:

Und kan mithin, in solchem Unvermögen,

Den Nachdruck wol nicht überlegen,

Der eure Tröstungen erfüllt,

Sonst aber wol aus reinen Seelen quillt.

Dein treues Herz, o theurer Ehgemahl/

Hat sich so fest an mich verbunden,

Daß nunmehr meine Wunden,

Durch zugehäufte Qual,

Und, unter tausend Thränen-Güssen,

Nur desto stärker bluten müssen.

Wiewol ich irre, wenn ich glaube,

Daß sich bey Sarg und Grabe

Der Liebe Band zerschnitten habe.

Und etwan mehr, als das was sichtbar, raube.

Ich weis, du liebst mich noch jezund.

Und ich, indem ich mich betrübe,

Versiegle ja mit Thränen meine Liebe,

Die unzertrennlich ist,

Und da schon lebt, wo du verherrlicht bist.

[...]

Schöne Empfindungen unter weitgehender Vermeidung dessen, was man damals anfing 'Schwulst' zu nennen. Man vergleiche doch einmal damit den dick aufgetragenen Redeschmuck des FABERschen Gedichtes:


Schlagt den Marmel eurer Brüste!

Reisst die Netze eurer Haar!

Meiner Waisen arme Schaar/

Die Ich Kummer-Mutter küsste.

Lasst die Augen Threnen quellen!

(wo noch Threnen immer sind)

Windt die Hände! lasst sie schellen!

Weil uns aller Trost zerrinnt. [etc.]


Hier stehen schulmäßig zusammengestellte Gebärden des Pathos im Vordergrund; MUNZ dagegen versucht bereits, das Fehlen der Worte und die innere Bewegung zu ergreifender Wirkung zu bringen. MUNZ war in seinen besten Hervorbringungen ein fähiger Dichter auf der Höhe seiner Zeit und wohl ein noch besserer Seelsorger. Einen besseren Textdichter hat auch BACH nicht gehabt. Und so etwas wurde in Nürnberg nicht für Fürsten, sondern zu jedem derartigen Anlaß in Kreisen des gehobenen Bürgertums aufgeführt. Denn daß dies in Kantatenform Verfaßte auch gesungen wurde, liegt sehr nahe. Wie war wohl die Besetzung beschaffen, welche Musik erklang zu den Versen? Ist das alles verweht, und haben wir keine Möglichkeit mehr, dem Glanze Leipzigs und Hamburgs ein wenig Eigenes entgegenzusetzen? (Zum Beispiel wurde im Jahre 1737 eine Hochzeitskantate des 1690 geborenen Nürnberger Komponisten CHRISTOPH STOLZENBERG aufgeführt, anläßlich der Hochzeit des ADAM FRIEDRICH GLAFEY mit der Tochter des Altdorfer Juraprofessors RINK. Die Wiederaufführung war am 20. 5. 1990 zu hören, unter der Leitung von WOLFGANG RIEDELBAUCH.)



Viertes Beispiel: Ein Pfarrer verteidigt die Naturwissenschaft



Nach der Leichenfeier begeben wir uns in die Anatomie. Auch dazu fiel MUNZ etwas zeitgemäß Bedeutendes ein: Die vertheidigte Anatomie als Tit. Herr Christoph Jacob Treu, Medicinae Doctor, und Physicus ordinarius, auf dem Nürnbergischen Theatro Anatomico, A. 1728. einen männlichen Cörper zergliederte.


Übrigens war TREU der Sohn des Apothekers in Lauf, eines durch gelehrten Briefwechsel weithin bekannten Pharmazeuten, und selber war er auch bis ins Holländische bekannt. Sein Vater, sei der Kuriosität halber erwähnt, verfaßte 1680 eine Schrift zur Verteidigung des Laufer Bieres, das ins Gerede gekommen war, und die lebensmittelchemischen Untersuchungen dazu waren zum Teil von dem Nürnberger JOHANN GEORG VOLCKAMER vorgenommen worden. Dieser, von HARSDÖRFER unter dem Namen HELIANTHUS als zehntes Mitglied in den Orden aufgenommen, war ein bekannter Arzt, Botaniker und Astronom. Einer seiner Söhne wiederum, JOHANN CHRISTOPH VOLCKAMER, war der Verfasser des bekannten botanischen Werkes "Nürnbergische Hesperide" , erschienen 1708, worin er alle damals bekannten Zitrusfrüchte und die Gartenanlagen der Nürnberger Reichen, in denen sie gezogen wurden, beschreibt und abbildet. Mit diesen Hesperidengärten konnte und sollte der Irrhain natürlich nicht wetteifern. Aber man sieht schon, wie der Orden von Anfang an in die Kultur und die naturwissenschaftlichen Errungenschaften der Gelehrtenschicht Nürnbergs verwoben war. Darum stammt das folgende Gelegenheitsgedicht nicht nur zufällig von einem Pegnesen.


[...] Auch selbst die edle Kunst, da ein geschliffner Stahl

Durch todte Leichen tringt, und ein Gedächtnis-Mahl

Der allerhöchsten Macht in unsre Sinnen kerbet,

Hat mehr als einmal schon der gelbe Neid verfärbet

Und häßlich angeschwärzt. Man drohet aus dem Buch,

Das uns zum Himmel führt, bey nahe Bann und Fluch,

Und suchet uns dadurch des Fehls zu überführen,

Daß GOtt verbotten hat, die Todten zu berühren. [...]


Anscheinend hatte eine fundamentalistische, weniger gelehrte als zelotische Partei an Sektionen Anstoß genommen. Konnte es eine Gruppe aus dem Patriziat sein, die wieder einmal die Gelehrten etwas dämpfen wollte? Ich glaube eher, daß es im Interesse der städtischen Regierung war, die wohlweisen Einrichtungen auf dem Gebiet der Medizin zu verteidigen. Aber mit welchen Argumenten der Geistliche MUNZ darangeht, den tüchtigen Amtsarzt gegen die fromme Plebs in Schutz zu nehmen, verdient im Hinblick auf die Aufklärungsbewegung unsere Aufmerksamkeit.


Allein, was dazumal die erste Kirche that,

Geschah (wer zweifelt dran?) aus wolbedachtem Rath.

So schien es auch nicht Noth, bey ihren Wunder-Gaben,

Den Beytrag über diß von einer Kunst zu haben,

Die nunmehr nöthig ist, nachdem die sondre Krafft

Der Wunder aufgehört, und unsre Wissenschaft

Durch unermüdten Fleis, durch forschendes Bemühen,

Zum allgemeinen Nutz, fortfähret aufzublühen.

Und wisst ihr nicht, daß wir auf deren Schultern stehn,

Die vor uns sind gewest, und mithin weiter sehn,

Als jene nicht gedacht? Das Blat hat sich gekehret,

So, daß die spate Zeit uns eine Wahrheit lehret,

Die vorhin dunkel war. Wer hat sich nicht gescheut,

Was die erfahrne Welt mit vollem Halse schreyt,

Daß nemlich gegen uns, am andern Theil der Erden,

Die Menschen, so wie hier, bey uns, gefunden werden,

Nur träumend darzuthun? Doch ist es jetzund wahr,

Und, wie das Sonnen-Licht am Mittag, offenbar:

Mithin hat unsre Zeit noch vieles anzupreisen,

Das unsrer Vätter Spruch nicht allzeit gut geheisen. [...]


Hier ist ein ganzes System von Leitgedanken der Aufklärung beisammen. Geradezu triumphierend, eingekleidet in Lichtsymbolik, tritt der Fortschrittsglaube hervor, der bei FÜRER noch halb in Voraussetzungen versteckt und in der Defensive war. FÜRER wäre kaum so weit gegangen, die Zeit der Wunder ein für allemal als vorbeigegangen zu erklären. MUNZ geht freilich nicht so weit, die Wunder früherer Zeiten allein aus dem Aberglauben der früheren Menschen herzuleiten. (Dies blieb, in Deutschland, dem von LESSING verteidigten Hamburger Theologen REIMARUS vorbehalten.) Aber es bedeutet schon etwas, wenn ein Nürnberger Theologe das aus der "Quérelle" stammende Argument aufnimmt, die Neueren bräuchten keine Riesen zu sein, um die Alten zu übertreffen, weil sie auf deren Schultern stünden, und das Heil von der Naturwissenschaft erwartet. MUNZ scheint ein Deist zu sein, der Gott als Weltenbaumeister gelten läßt, ohne an seine fortwährende Einwirkung zu glauben. (Mußte er deswegen nach Saalfeld?) Außerdem steht er dem Kosmopolitismus nahe, wenn er keinen Unterschied zwischen den Menschen — als "Menschen an sich" — macht, auch im Hinblick auf die entlegensten Bewohner der Erde.


Auch so einer der Theologen im Orden, die nur Erbauliches schrieben? Mitnichten! Man sollte freilich die geistige Wandlung seit dem Ende des 17. Jahrhunderts noch nicht allzu groß veranschlagen. Auch der fromme BIRKEN, wenngleich kein Theologe, war zum Beispiel nicht mehr bereit gewesen, den Kometen von 1680 für einen göttlichen Aufruf zur Buße zu halten. Er nahm an genauen Beobachtungen und Vermessungen teil, die von BURGER-ASTERIO (auch gelegentlich von Professor STURM aus Altdorf) im Dezember jenes Jahres auf der eiskalten, zugigen Burg mit einem großen Sextanten ausgeführt wurden, und schloß aus den von mehreren Orten gelieferten Daten, daß "[...] alles ein lauteres, natürliches Werk" sei und "[...] ich dannenhero an meinem wenigen Orth, je länger je mehr zweifele, ob ein Comet, dieser UnterWelt etwas Böses bringen, oder bedeuten könne." In einem anderen Brief beruft er sich unter anderem dieser Auffassung wegen auf den neu-epikuräischen Atomisten GASSENDI! Die deutsche Aufklärung ist allerdings nicht von vorneherein kirchenfeindlich. Sie spielt sich unter der Anführung des verhinderten Theologen und selbstbewußten Philosophieprofessors CHRISTIAN WOLFF zunächst auf dem Gebiet der Theologie ab und wird von einer Fraktion der Theologen vorangetrieben, statt daß, wie in Frankreich, von vornherein atheistisch philosophiert würde. Die Pegnesen scheinen die Aufklärung also durchaus nicht verschlafen zu haben; man sollte sich die erbaulichen Schriften der übrigen Prediger im Orden also ruhig einmal ansehen, wenn man Nürnbergs Geistesgeschichte schreiben will.


Die Poesie ging freilich andere Wege, und sie hatte es auch nötig: Wenn man an keine Wunder mehr glaubt, erscheinen einem leicht die Erfindungen der Dichtung kindisch, dem zeitgemäßen Bewußtsein nicht angemessen. Einen Ausweg bietet die moralisierende Dichtung — aber deren ästhetischer Wert ist umstritten und jedenfalls als bloße Ausschmückung der Wahrheit eine Nebensache. Der andere Weg führt im Drama und im Roman zur Auseinandersetzung mit neuen, noch nicht geistig bewältigten, verstörenden Wirklichkeiten und in der Lyrik zu stärker unmittelbarem Ausdruck existentieller Grenzerfahrungen, also der Leidenschaften, vornehmlich der Liebe. Darum wohl kam es nie zu einem zweiten Band der Sammlung "Poesie der Franken": Die wohlgesetzten und wohl in der Mehrzahl geistlichen Mitarbeiter des ersten hatten die Einsender auf christliche Themen und Lobgedichte beschränken wollen. Kein einziges Liebesgedicht wolle man aufnehmen, schrieb OEDER in der Vorrede, und wies auf den weinenden Cupido mit dem zerbrochenen Bogen auf dem Titelkupfer hin. Genausogut hätten sie einen weinenden Apollo mit dick in fränkischen Flachs gewickelter Leier abbilden können.