Gottsched


„Gottsched, (Johann Christoph,) Professor der Logik, Metaphysik und Poesie zu Leipzig, war 1700 den 2ten Febr. zu Königsberg in Preussen gebohren, wo sein Vater Christoph, Prediger war. Er studierte von 1714 an zu Königsberg, widmete sich der Theologie, nebenher aber auch der Dichtkunst, und ward 1723 Magister, worauf er sich 1724 nach Leipzig begab, […]“ (Johann Christoph Adelung, Fortsetzung und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers allgemeinen Gelehrten-Lexico, Dritter Band, fortgesetzt von Heinrich Rotermund, Pastor an der Domkirche zu Bremen, Delmenhorst 1810.) Die ADB berichtet über seine Studien ergänzend: „[…] er studierte des Thomasius Sittenlehre und Naturrecht; Locke las er fleißig; […] die eigentliche Erleuchtung kam ihm erst, als er durch seinen Lehrer Rast […] zu den neuesten Wolffischen Schriften hingeführt ward.“ Dies ist einer der Belege für das Zusammenwirken einiger der von uns getrennt angeführten Aussagensysteme in Bezug auf die aufklärerische Theorie. Gottsched hatte daran nicht nur rezeptiv Anteil, sondern arbeitete an der Vereinheitlichung des Sprachgebrauchs. „Durch seine 'Weltweisheit', die in den Jahren 1733 und 1734 erschien, wurde das System der Wolffschen Philosophie, das sehr breit angelegt und daher bislang fast ausschließlich den Fachgelehrten zugänglich war, erst eigentlich breiteren Kreisen bekannt gemacht“. (s. Hans Friederici, Das deutsche bürgerliche Lustspiel der Frühaufklärung, Halle 1957, S.18 f.) Mir liegt von diesem Werk die fünfte Auflage von 1748 vor, aus einer Zeit, in der Gottscheds öffentliche Wirksamkeit den Höhepunkt noch nicht überschritten hatte, jedenfalls, was seine Bemühungen um eine deutsche Standard-Sprache betrifft.

Das fünfte Hauptstück des Praktischen Teils trägt den Titel: „Von den Pflichten im Absehen auf das Eigenthum.“

Gottsched hat erwartungsgemäß mit Wolffs aufklärerischer Philosophie auch gewisse Grundzüge des Sprachgebrauchs übernommen und, wie mir scheint, teilweise vereinfacht sowie ergänzt. In § 263 des vorliegenden Textes schreibt Gottsched geradezu Wolffs § 887 ab.

„Der Endzweck aller Eigentümer ist, daß es uns nicht an Mitteln fehlen möge, unsre eigne und andrer Leute Wohlfahrt zu befördern. […] Denn weil alle Handlungen eines Tugendhaften übereinstimmen müssen (28.§): so muß auch die Anwendung unsrer Güter, nicht die übrigen Vollkommenheiten, bey uns und bey andern hindern oder vermindern.“

Deutlicher als bei einem der Sätze aus Wolff wird hier der Zusammenhang von Handlungsschemata des Besitzens mit solchen hergestellt, die man aktualisiert, um sich selbst und anderen Menschen zu "Vollkommenheiten" materieller und immaterieller Art zu verhelfen, und zwar unter dem gemeinsamen Aspekt der "Tugend". Dabei erscheinen nicht nur "Güter" als Unterbegriff zu "Vollkommenheiten", sondern das Verb "vermindern" sagt auch aus, daß nunmehr von "Vollkommenheiten" im Sinn tugendhafter Handlungen oder einzelner Tugenden geredet werden kann, als wären sie eine Art Konto. Hierher würden die bei Wolff erwähnten "Künste und Wissenschaften" und die damit zusammenhängenden Persönlichkeitswerte passen, an deren Erwerb man den andern "hindert", indem man seine Güter nicht tugendhaft anwendet. Damit ist der historische Wendepunkt erreicht, von dem ab die Besitzsprache ohne besonderen rhetorischen oder sonstigen ästhetischen Aufwand funktioniert. Und im gleichen Moment werden auch Aussagen getroffen, die über die Theorie des Merkantilismus hinausgehen; bisher hatte ja gegolten, daß das Gedeihen eines Handelspartners immer auch den Schaden eines anderen mit sich bringe. Wenn das nun bei Wolff und Gottsched verpönt ist, muß man ja auch eine Möglichkeit sehen können, sich ohne den Schaden des andern zu bereichern. So z.B. in § 273: „Doch hat man, zu desto besserer Beobachtung der Billigkeit, denen im Handel vorkommenden Sachen einen gewissen Werth setzen müssen, damit niemand durch ein solches Vertauschen zu kurz kommen möchte.“ Daran schließt sich im folgenden Paragraphen: „[…] so hat man auch der Arbeit und den Diensten, die einer dem andern leisten kann, dergleichen Preis gesetzet. Denn da es Leute gegeben hat, die an keinem Dinge einen Ueberfluß, und an allem einen Mangel verspüret haben; […] so haben diese den Reichen ihre Dienste angebothen, und sich dafür theils ihre Nahrung, theils auch die nöthige Kleidung reichen lassen. Die Arbeit dieser Leute ist hier durch eine Verwandelung (I. 949.§.) für ihr Eigenthum anzusehen, dessen Besitz sie dem andern abtreten […]“.

Offensichtlich handelt Gottsched hier vom Markt, von Waren, und zählt die Arbeit unter die Waren. Von einer Selbstregulierung der Preise durch den Markt ist allerdings noch nicht die Rede; Billigkeit wäre sonst für Gottsched wohl nicht gewährleistet. Bis dahin hatte das Prinzip des „gerechten Preises“ gegolten: Der Einzelne hatte kein Recht der Preisfestsetzung, deshalb galt jedes Unterbieten des Preises oder andere Übervorteilung als unmoralisch. Eine Unterscheidung von Wert und Preis findet offenbar auch bei Gottsched nicht statt, jedenfalls keine, die auf den Unterschied von Gebrauchswert und Tauschwert hinausliefe. Dagegen sehen wir im obigen Zitat aus § 274 die Bedeutungen der Wörter "Eigentum" und "Besitz" derart unterschieden, daß einer der Eigentümer und ein anderer der Besitzer der nämlichen Sache sein kann.

Wenn man jedoch Eisenhart (Johann Friedrich Eisenhart, Grundsätze der deutschen Rechte in Sprüchwörtern.) Glauben schenken will, ist in Rechtssprichwörtern diese Unterscheidung schon längst impliziert gewesen:

„112. Dem Zweifler gebühret nichts. Anmerkung. § 1. […] Zu den Zeiten des Tacitus ist dieselbe [die Verjährung] noch eine unbekannte Sache gewesen, allein nach dem eingeführten Eigenthum haben besonders diejenigen Völker, so sich außer Deutschland begaben, dafür zu halten angefangen, daß man auch durch einen vieljährigen Besitz das Eigenthum einer Sache erwerben könne.“ — „150. Seelig ist der Besitzer. Anmerkung. § 1. Dieses in Deutschland sehr bekannte Sprüchwort, ist bereits in dem römischen Rechte gegründet, und es handelt von den Vortheilen, welche derjenige zum voraus hat, welcher die streitige Sache würklich besitzet“. Im römischen Recht verankert scheint auch der Gebrauch von "Herrschaft" anstelle von "Besitz" zu sein, und die Bedeutungsvariante "ursprüngliches Recht an einer Sache" für "Eigentum". Gottsched gibt nämlich dafür in Randglossen die Termini "dominium" und "proprietas" an. Der zugehörige Text aber lautet:

„Durch jenes [Eigentum] verstehen wir also solche äußerliche Dinge, die wir nach eigenem Wohlgefallen nutzen können, und deren sich kein andrer auf eben die Art anmaßen darf. Diese aber [Herrschaft] heißt ein Recht, sich gewisser Güter nach seinem Gutachten zu bedienen, und alle andre von dem Gebrauche derselben auszuschließen.“ Diese schon bei Wolff und bei Locke vorhandene Aussage erhält ihren besondern Sinn dadurch, daß nun ja die Arbeit ausdrücklich als Eigentum bezeichnet worden ist. Nur dadurch ist es möglich, die Praxis des Verlagswesens und der Manufaktur, die über die Grenzen der ständischen Gesellschaft hinausgehen, nun auch theoretisch zu rechtfertigen.

„280.§. Wie nun aus dem allen erhellet, daß das Geld nichts anders ist, als das Maaß des Werthes von denjenigen Dingen, die wir zu unserm Leben brauchen: also sieht man wohl, daß es nicht an sich selbst das Vermögen eines Menschen ausmachet; sondern nur, so weit es ein Mittel abgiebt, allerley andrer Güter Eigenthum zu erlangen. Wendet man es dazu wirklich an, so ist es selbst unter die Güter zu rechnen.“

An diesem Satz über die Konsequenzen einer marktwirtschaftlichen, auf Geldverkehr beruhenden Ordnung sieht man die Bedeutungen der Wörter "Gut“, "Vermögen" und "Eigentum" noch deutlicher. Ein "Gut" wird ein Besitzobjekt genannt, von dem man Nutzen hat; "Vermögen" ist die Summe der Mittel, deren Besitz und Anwendung den eigentümlichen Erwerb weiterer Besitzobjekte gestattet — dabei kann "Arbeit" eines anderen erworben werden, und ferner könnte ich mir denken, daß nicht nur "Geld", das Maß eines abstrakt gesehenen Wertes, sondern auch "innere Vollkommenheiten", soweit sie “Mittel" werden können, zum "Vermögen" gezählt werden; "Eigentum" schließt mithin eine Art von "Herrschaft" ein, wenn man es nicht liegenläßt, sondern als "Besitz" verwertet: Ganz neue Herrschaftsverhältnisse gehen daraus hervor.

Als Gottsched die Vermietung der Arbeitskraft an einen Herrn beschrieb, hatte er wohl noch die Verhältnisse vor Augen ("Nahrung", "Kleidung"!), die bei der Einstellung von Dienstboten herrschten. Er gibt aber auch eine Theorie für andere Arten von Lohnarbeit.

„Da nun niemand verbunden ist, uns umsonst zu arbeiten, sondern bloß durch einen Vertrag um unsers Gegenversprechens halber (282.§): so folget daraus, daß ein jeder Arbeiter seines Lohnes werth ist“.

So schmal ist die Schwelle zwischen Freiheit, d.h. Herrschaft über sich selbst nach eigenem Belieben, und Beherrschtwerden! Auf der einen Seite: „Denn wir wissen, daß alle Menschen von Natur gleich sind, ein gleiches Recht an die Güter dieser Welt haben, und zu einerley Pflichten verbunden sind,“ andererseits muß Gottsched begründen, warum manche nur mehr ihre Arbeit zum Tausch geben können, andere reich sind.

„Es entstehen aber anfangs in der natürlichen Freyheit der Menschen die Eigenthümer durch die bloße Bemächtigung einer Sache; […]“

Hierin folgt er Thomasius. „Das Eigentum leitet Thomasius lediglich aus der Okkupation ab. […] Daneben gibt es abgeleitetes Eigentum aus Verträgen“. (Günther Bieber, Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius, Diss. Gießen 1931, S. 29.) Hätte Gottsched bloß nichts von "natürlicher Freiheit" gesagt und damit sein Konzept einer egalitären Naturordnung mit dem gesetzlosen Kampf aller gegen alle durcheinandergebracht!

Bürgerliche und aufklärerische Züge wird man dem vorliegenden Text wohl nicht absprechen, und auch das Besitzdenken steht in diesem Zusammenhang. Wir wollten zwar nur solche zwischenmenschlichen Verhältnisse und Beziehungen in dieser Hinsicht für relevant anerkennen, die nicht schon immer mit wirtschaftlichem Verhalten zu tun haben. Doch innerhalb dessen gewinnt "Arbeit" einen anderen Sinn. Dieses neue Eigentum und Tauschobjekt scheint in dem gleichen Moment, in dem es aus der geschlossenen Hauswirtschaft heraustrat, auch neuartige Herrschaftsverhältnisse geschaffen zu haben, die nicht mehr in den traditionellen Aufbau der Gesellschaft paßten und eine „Umwertung der Werte“ erzwangen. Ist etwa die Lohnarbeit der kulturelle Impuls, der als empirische Tatsache die Entwicklung des Besitzdenkens in der Sprache begleitet hat?


Schriften, die sonst noch zugrundegelegt wurden:


E.F. Heckscher, Merkantilismus, Jena 1932.

Leo Balet und E.Gerhard, Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18.Jahrhundert, Leipzig, Straßburg, Zürich, 1936.