Christian Friedrich Henrici (Picander)


Gewisse Texte Henricis sind heute bekannter als alles, worüber sonst in dieser Untersuchung die Rede geht: Henrici war J. S. Bachs bevorzugter Textlieferant. Namentlich fast vergessen, ist er es jedoch als Komödienproduzent so gut wie völlig.

Er wurde — wie Gottsched — im Jahre 1700 geboren, und zwar als Sohn eines Posamentierers in Stolpen. Als armer Junge kam er auf Schulen und Universitäten (erst Wittenberg, dann Leipzig), studierte eine zeitlang Jura, „doch verfolgete er seinen angeborenen Trieb zur Dichtkunst unter dem Namen Picander und wurde einer der glücklichst- und geschicktesten Poeten“. (Wustmann, Gustav: Quellen zur Geschichte Leipzigs, 1.Bd., Leipzig 1889, S.440.)

Darüber, ob er ein geschickter Poet sei, waren die Gottschedianer freilich anderer Meinung als der biedere Chronist; doch scheint ihm das bei einer zahlreichen Lesergemeinde nicht geschadet zu haben. Er lebte in ansehnlichen Umständen, wenn auch außerhalb der akademischen Kreise: der König hatte ihm für ein „Carmen“ gnadenhalber eine Poststelle gegeben, dann wurde der Generalfeldmarschall Graf Flemming sein Gönner; seit 1740 war er Kreis-Steuereinnehmer; 1743 schenkte ihm der Kurfürst ein Grundstück in Leipzig zum Hausbau; 1758 wurde er Kommissionsrat; er war zweimal mit Töchtern aus gutem Hause verheiratet. Er scheint der rechte Mann gewesen zu sein für die nicht-akademischen, nicht-bürgerlichen Honoratioren und für die zählebigen Reste der lutherisch-orthodoxen bzw. galanten Bürgerkultur.

Ein einziges Mal eckte er an, als er seine Komödien herausgab: „Picanders Teutsche Schau-Spiele, bestehend in dem Academischen Schlendrian Ertzt-Säuffer und der Weiber-Probe, Zur Erbauung und Ergötzung des Gemüths entworffen. Auff Kosten des Autoris Berlin, Franckfurth und Hamburg 1726.“ Es war eine zusammengebundene Sammlung von drei Stücken, die er in Leipzig nicht, wie vorgehabt, aufführen hatte lassen dürfen. Man hatte persönliche Satire dahinter vermutet, wie so oft in jener Zeit, in der man, ohne andere sittliche Maßstäbe als die religiösen, nicht einsehen konnte, wie es ein Laie ohne Kanzelamt wagen könne, im Hinblick auf den Zustand der Allgemeinheit zu satirisieren.

In der Sammlung ist, für sich paginiert, eingebunden: „Der Säuffer in einem Schau-Spiele vorgestellet von Picandern. Berlin, Franckfurth und Hamburg, 1725.“ Im folgenden möchte ich statt weitläufiger Nacherzählungen das Personenverzeichnis kommentieren.

Polyzythus ist der Name des Erzsäufers; er ist landadeliger Abkunft und lebt in Verhältnissen, die auf das Repertoire der Leipziger Verhältnisse passen: Er ist ein Bummelstudent, der die Wechsel von zuhause mit galantem Aufwand durchbringt. Sein todkranker Vater Valentin wird von ihm mit „Patron“ angeredet wie nach Talanders Briefsteller; er hat auch für Polyzythus nur die Funktion, ein letzter finanzieller Rückhalt zu sein.

Antonine und Dorinde sind Mädchen höchstwahrscheinlich patrizischer Abkunft, die beide den Polyzythus lieben.

Orontes (auch ein Degenträger) ist der Nebenbuhler des Polyzythus bei Antonine.

Camillus, Antonines Bruder, ist Nebenbuhler des Polyzythus bei Dorinde und „Vertrauter“ des Orontes. Das führt dazu, daß er oft guten Rat erteilt, den er selber brauchen könnte.

Die Standespersonen tragen griechisch-römische Alamode-Namen. Antonines Kemmerkätzchen heißt nun aber Ließgen. Sie nützt ihre größere Nähe zum Publikum, um sich satirisch über die Moral der Leipziger Mädchen ihres Standes auszulassen: man habe da oft etwas mit dem Hauslehrer, einem Studenten, und erledige dann die Niederkunft insgeheim in der Vorstadt. Ich halte das für nichts anderes als die traditionelle Weiberschelte: „außen hui -innen pfui“, die seit dem 16.Jahrhundert bei gewissen Gelehrten im Schwange war. In seinen anderen Komödien dehnt Picander dieses Motto auch auf Bürgersfrauen aus. Der aktualisierende Rückgriff auf die Tradition wurde so zum Lästern, das niemanden verschonte, und daran mag die ungünstige Aufnahme der Komödien gelegen haben: Satire dieser deftigen Art findet zwar immer Anlässe, wird aber, von den Anlässen abgelöst, nur noch als belanglos und entstellend empfunden, sobald man sich im Publikum darüber einig ist, daß sich „der Mensch an sich“ auf dem Wege der Besserung befinde.

Mischmasch, lustiger Diener des Polyzythus, agiert nach der Devise: „Wie der Herr, so‘s Gescherr.“

Sein glücklicher Nebenbuhler bei Ließgen ist der lustige Diener Dorindes, Hocuspocus.

Es tritt noch ein Doctor auf, der den Anlaß berufsständischer Satire abgibt; ferner erscheinen Gläubiger des Polyzythus, nämlich Schenckein, der Kellerwirt, (ein relativ braver Mann, blasserer Nachfahre des Herrn Johann) sowie ein Schuster, ein Kaufmannsdiener, und ein Makler.

Das nach Art einer Fabel Durchgehende an der Handlung läßt sich auf den Satz reduzieren: Liebesverblendung der Mädchen macht vernünftiger Partnerwahl Platz. Dahinter steht durchaus auch ein moralischer Satz: Wer säuft, verdirbt! Das wird aber leider so mit einem Charaktertyp der unverbesserlichen Sorte gekoppelt, daß man auch sagen könnte: Die Katze läßt das Mausen nicht, und Polyzythus läßt das Saufen nicht. So endet jedenfalls die Handlung.

Natürlich gehören auch Besitzhandlungen zum lokal gefärbten Repertoire. Da wird wieder einmal versetzt und beim Bedienten geborgt (I, 2); von andern Schulden war oben schon die Rede. Die Kauf- und Handwerksleute revanchieren sich durch gewaltsame Aneignung von Pfändern (III, 6); es ist aber nicht zu entscheiden, ob diese Handlung auf ein Schema des materialen Repertoire der Leipziger Verhältnisse zurückgeht, oder ob sie als eine vorwiegend ästhetisch determinierte „komische Prügelei“ mit dem lustigen Diener aufgefaßt werden soll. Eine besondere Rolle im Umschwung der Fabel spielt die Enterbung des Polyzythus durch den Vater (IV, 1), und nachfolgend besonders der Umstand, daß der Erzsäufer zum Pfand für einen Gläubiger eine „Liebes-Verschreibung“ Antonines für den Gegenwert eines Guldens zurückgelassen hat. Das letztere wird erst erzählt, und dann zur Katastrophe szenisch ausgenutzt. Zuerst wird das für Antonine und Orontes glückliche Ende gezeigt (V, 3), und dann der unglückliche Ausgang für den Säufer (V, 4). Im Überblick läßt sich erkennen, daß Besitzhandlungen allermeistens satirisch und nicht komisch funktionieren.

Die Komik ist durchgehend niedrig. Da immerhin eine Sterbeszene vorkommt, entstehen Affektkontraste, die ein Klassizist ablehnen wird. Der Vater ermahnt seinen ungeratenen Sohn in seiner letzten Stunde in Worten, wie sie wohl von Hübner für herzbewegende Kanzelreden empfohlen worden wären. Richard Daunicht glaubt darin sogar einen Ansatz zur rührenden Komödie zu erblicken. (vgl. R.Daunicht, Die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland, Berlin 1963, S.55.) Das hindert Polyzythus aber keineswegs, in dieser Szene grotesk-komische Gags krachen zu lassen. Auf uns Heutige wirkt das ziemlich gemein; ich kann mir aber vorstellen, daß biedere Schmerbäuche, die durch allsonntägliche zweistündige Predigt gegen Bußtränen einigermaßen imprägniert waren, bei dieser Zusammenstellung vor Lachen gebrüllt haben — und daß Henrici das wollte.

Auch die Szene (IV, 3), in der sich die beiden jungen Damen auf die Nachricht hin, Polyzythus sei gefährlich krank, erstechen wollen, könnte eher tragisch wirken; desgleichen die nächste Szene, in der sich Camillus, abgewiesen, ebenfalls erstechen will und im letzten Augenblick zur Vernunft kommt. Aber der Zuschauer ist auf besserwisserisches Gelächter schon vorprogrammiert: er weiß, Polyzythus ist krank, weil er einmal versucht hat, nicht zu saufen. Und Camillus bricht die Illusion, daß Leidenschaft blind wüte, wie der Hanswurst, bloß mit feineren Argumenten.

Polyzythus und die Bedienten sprechen einen mehr oder weniger grobianischen niederen Stil. Ausnahmen bilden die Floskeln der Galanterie, die Polyzythus seinen Schönen darbringt, und die französisierende, von Malapropisms durchsetzte Ziererei des feintuenden Ließchens. Die Damen und ihre gesitteten Liebhaber sprechen, bis sie zur Vernunft kommen bzw. glücklich werden, den galanten Stil in einer Ausprägung, die wahrscheinlich bereits parodistisch gemeint ist: „Haltet ein, Antonine, gönnet mir diese Freundschafft daß ich noch vor dem Polyzythus erblasse, damit ich bereit sey, mein ander Leben zu empfangen, vielleicht kann meine Abschlachtung vermögend seyn, das unerbittliche Verhängnis zu versöhnen, und durch meinen Tod, meinem Polyzythus das Leben zu verschaffen. So erkennet er meine, ihm noch unerkante Beständigkeit der Treue und ihr habet so dann das Vergnügen den theuersten Polyzythus alleine ohne iemandes Eifersucht zu umarmen“ (Dorinde in IV, 3). Es sieht wirklich aus wie aus „denen romainen“ des 17.Jahrhunderts abgeschrieben.

Erst nach der Wendung zur Vernunft tritt Besitzdenken auf! Diese Wendung wird gerade dadurch herbeigeführt, daß Polyzythus den Liebeskontrakt der Antonine versetzte.

V, 3, Camillus: „Ich will sie nicht, ich mag sie nicht, die Grausame, die unerkenntliche! soll ich mein Herz vor nichts achten, u. als eine ungangbare Waare denen Leuten ausbiethen?“ — „Meine Schwester euch zu liebe, bin ich vermögend auch ohne mein Vergnügen die Ruhe meines Gemüths auf zu opffern, wofern ich die eurige dadurch erwerben kan. Ich liebe meine schönste Dor. so wohl um meinet- als eurentwegen, u. mein Herze, so sie begehret, überlässet sich zu ihrem Eigenthum.“

Camillus will dann Antonine überreden, Orontes zu nehmen, und deckt die Transaktion des Polyzythus auf: „Urtheilet hieraus, meine Wertheste, wie würdig eure Liebe geachtet wird, vor einen Gulden steht sie zu iedermans Kauff.“ Das heißt doch nichts anderes als: Eure Ware wird unterbezahlt; nehmt den, der mehr bietet! Damit verurteilen sie gleichzeitig den groben Schacher nach Art der Horribilicribrifax und Daradiridatumdarides und stellen einen feineren an. Er beschränkt sich nicht allein auf indifferente oder mit politischem Wert versehene Galanterien, sondern vermittelt innere Güter, ohne welche die betreffenden Personen nicht wären. Wir erfahren nämlich von keinem Amt noch Beruf, auch kaum von Familie, Stand und Aufgabe in der Ständeordnung. Sie haben nur ihre Privatsphäre im Stück, ja fast nur ihre Intimsphäre. Das ist das Neue. Das Auftreten des Besitzdenkens bleibt vorerst an eine sprachliche Umgebung mit stark metaphorischen Zügen gebunden und erscheint als Austausch einer Sorte von Metaphern gegen eine vernünftigere; wäre der galante Firnis nicht, könnte von nichts anderem mehr als Besitzverhältnissen, auch im intimen Bereich, die Rede sein. Dann wäre allerdings keine derartige Komödie möglich. Sie ist die Hohlform dessen, was zehn Jahre später entsteht.