Horribilicribrifax
Auf der Suche nach einer barocken Komödie, an der man eine einheimische vorbürgerliche Behandlung des Themas "Besitzen" betrachten könnte, habe ich auf Gryphius zurückgegriffen, weil noch Gottsched seine Stücke anfänglich schätzte und sich anscheinend erst überlegen mußte, warum sie nicht mehr aufführbar seien. Von den Komödien erschien der „Horribilicribrifax Teutsch“ (geschrieben um 1648, gedruckt in Breslau 1663) am ergiebigsten wegen der Zahl der Besitzhandlungen und ihrer dramaturgischen Funktion.
Am häufigsten ist die Rede von Schulden und vom Vermögen des voraussichtlichen Ehepartners, nämlich je fünfmal, zählt man das Vorkommen nur einmal pro Szene und von jeder Figur nur einmal. Das erstere verweist auf die zeitgemäße Ausgangslage der Handlung: wirtschaftlicher Niedergang als Kriegsfolge. Das zweite, mit dem ersten öfter durch das Motiv der Täuschung verbunden, muß sich bei der konventionellen Liebeshandlung einer Komödie zwangsläufig einstellen, und es ist nur logisch, da am Ende die Personen gleichsam zu Paaren getrieben werden, daß noch im Anhang ein komischer Ehekontrakt folgt. Für die dramaturgische Behandlung des Themas „Geldheirat“ ist bei dieser Barockkomödie typisch, daß es in mehreren Varianten parallel durchgespielt wird. Zum Komplex „Schulden“ passen das mehrmalige Erwähnen der allgemeinen Teuerung, die Beispiele für das Versetzen von Wertgegenständen (einmal beim Juden, einmal bei der Kupplerin) und die beiläufige Rede von Zinsgeschäften (beim Juden). Es fällt auf, daß letztere Geschäfte mit Angehörigen gesellschaftlicher Randgruppen getätigt werden, nicht unter honetten Leuten. Auch das Verkaufen tritt nur als Hausieren auf. Es geht in eins mit Kuppelgeschäften. (Tragisch-ironische Parallele, daß der Verkauf von Sophias Haar zuerst ebenfalls als Versuch zur Kuppelei ausgelegt wird!) Außer dem Geld als Lohn für die Dienste der Kupplerin ist auch Trinkgeld für Bediente im Spiel. Zum Komplex „Brautschatz“ zählen Brautgeschenke, die Erörterungen, wie reichhaltig dieser oder jener Haushalt sei, und das Vorzeigen des Standes der Personen durch reiche Kleidung. Einzigartig in der Reihe der Besitzhandlungen, die mir bisher vorgekommen sind, ungewöhnlich auch als Motiv der Dramenliteratur, scheint mir das zentrale Veräußern von Sophias Haar, das in der Katastasis steht.
Darüber wird im Zusammenhang des Besitzdenkens noch einiges zu sagen sein.
Das Personal ist ständisch sortiert; aus dem Bürgerstand ist allein Coelestina, die einzige der heiratsfähigen Mädchen, die Vermögen hat. Es kämen vielleicht noch Sempronius als Schulmeister, Cyrilla und Rabbi Isaschar in Betracht, aber diese sind wohl eher als Vertreter plebejischer Unterschichten zu nehmen. Der Übel gelehrte Sempronius wird ja dadurch gerade lächerlich, als „Pedant“, daß seinem Bildungswust sein Status und seine Manieren keineswegs entsprechen. Er ist allerdings nicht ganz so arm wie diejenigen der adligen Personen im Stück, die nicht gerade Statthalter und Hofleute sind.
An der Sprache ist für unsern Zweck nur dieses zu bemerken: sie ist weniger nach sozialen Schichten differenziert als nach extrem ausgestalteten Rollentypen, und somit nur auf höherer ästhetischer Ordnungsebene adaequat zu beschreiben. Wo sich im Umgang der nicht-komischen Personen ein Redestil zeigt, ist er am ehesten mit dem galant-höfischen der späteren Zeit zu vergleichen. Im Austausch von Komplimenten hyperbolisch: „Pallad.[ius] Mein Herr/ die Ehre/ die er seinem geringsten Diener erweiset/ ist zu hoch! und ich bin schuldig ihm auch sonder sein Begehren stets auffzuwarten.“ (III, 2).
Besitzdenken ohne ästhetische Funktion:
In der Vorrede, als deren fingierter Verfasser Daradiridatumtarides zeichnet, finden wir einen Gebrauch des Wortes "besitzen", der wegen seiner altertümlichen syntaktischen Struktur merkwürdig ist: „Ich befinde endlich/ daß die Literatis sich den hochmüthigen Neid so tieff besitzen lassen/ als iemahls wir […] uns unterstehen dürffen […]“.
Den Neid sich besitzen lassen, eine AcI-Konstruktion, läßt erkennen, daß es hier noch der (Dämon) Neid ist, der den Menschen besitzt, sodaß er vom Neid besessen ist — weiter kann dieser Gebrauch des Verbs "besitzen" vom Besitzdenken nicht entfernt sein. Andererseits begegnet "Besitz (von Glückseligkeit)" in einem Austauschverhältnis zu "Gegenliebe" in V,4 , was auf höfisch-rationalen, galanten Gebrauch weist. Andere für uns relevante Wörter und die Beziehungen, in denen sie stehen, sind meiner Beobachtung nach gleichzeitig mit ästhetischer Funktion versehen; in dieser Hinsicht herrscht also in dieser Komödie Materialökonomie. Doch haben weder die Besitzverhältnisse den Ausschlag bei der Typisierung der Personen (die nach anderen Gesichtspunkten, meist traditionellen, vorgenommen ist), noch haben Lexeme des Besitzens, bei denen Verdacht auf Besitzdenken bestehen könnte, eine komische Funktion. Im Gegenteil: Wo etwas Derartiges auftritt, dürfte es dem Zuschauer von damals kaum zum Lachen zumute gewesen sein. Wir haben es dort eher mit einem satirischen Ansatz zu tun.
In der dritten Szene des ersten Aktes muß Sophia zu folgender Erkenntnis ihrer Lage kommen: „Wir haben nichts/ als uns selbst zu versetzen oder zu verkauffen.“ Diese Formulierung muß damals recht neuartig geklungen haben, denn sie wird von der Mutter Flaccilla sogleich aufgenommen, wie man in geistreichem Gespräch eine Metapher fortführt: „Auff dieses Pfand pflegt niemand nichts zu leihen/ es verstehet sich zu geschwinde.“ Deshalb gelangen selbst adlige Familien in dieser Zeit buchstäblich an den Bettelstab! Die Möglichkeit zu dienen ist ihnen verschlossen, weil sie nichts Praktisches gelernt haben; das wird hier erörtert. Nach dem großen Krieg findet der mittellos gewordene Vornehme sich denen gegenüber, die etwas zu verkaufen haben, im Nachteil und entdeckt, daß seinen aristokratischen Eigenschaften (auch seelischer Art) der Marktwert fehlt — eine Art Besitzdenken ex negativo. „[…] deine Tugenden sind an diesem Orte ungangbare Müntze […]“ (Flaccilla, in derselben Szene.) Dafür, daß Untugend schon fast zu wohlfeil geworden ist in diesen Umständen, so daß sich kaum mehr etwas herausschlagen läßt, also für die spiegelverkehrte Situation, hat schon in der vorigen Szene die Mutter Antonia drastischen Ausdruck gefunden: „Das Kuh-und Schaaff-Fleisch gilt itzt schier mehr/ als Jungfern Fleisch.“ Aus den gleichen Gründen beklagt sich die Kupplerin in I, 5, daß die jungen Leute kein Geld mehr aufwenden wollten für ihre Dienste: „[…] die Liebe ist gar gestorben […]“. Der metonymische Wortgebrauch bezeichnet eine schon längst gesellschaftlich mögliche, aber diskriminierte Verbindung von Geld und Liebe. Von hier aus liegt es nahe, erste Ansätze von Besitzdenken in diesem Zusammenhang gleichfalls zu diskriminieren. Wenn Antonia ihrer Tochter einen möglichen Bräutigam vor Augen stellen will und sagt: „Was mangelt Possidonio? Er ist reich/ von hohem Ansehen/ im blühenden Alter/ hat vornehme Freunde/ stehet wol zu Hofe/ und liebet dich von gantzer Seele.“ (I, 2) so zählt sie eine akzeptierte Güterordnung von unten herauf.
Erst später wird an anderen Handlungen offenbar, wie sehr dieses Mutter-Tochter-Paar in allem als negative Zielscheibe der Satire herhalten muß. Dann gibt es aber auch Gegenfiguren, die ausdrücklich in anderer Weise auf diese Güterordnung Bezug nehmen: „Coelest.[ina] Was sagest du von dem Mareschall? ich liebe nicht seinen Stand/ sein Gut/ sein Geschlecht/ sonder nur ihn allein! ach/ daß er der ärmeste auff der gantzen Welt wäre/ und ich die grösseste Princessin/ so könt ich ja vielleicht Mittel finden ihn zu meiner Liebe zu bewegen. — Camilla. Ich glaube bey meiner Seelen Seeligkeit/ und wolte darauff sterben/ daß unter allen Jungfrauen in dieser Stadt nicht eine/ ja unter Eilff-Tausenden kaum eine zufinden/ die dieser Ketzerey zugethan. — Coest. Vielleicht ist in dieser Stadt/ ja unter Eilff-Tausenden/ nicht eine/ die verstehe/ was rechte Liebe sey. Sie lieben Geld/ sie lieben Stand/ sie lieben Ehre/ und wenn sie sich in ihrem Sinn betrogen finden so verkehret sich die feurige Liebe in unauslöschlichen Haß. Ich liebe diß an Palladio, was ihm keine Zeit/ keines Fürsten Ungenade/ keine Kranckheit/ kein Zufall nehmen kan/ nemlich seine Tugend.“ (IV, 5) Die Tugend als höchstes, allein beständiges Gut — so spricht die Vertreterin des Bürgerstandes, die nicht allein im repräsentierten sozialen Gefüge, sondern auch dramaturgisch eine Mittelstellung einnimmt: wenn man unter den Parallelhandlungen dieser Komödie eine dominierende zur Fabel erklären wollte, müßte man die Coelestina-Palladius-Handlung dazu hernehmen.
Nun, das klingt für 1648 schon recht progressiv, wenn auch partikulär. Zweierlei stört allerdings den Eindruck, daß wir Besitzdenken vor uns hätten. Erstens wendet der Autor an einer Stelle viel Emphase auf, um darzutun, daß ein solches Gut mit Marktprozessen nichts zu tun habe: Die Keuschheit der Sophia wird von Cleander mit den Worten auf die Probe gestellt: „Wir kennen der Weibes Personen Art und wissen/ wie heilig sie sich stellen/ wenn sie ihre Wahre hoch außbringen wollen.“ (V, 10) Sophia will sich daraufhin erstechen. Wohlgemerkt, "Ware" bezieht sich hier auf das Gegenteil der Keuschheit.
Zweitens ist die Tugend des Palladius nichts Konkretes, wird nicht in Handlungen vorgestellt. (Das bißchen gesunden Menschenverstand, die aufrichtig Liebende zur Gattin zu erwählen statt der offenbar Treulosen, kann man wohl nicht in Anschlag bringen?) Wir erfahren nur, daß er ein weltgewandter Gelehrter ist, der zu einem hohen Amt befördert wird; daraus würde ich auf eine Bedeutungsvariante von "Tugend" schließen, die mit "Tüchtigkeit" zu tun hat. Lösungsversuch: für Gryphius hat "Tugend" noch vor allem christlichen Sinn. Vor der „Providenz“, deren „Statthalter“ Cleander ja auch ist, bedeutet die wahre Tugend keine Ware, sondern ein unveräußerliches Eigentum. Die Personen reichern sich nicht durch Erfahrung und Reflexion mit Tugenden an, sondern werden durch Bewährung, was sie sind — Epiphanie. „Ihre Keuschheit hat wie ein lauteres Gold durch eine so hefftige Anfechtung bewehret werden müssen“ (V, 10). Das ist nicht bürgerlich geredet, sondern metaphorisch. Erst wo anstelle der Begründung von Tugenden aus der religiösen Beziehung auf einen persönlichen, geoffenbarten Gott die Begründung von Tugenden aus der pflichtgemäßen Orientierung auf das Naturgesetz getreten ist, genügt die zwischenmenschliche Verifikation, und es braucht keiner außergewöhnlichen Prüfungen mehr.
Dennoch ist schon bei Gryphius eine gewisse Wettbewerbssituation vorhanden. Nur treten nicht alle unter gleichen Voraussetzungen an, und sie können sich auch nur in vorherbestimmtem Rahmen bewähren; Schiedsrichter ist ein gottähnlicher Despot. (Keine „freie Konkurrenz“!) Daß Sophia ihr Haar veräußern muß, weil sie in dieser Gesellschaft ihre Tugend noch nicht unvermittelt an den Mann bringen kann — Coelestina bringt das schon eher fertig! — bedeutet ein symbolisches Mittelding zwischen feudaler Leibeigenschaft und Tauschverhältnis. Der Übergang ist noch lange nicht vollzogen. Vergessen wir nicht, daß auch Coelestina dem Palladio unbedingt ergeben ist.