Kritische Dichtkunst


Das "kritisch" im Titel von Gottscheds Poetik hat unzweifelhaft die Funktion eines Schlagworts wie früher das "vernünftig" in den Titeln der Schriften Wolffs. Wir müssen daran herausfinden, ob sich ein Zusammenhang mit unseren Termini "bürgerlich" oder "aufklärerisch" herstellen läßt.

In Bezug auf den letzteren Terminus haben wir es nicht besonders schwer. „Die Wortgruppe, die sich an den Begriff der Kritik anschließt, wurde in England und Frankreich um 1600 herum aus dem Lateinischen in die Nationalsprache übernommen. […] Das Wort wurde zunächst von den Humanisten verwandt; Urteilsfähigkeit und gelehrte Bildung waren ihm zugeordnet, und als man die philologische Methode auf die Heiligen Schriften ausweitete, nannte man auch dieses Verfahren 'Kritik'.“ Um 1678 war es in Frankreich so weit, daß ein gewisser Richard Simon eine „Histoire Critique du Vieux Testament“ herausgeben konnte, in der die kritischen Methoden unabhängig vom Glauben angewendet wurden. Auch Spinoza ging derartig vor. (Kosellek, Reinhart: Kritik und Krise, Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg und München 1959, S.87 f.) Der erste, der dem Wort „Kritik“ zu gesamteuropäischer Bekanntheit verhalf und der zu den Aufklärern gezählt werden muß, war Pierre Bayle, der in seinem ab 1695 erschienenen „Dictionnaire historique et critique“ bereits alle Gebiete des damaligen Wissens erfassen und in einen Prozeß der Relativierung verwickeln wollte. „Die raison wog bei Bayle ständig das 'pour et contre' gegeneinander auf, sie stieß dabei auf Widersprüche, die stets neue Widersprüche hervorriefen, und so löste sich die Vernunft gleichsam auf in einen ständigen Vollzug der Kritik.“ (s. KoselIek, S.89. — Kosellek verweist an dieser Stelle auch auf Alfred Bäumler, Kants Kritik der Urteilskraft, ihre Geschichte und Systematik, Halle 1923.) Gottsched kannte Bayle und war gewiß von seinen kritischen Leistungen beeindruckt; daß sich aber auch bei ihm, wie bei dem letztlich pessimistischen französischen Hugenotten, die Vernunft im Vollzug der Kritik ständig auflöse, kann man nicht behaupten. Hier schließt er sich wohl eher an eine englische Tradition des Wortes "kritisch" an, die in den Umkreis der „wits“ und „virtuosos“, der Gegenstücke zum deutschen galanten Gelehrten, gehört. In der Vorrede zur ersten Auflage der „Critischen Dichtkunst“ erläutert Gottsched das Wort mit einem Hinweis auf Shaftesbury's „Soliloquy: Or, Advice to an Author“: der Kritiker ist „ein Gelehrter, der die Regeln der freyen Künste philosophisch eingesehen hat, und also im Stande ist, die Schönheiten und Fehler aller vorkommenden Meisterstücke oder Kunstwerke, vernünftig darnach zu prüfen und richtig zu beurtheilen“. (s. Joachim Birke, Christian Wolffs Metaphysik und die zeitgenössische Literatur-und Musiktheorie: Gottsched, Scheibe, Mizler, Berlin 1966, S.22.)

Das Vertrauen in die Anwendbarkeit allgemeiner Regeln unterscheidet Gottscheds Standpunkt auf den ersten Blick nicht von dem der Verfasser früherer klassizistischer Dichtungsrezepte. Warum beließ er es dann nicht bei der Überlieferung? Gottsched kann zwar die traditionelle, schon bei Horaz vertretene und von vielen Poetikern wiederholte Meinung wieder aufgreifen, daß der Dichter eine Art Philosoph sei. Dies bekommt aber bei ihm einen völlig neuartigen eudämonistischen Nachdruck: „Die Weltweisheit nenne ich […] die Wissenschaft von der Glückseligkeit des Menschen; […]“ Das hat er von Leibniz.

Allmählich läßt sich der Zusammenhang der „Critischen Dichtkunst“ mit der Aufklärung nicht mehr in Abrede stellen. Es liegt in der Konzeption einer nach kritisch geprüften Regeln ausgeübten philosophischen Dichtkunst aber auch eine Zusammenstellung von neuen Sinngebungen, die beinahe unmittelbar mit dem Besitzdenken zu tun hat. „Das Weltbild dieses Zeitalters ist anthropozentrisch. Von der Natur interessiert am meisten der Mensch selber. Es wird sich zeigen, daß von der außermenschlichen Natur nur soviel immer dargestellt ist, als der Mensch von ihr begreifen kann, d.h., soweit man sie zweckhaft als Schönes, Nützliches, Erbauliches [also als "Güter"-Ansammlung] auf den Menschen beziehen kann.“ (s. Susi Bing, Die Naturnachahmungstheorie bei Gottsched und den Schweizern und ihre Beziehung zu der Dichtungstheorie der Zeit, Diss. Köln 1934, S.24.) Wenn nun der Kreis der Argumente noch derart geschlossen wird, daß vom philosophischen Dichter gesagt wird, die besondere Art seiner Beziehung auf die Natur befördere die Glückseligkeit und sei deshalb eine Guttat, weil dadurch geistige Güter entstünden und dem Besitz zugänglich würden — dann ist der Sachverhalt des Besitzdenkens erfüllt. Untersuchen wir das näher.

Schon befinden wir uns bei der Theorie der Naturnachahmung. Problematisch ist daran in jeder literaturhistorischen Phase, in der sie eine Rolle spielt, das Wie der Nachahmung und das Was der Natur.

Gottsched folgt, was die Nachahmung betrifft, der aristotelischen Tradition, wie sie ihm durch Boileau innerhalb der rationalistischen Philosophie von neuem vorgedacht wurde. Der Dichter findet die Wahrheit, die seinem Werk Schönheit gibt, nicht schon ausgeprägt vor, sondern erschafft sie; bloßer Abklatsch der Natur führt nicht weit; vielmehr hebt der Dichter eine zuweilen verborgene Seite der Welt hervor, die sonst nicht sinnenfällig wäre, nun aber als Wahrheit erscheint. (vgl. Emil Utitz, Geschichte der Ästhetik, Berlin 1922, S.24 f.) Die Vollkommenheit des Kunstwerks gibt dieser Wahrheit eine gewisse Evidenz. „Gottsched zufolge ist Vollkommenheit im Werk objektiv vorhanden. Es bedarf nicht des anschauenden Subjekts, um vollkommen zu sein. Wenn sie jedoch 'in die Sinne fällt, und ohne deutlich eingesehen zu werden, nur klar empfunden wird, so heißt sie eine Schönheit.‘“ — „Jede Vollkommenheit hat Wolff zufolge einen Grund, aus dem sie erkannt und beurteilt wird. Seinen Beispielen kann man entnehmen, daß er die Erfüllung des Zwecks bzw. die Verwirklichung der Absicht dafür ansieht.“ (s. Birke, S.9.) Wieso kann aber Gottsched das Streben nach Vervollkommnung eines künstlerischen Werkes eine Nachahmung der Natur nennen? Andere hätten vielleicht Idealismus dazu gesagt. Als Wolffianer ist jedoch Gottsched der Auffassung, daß sich die Natur bereits in einer Ordnung entfaltet. Auch Leibnizens Hypothese von der prästabilierten Harmonie hat Gottsched rezipiert. Aus der Ordnung der Dinge, in der sich die Natur erfüllt, gewinnt der rechte Dichter die Regeln für seine Kunstausübung. Dem Problem, ob die natürlichen Dinge denn in Wirklichkeit schön seien, begegnet man damit, daß man den Naturbegriff einengt. Die zugrundeliegende Weltanschauung dieser Naturnachahmungstheorie ist der „Optimismus“.

Wenn der Dichter sich der besten aller möglichen Welten gegenübersieht, kann er durch Nachahmung Schönheit erzielen, ohne sich auf bloße Reproduktion des Faktischen zu beschränken. (vgl. Hans-Ulrich Lappert, G.E.Lessings Jugendlustspiele und die Komödientheorie der frühen Aufklärung, Diss. Zürich 1968, S.66.) Nachahmung wird synonym mit Fiktion, sonst ist die folgende Aussage unsinnig: „[…] Ein Geschichtsschreiber soll nicht nachahmen, was wir Menschen zu thun pflegen, oder wahrscheinlicher Weise getan haben könnten, thun sollten, oder thun würden, wenn wir in solchen Umständen befindlich wären: sondern man fordert von ihm, daß er getreulich dasjenige erzählen solle, was sich hier und da, für Begebenheiten zugetragen haben […] Der Dichter ganz allein, hat dieses zu seiner Haupteigenschaft, daß er der Natur nachahmet, und sie in allen seinen Beschreibungen, Fabeln und Gedanken, sein einziges Muster seyn läßt.“ Im Hinblick auf die Fiktion unterscheidet sich der Dichter jedoch nicht nur vom Historiker, sondern auch vom bloßen Sprachkünstler. Statt der Kenntnis poetischer Konventionen und Muster, die zwar nicht aufgegeben werden, rückt aber eine andere Art der Kenntnis in den Vordergrund.

„Ein Poet ahmet hauptsächlich die Handlungen der Menschen nach […] Daher muß derselbe ja die Natur und Beschaffenheit des Willens, der sinnlichen Begierde, und des sinnlichen Abscheus in allen ihren mannigfaltigen Gestalten gründlich einsehen lernen. Wie würde es ihm sonst möglich seyn, einen Geizigen, Stolzen, Verschwenderischen, Zänkischen, Verliebten, Traurigen, Verzagten u.s.w. recht zu characterisiren? […] Sind ferner die Handlungen der Menschen gut oder böse: So wird er nicht im Stande seyn dieselben recht zu beurtheilen, wenn er nicht das Recht der Natur, die Sittenlehre und Staatskunst gründlich versteht.“ Auf die mundgerechten Brocken einer Realiensammlung läßt sich das nicht gut zuschneiden. Der Dichter ist nicht mehr so leicht mit einem zünftigen Handwerker zu vergleichen; Gottsched macht Ernst mit dem Leitbild des poeta doctus. Dieser braucht freilich, weil er mündiger ist, in erhöhtem Maße einen guten Geschmack.

Für Gottsched ist per definitionem der gute Geschmack „der von der Schönheit eines Dinges nach der bloßen Empfindung richtig urtheilende Verstand, in Sachen, davon man kein deutliches und gründliches Erkenntniß hat“. Man muß also nicht immer gleich das Regelbuch zu Rate ziehen, aber zur Begründung und deutlichen Erkenntnis der Schönheit müßte man eben doch verstandesmäßig kommen, indem man die zugrundeliegenden Regeln herausfindet und beurteilt, ob sie von der Vernunft festgesetzt seien. Für den Rationalisten folgt daraus mit Selbstverständlichkeit, daß diese Urteilsinstanz von überzeitlicher Gültigkeit sei.

Gottsched, der ja gerade erst ein klassizistisches Programm zur Überwindung „barocker“ Entartungen gründen will, lehnt ab, daß jedes Volk und jedes Jahrhundert seinen eigenen guten Geschmack ausbilden könne. In der dritten Auflage der Critischen Dichtkunst bekämpft er solche Relativierungsversuche noch entschiedener als in der ersten. Gerade um 1742 wird er in diesem Punkte langsam stur. (vgl. Alfred Pelz, Die vier Auflagen von Gottscheds Critischer Dichtkunst in vergleichender Betrachtung, Diss. Breslau 1929, S.7 f.) Das mag daher rühren, daß man in Deutschland um diese Zeit anfing, sensualistische Gedankenzüge aus England und Frankreich zu rezipieren. Die 1719 erschienenen „Reflexions Critiques sur la Poesie et sur la Peinture“ des Abbe Dubos waren in Frankreich seit langem ein höchst zeitgemäßer Text gewesen, nicht so jedoch in Deutschland. „Sie setzen Publikum voraus, indem sie Wesen und Wert eines ästhetischen Gebildes nicht aus dessen Objektivität, sondern aus seiner Rezeption durch das ästhetische Subjekt bestimmen.“ (s. Kurt Wölfel, Moralische Anstalt, Zur Dramaturgie von Gottsched bis Lessing, in: Deutsche Dramentheorie, Hg. Reinhold Grimm, Bd.I, Frankfurt/Main 1971, S.49.)

Die Ablösung der rationalistischen Kunstkritik in Frankreich scheint, auf dem Höhepunkt ihrer theoretischen Ausprägung durch Boileau, von einer Änderung der Distributionsbedingungen in der Praxis der bildenden Künste vorbereitet worden zu sein. „Bisher erteilte ausschließlich die Akademie das Recht, in Kunstfragen mitzureden, und sie erteilte es nur Leuten vom Metier. Jetzt [um 1670] bestritt man auf einmal ihre Autorität. Roger de Piles […] trat für die Rechte des Laienpublikums ein, und zwar mit der Begründung, daß auch der unvoreingenommene, naive Geschmack seine Berechtigung habe […] Dieser erste Sieg des Laienpublikums findet seine Erklärung teilweise darin, daß die Beträge, die Ludwig XIV. den Künstlern zukommen ließ, gegen Ende seiner Regierung immer geringer wurden und die Akademie mehr oder weniger gezwungen war, sich an das breitere Publikum zu wenden, um sich für den Ausfall der Subvention schadlos zu halten. Den logischen Schluß aus den Prämissen von de Piles zog allerdings erst das nächste Jahrhundert; Du Bos […],“ (s. Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1973, S.485 f. — Hauser verweist auf Ernest Lavisse, Histoire de France, VIII, 1. 1908, S.422.)

Du Bos wies nach, daß die „geometrische Methode“ zur Beurteilung von Kunstgegenständen unzulänglich sei. Wie anders doch als Gottsched, der in seiner „Weltweisheit“ einen Beispielbeweis führte zu der These, man solle Komödien und Satiren von staatswegen nicht hindern. Damit wollte er die für ihn neue Erkenntnis an den Mann bringen, daß die mathematische Schlußweise nicht auf solche Wissenschaften beschränkt sei, die wir heute unter Verengung des Naturbegriffs „Naturwissenschaften“ nennen. Die Gewöhnung an einen klassizistischen Standard der Kunstproduktion, die dem breiteren Publikum anderswo ermöglichte zu wissen, worauf zwecks Kunstgenuß zu achten war, ohne eine Erkenntnis davon zu haben, woher die Maßstäbe stammten, konnte sich ja in Deutschland noch gar nicht eingestellt haben. Für Gottsched und seinesgleichen war die einzig verläßliche Beurteilungsinstanz der akademische „Kunstrichter“: eben der Kritiker. „Der Pöbel hat sich allezeit ein Recht zueignen wollen, von poetischen Scribenten zu urtheilen: und dieses ist desto lächerlicher, da ihm die Beurtheilung prosaischer Schriften niemals zugestanden worden. […] wie wird er vermögend seyn, von Gedichten zu urtheilen, deren Einrichtung und Ausarbeitung desto schwerer zu prüfen ist: je mehr sie unter so vielen äußerlichen Schönheiten und Zierrathen, dadurch auch critische Augen zuweilen verblendet werden, verhüllet ist, […]“ Es ist bemerkenswert, daß für Gottsched alle, die nicht auf gelehrt fundierte Anschauungen Wert legten, zum Pöbel gehörten, gleich aus welchem Stande sie kamen. Im Hinblick darauf holte er ein Stadium nach, das in der französischen Theorie mit Dubos schon wieder überwunden war.

Daran sehen wir aber schon, daß Gottscheds Geltung nicht von langer Dauer sein konnte, falls die Entwicklung wirklich auf eine bürgerliche Literatur zustrebte. Gottsched aber mußte jede systematische Änderung als Verfall des guten Geschmackes ansehen, von dem er sagte, daß er auch wieder verloren gehen könne, nachdem ihn eine Stadt oder ein Land gehabt hätten. Scheinbare Schönheiten belustigten nämlich die bloße Sinnlichkeit genau so sehr als wahre, und daher könne das einmal verstandesmäßig als wahr Erkannte nur unter Berufung auf die Regeln erhalten werden. Man kann wohl von Gottsched noch nicht die Einsicht verlangen, daß es keine „bloße“ Sinnlichkeit gebe, die nicht von geschichtlich wandelbaren sozialen Interessen mitbestimmt werde, und daß der Wert einer ästhetischen Kommunikation unter anderem auch an ihrer Übereinstimmung mit der jeweiligen Interessenlage zu messen wäre.

Es ist nun keineswegs so, daß Gottsched die Möglichkeit einer Begabung zur Poesie leugnet. Er führt eine solche Begabung auf die besonders gute Ausstattung mit Anlagen zurück, die auch andere Menschen haben, nämlich Scharfsinnigkeit, Witz und Einbildungskraft. Doch reicht dies seiner Meinung nach noch nicht aus, einen guten Poeten zu machen. „Gerathen solche Leute in anwachsenden Jahren aufs Reimen, so werden sie Possenreißer, Pritschmeister, und alberne Reimenschmiede, […]“ Besonders angekreidet wird ihnen, daß sie „[…] nur den Beyfall des Pöbels suchen. Sie folgen schlechterdings ihrer Phantasie, und dichten Quodlibete, Opern, Romane, Pickelheringspossen, und andere phantastische Erfindungen in theatralischen Sachen [womit wohl Märchen- und Zauberspiele gemeint sind], die weder Art noch Geschicke haben.“ Das paßt auf König und Henrici wie die Faust aufs Auge.

Es ist bezeichnend, daß Gottsched die Ursachen für schlechten Geschmack so ähnlich beschreibt wie Thomasius die Ursachen für die „Vorurteile“: Erziehung durch einfältige Personen, Leichtgläubigkeit, Gewohnheit. Lediglich von derjenigen Denkfaulheit und Übereilung, die von Autoritätsgläubigkeit herrührt, erwähnt Gottsched ebenso bezeichnenderweise nichts. Es widerspräche der von ihm erkannten kulturellen Situation, wenn er darauf vertraute, daß der Mensch seine Begriffe völlig selbständig zu bilden imstande wäre. Wolff hatte sich hierin auf die Erfahrung verlassen, die der Gebrauch der Verstandeskräfte mit sich bringe und hatte, unter deutlichem Bezug auf Locke, bestritten, daß „die Begriffe der körperlichen Dinge von außen in die Seele“ hineinkämen; Gottsched dagegen räumt dem „Milieu“ weit größere Bedeutung ein: „Meines Erachtens ist uns nichts angeboren, als eine große Schwachheit des Verstandes; ein Mangel alles Erkenntnisses; eine Ungewißheit aller Wahrheiten.“ Diese „sensualistische“ Abweichung von den sonstigen Grundsätzen seiner Philosophie trifft sich mit seiner praktischen Anschauung von der Dringlichkeit pädagogischen Vorgehens. (vgl. Andrew Brown, Locke's "Tabula rasa " and Gottsched, in: The Germanic Review, Vol.24, Nr.1, Columbia University Press, 1949, S.6.) Weil es aber eine Abweichung bleibt, gerät er gar nicht erst in das theoretische Dilemma, die Autorität des Erziehenden gegenüber dem Irrtum der zu Erziehenden legitimieren zu müssen. Natur und Vernunft bleiben als ungeschichtliche Richtgrößen in Kraft und bleiben so aufeinander bezogen, daß die Vernunft das Natürliche unmittelbar als solches einsieht und zur Grundlage des Handelns macht, wenn der kritische Verstand durch seine analysierende Arbeit den Dingen auf den Grund gegangen ist.

Insofern der Poet an der Aufklärung als Objekt teilhat, zählt er überhaupt erst als Poet; insofern er als Subjekt daran teilhat, ist sein Vorgehen verdienstlich. Hierin liegt der Schluß, den wir zum Erweis des Besitzdenkens in Gottscheds Poetik brauchen. Dem entspricht Gottscheds praktisches Vorgehen, Mustersammlungen anzulegen und auf Musterautoren hinzuweisen. Der Unterschied zur Realien- und Florilegiensammlung und zum weltanschaulichen Eklektizismus besteht darin, daß Gottsched wieder Traditionalist ist: er sieht sich als Sachwalter einer meistens vom Vergessen bedrohten und nur von wenigen Vernünftigen aufrecht erhaltenen Überlieferung, die sich mehr auf die Methode als auf das opus bezieht. Deshalb ist der Erfolg eines Dichters nicht von Belang dafür, ob er kanonisiert wird; ist er aber kritisch geprüft und für gut befunden worden, dann ist es für Gottsched sehr wünschenswert, daß er Erfolg habe. Das Besitzdenken in Gottscheds Theorie funktioniert also nicht derart, daß eine Marktabhängigkeit des Dichters und seiner Werke konstatiert würde — es sei denn, die „Natur“ wäre marktabhängig. Daß Gottsched nicht sehen kann, wie sehr sein Naturbegriff von den zeitgemäßen Ausprägungen der Naturrechtstheorie und damit von den dahinterstehenden Interessen gewisser sozialer Klassen abhängig ist, und daß er nicht ahnen kann, wie seine Theorie später zur Verschleierung einer tatsächlichen Marktabhängigkeit des Dichters ausgebaut wird, das macht hier das Ideologische am Besitzdenken aus.

Die naturgemäße Verbindung von Moral und Verstand hat nach Gottsched bei der dichterischen Produktion anband der Fiktion zu erfolgen. Gottsched unterscheidet dabei nicht so sehr Stufen der ästhetischen Ordnung, als Grade der Möglichkeit, die Fiktion zur moralischen Wirksamkeit zu bringen.

Die niederste Art poetischer Nachahmung der Natur liegt demnach in der Beschreibung. Die Nachahmung der Affekte stellt die nächste Art dar. „Auf dieser Kunst nun beruhet fast die ganze theatralische Poesie, was nämlich die Charaktere einzelner Personen, ihre Reden in einzelnen Scenen, und ihre Handlungen anlangt.“ Die dritte und höchste Art der Nachahmung aber, welche die beiden ersten einschließen kann, ist die Fabel. Gottsched folgt Aristoteles, wenn er sie als Verknüpfung aller im Gedicht vorkommenden „Sachen“ erklärt, derart, daß ein Zusammenhang entsteht. Er folgt dem „Traite du Poëme épique“ von Le Bossu, (Paris 1675, S.37 — Angabe von Birke, S.39.) wenn er sagt: „sie sey die Erzählung einer unter gewissen Umständen möglichen, aber nicht wirklich vorgefallenen Begebenheit, darunter eine nützliche moralische Wahrheit verborgen liegt.“ Neuartig ist aber, daß Gottsched in der Fabel diejenige ästhetische Struktur gefunden zu haben glaubt, die sich dazu verwenden lasse, die historisch gewordene Vielfalt der Gattungsbestimmungen systematisch auf einen Nenner zu bringen. Er hält die Fabel für die gemeinsame Eigenschaft aller Gattungen, die jeweilige Form der Darbietung aber für Zufälligkeit; die Differenzierung von Gattungen hänge von Nebenabsichten ab und mache nicht das „Hauptwerk“ der Poesie aus.

„Bey allen diesen poetischen Fabeln fragt sichs nun: Ob sie nothwendig moralische Absichten haben müssen? Man antwortet darauf, daß es freylich wohl möglich sey, Fabeln zur bloßen Belustigung zu ersinnen; […] Allein da es möglich ist, die Lust mit dem Nutzen zu verbinden, und ein Poet nach der bereits gegebenen Beschreibung auch ein rechtschaffener Bürger und redlicher Mann seyn muß: so wird er nicht unterlassen, seine Fabeln so lehrreich zu machen, als es ihm möglich ist; ja er wird keine einzige ersinnen, darunter nicht eine wichtige Wahrheit verborgen läge.“ Die bloße Belustigung wäre zwar ein leibliches Gut, aber der Nutzen, den der Dichter schafft, kommt anderswo her. Es ist auch ein anderer Nutzen als der, den jeder Bürger, jeder „cives“, dem Gemeinwesen auf seine zivile Weise durch die Anwendung sonstiger leiblicher Güter verschaffen kann; nichtsdestoweniger ist ja der rechte Poet auch ein cives und soll deswegen Nutzen schaffen. Was für Waren nimmt er dazu her und teilt sie mit? Wir müssen wirklich hier von Waren reden, weil ja der Nutzen, im Sinne des aufklärerischen Impetus, nicht nur für einzelne in Frage kommen, sondern ein öffentlicher Nutzen sein soll, und weil ein solcher Nutzen im Anschluß an Wolffschen Sprachgebrauch im Normalfall mit der Gewalt des Besitzers über Güter zu tun hat. Der Dichter nimmt also Güter der Seele und teilt sie mit. Diese können nur insofern in seiner Gewalt sein, als er durch die Nachahmung der Natur etwas noch nicht Vorhandenes neu geschaffen hat; sie können nur dann von Nutzen sein, wenn die Nachahmung darauf abzielte, anderen Menschen die Aneignung von etwas zu ermöglichen, was ihren Zustand vollkommener macht, z.B. Wahrheiten, Vernunft, Weisheit, etc. In der Fertigkeit, dadurch glückselig zu werden, ist das Ziel der Wolffianischen Ethik beschlossen, und dessen Marktcharakter bildet das Besitzdenken. Dadurch erhält die Lust eine ganz andere Qualität als sie traditionellerweise hatte, d.h. sie rückt in ein anderes Wortfeld: sie ist die Folge des Fortschritts zur Vollkommenheit.

Die Verbindung von Lust und Nutzen, seit Horaz wohlbekannt, wird hier also unter dem Strukturzwang des Besitzdenkens neu aufgegriffen. Indiz dafür ist eine Art analoger „Sparsamkeit“: eine Fabel, die nicht nützt, ist im Hinblick auf die wünschbare Vervollkommnung verlorne Liebesmüh. Und weiter: „Eine ganze Fabel erfordert nicht allemal den völligen Umfang aller Begebenheiten, die einigen Zusammenhang mit einander haben: sondern es ist genug, daß sie alles dasjenige enthält, was zu der Sittenlehre, die man vortragen will, unentbehrlich ist“. Wenn man von dem Zusammenhang von moralischer Absicht und Besitzdenken bei der Konstruktion der Fabel einmal absieht, besteht der Unterschied zur barocken Praxis, jedenfalls auf dem Gebiete des Dramas, lediglich in der größeren Materialökonomie und der Bevorzugung der Kausalität als Zusammenhang innerhalb der Fabel. Auch vormals regierte das Thema schon den „Stoff“. Berücksichtigt man nun auch, daß Gottsched immerhin die Neben- und Zwischenfabeln nicht völlig verbannt, sondern bloß einen gewissen Zusammenhang (der gar nicht kausal zu sein braucht) mit dem Hauptzweck des Verfassers fordert, so wird verständlich, wieso man trotz relativ fortgeschrittener Theorie in der dichterischen Produktion der dreißiger und vierziger Jahre von einem Neuanfang hinter dem restaurativen Anschein so wenig bemerkt.

Ich sagte: „restaurativ“. Natürlich hat sich einiges geändert. Dabei handelt es sich jedoch zunächst um Beschneidung eines Wildwuchses, die aber noch ganz im Sinne früherer Poetiken zu wirken scheint oder in der Anwendung kritischer Maßstäbe besteht, die anderswo längst gültig waren und schon wieder verlassen wurden. Betrachten wir die Forderung Gottscheds, die nach dem Moralstandpunkt die wichtigste ist: die Wahrscheinlichkeitsforderung. Wir können uns auf das Drama beschränken. „Denn obwohl das Lehramt überhaupt allen Arten der Poeten zustehet: So ist doch selbiges den theatralischen Dichtern noch eigener, als den übrigen.“ (s. Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, herausgegeben von Einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig, Funfzehendes Stück, 1736, S.452. — zit. nach: Hans Friederici, Das deutsche bürgerliche Lustspiel der Frühaufklärung, S.20.) In der theatralischen Poesie „muß ein Poet alles, was von dem auftretenden Helden […] wirklich und der Natur gemäß hätte geschehen können, so genau nachahmen, daß man nichts unwahrscheinliches dabei wahrnehmen könne.“ — „[…] die theatralischen Fabeln leiden nichts, als was wahrscheinlich ist […] hingegen die epischen können gar wohl auch unwahrscheinliche Fabeln von Thieren und leblosen Dingen brauchen. Tausend Dinge lassen sich gar wohl erzählen; aber den Augen läßt sich nichts vorstellen, als was glaublich ist.“

Auf der Suche nach Vorbildern für eine derartig eingerichtete Bühnenkunst mußte Gottsched, wie so oft, wenn er keine deutschen Vorbilder fand, zu den Franzosen der vorvorigen Generation zurückgehen.

„Corneille erklärt das Wahrscheinliche als ,une chose manifestement possible dans la bienséance, et qui n‘est manifestement vraie ni manifestement fausse!‘“ (s. Richard Daunicht, Die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland, Berlin 1963, S.26.) — „Die vielleicht wichtigste Besonderheit der Definition des Wahrscheinlichen lag in dem Wort 'bienséance'. Der Sinn war, daß sich der Anstand als Voraussetzung oder Attribut der Wahrscheinlichkeit etabliert hatte, und daß alles, was sich nicht schickte, als unwahrscheinlich von dem Theater verbannt wurde.“ (s. Daunicht, Die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland, S.27.) An Stelle des gesellschaftlich orientierten decorum konnte später die naturrechtlich fundierte Moral treten. Solange aber der Gattungstradition zufolge das Personal bestimmter Bühnenstücke nur bestimmte Aufgaben innerhalb der jeweiligen Fabel zugemessen bekam, konnte sich der Austausch nicht als egalitäre Tendenz bemerkbar machen.

Gottsched, dem es anscheinend mehr ums Naturgesetzliche zu tun war, ergreift in diesem Zusammenhang in anderer Weise Partei; und darin nicht originell. Er wird mit Fontenelles Standpunktbekannt, daß Mythen Irrtümer seien. Vielleicht hat Gottsched Ähnliches im Sinn, wenn er schreibt: „Die göttliche Macht erstreckt sich auf alles Mögliche; aber auf nichts Unmögliches: daher muß man sich nicht auf sie beruffen, seine ungereimte Einfälle zu rechtfertigen.“ Die Dichtung soll also nicht der Mythenbildung dienen (unausgesprochene Spitze: auch, oder gerade wenn sie christlich ist), sondern die Fortschritte der Naturerkenntnis berücksichtigen. „Die Welt ist nunmehro viel aufgeklärter, als vor etlichen Jahrhunderten, und nichts ist ein größeres Zeichen der Einfalt, als wenn man, wie ein andrer Don Quixote, alles, was geschieht, zu Zaubereyen machet.“ Wenn das Wahrscheinliche mit dem Natürlichen zusammenfällt, ist freilich kaum noch ein Grund zu finden, warum die Fiktion in einer anderen Form als der wissenschaftlichen Hypothese stattfinden sollte. Gottsched greift auf rhetorische Anschauungen zurück, wenn er als die Besonderheit, der die Poesie ihre Berechtigung verdankt, die Erregung von Affekten anführt.

Im Unterschied zu den französischen Modernen, die in den Dichtungen der Antike, insbesondere der Griechen, aus lauter Wahrscheinlichkeitsforderung die Zeugnisse einer niedrigeren Kulturstufe sahen als ihrer eigenen, schätzte Gottsched die Griechen im allgemeinen sehr hoch. Er mag weniger Ursache dazu gehabt haben, die deutschen kulturellen Verhältnisse für überlegen zu halten. Es kann aber auch sein — denken wir an seinen „Cato“ —, daß ihm im Hinblick auf die antike Polis die Verherrlichung der absolutistischen Ära, die den Franzosen nach den Kämpfen der Fronde wie ein goldenes Zeitalter erscheinen mußte, weniger lag. Er war immerhin Zeitgenosse derjenigen Franzosen, denen sie auch nicht mehr so lag. Er distanziert sich von den Modernen, indem er behauptet, die Griechen seien die vernünftigsten Leute von der Welt gewesen, nimmt aber nicht etwa wieder die Position der „Anciens“ ein. Sein Ideal ist eine zu den Griechen analoge Kultur auf der Grundlage der weiter fortgeschrittenen Erkenntnisse. So versöhnt er Antike und Aufklärung, die Muster mit der "Natur". (Es scheint, daß das Neue bei Gottsched überall da zu suchen ist, wo er sich auf die Natur bezieht. Das bringt aber jedesmal auch das Besitzdenken ins Spiel!) So erklärt sich auch Gottscheds „Generationskonflikt“ in Bezug auf Christian Weise, der sich sonst nicht leicht begründen ließe, wenn man in Gottsched nur den aufklärerischen Didaktiker sähe. Weise sah die Dichtung überhaupt nur als Sondergebiet der Rhetorik, und durchaus an politisch-rhetorische Zwecke gebunden; daher konnte er sich was darauf zugute tun, wenn er die klassizistische Poetik ablehnte, wie sie zu seiner Zeit etwa von Rotth vertreten wurde: „In allen Stücken soll der geneigte Leser zum wenigsten die Satisfaktion haben, daß er nichts anderes wo herausgeschrieben, nichts auf ungewisse Regulen und Hypotheses gegründet antreffen wird, sondern was in praxi und bei vielfältigem Nachsinnen vor gut, leicht und bequem befunden worden […]“. (s. Vorrede zu "Curiöse Gedanken von deutschen Versen", zit. nach: Susi Bing, a.a.O., S.10 f.) Die Konsequenz dieser Einstellung, nämlich das Versacken der poetischen Produktion in Gelegenheitsgedichten, wird von Gottsched mit Argumenten bekämpft, die seinen schulmeisterlichen Ruf Lügen strafen: „Käme es auf die Worte allein an und nicht hauptsächlich auf die Art zu denken, sagt er, so könnte man zur Noth aus einem poetischen Lexikon […] ein Poet werden.“ So etwas war ja damals in Nachfolge Weises gang und gäbe; auch Hübner hatte eines ans Licht gestellt. Für Gottsched aber ist das Rhetorische an der Dichtung nicht bloß zusammengesuchtes Material, sondern notwendige Äußerung des dichtenden Subjektes. Es kommt ihm also — durchaus im Sinne des Besitzdenkens — auf eine innere Aneignung der Ausdrucksmöglichkeiten an. „Denn kein Mensch kann besser schreiben, als er vorher gedacht hat. […] Es ist also eine vergebliche Sache, wenn sich viel junge Leute auf eine schöne Schreibart legen wollen; ehe sie recht denken gelernt haben.“

Für Gottsched ist die Unterscheidung zwischen vernünftigem und unvernünftigem Sprachgebrauch anscheinend wichtiger als alle von den Galanten so schön mit der ständischen Gliederung abgestimmten Stilschichten: „Die Gewohnheit ist zweyerley: die eine geht bei den geschicktesten Hofleuten, den guten Scribenten und dem vernünftigsten Theile vom Adel und Bürgerstande im Schwange. Die andre herrscht bey dem Pöbel, den einfältigen Scribenten, dem ungelehrten Adel, und den affectirten Hofleuten.“ Für die Dichtung, insbesondere die dramatische, heißt das: es wird nach oben gegen den Kurialstil, nach unten gegen den Stil der Wandertruppen vorgegangen. Die Naturnachahmung in sprachlicher Hinsicht findet ihre Richtlinien nicht mehr im decorum, sondern in einer „Ehrbarkeit“, die aus einer tendenziell für alle Menschen verbindlichen Vernunft stammt. (vgl. Diethelm Brüggemann, Die sächsische Komödie, S.19.) Wir können dies zum Anhaltspunkt nehmen, die nach Gottscheds Regeln eingerichteten Komödien nicht nur aufklärerisch, sondern auch bürgerlich zu nennen.