Zweites Beispiel: Pietistisches


Die frühesten von Werner Mahrholz in seinen Sammelband „Der deutsche Pietismus, Eine Auswahl von Zeugnissen, Urkunden und Bekenntnissen aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1921.“ aufgenommenen Texte stammen aus einer Sammlung anonymer Autobiographien, die seinerzeit Johann Heinrich Reitz (1655-1720) zusammengetragen hat. Ich habe daraus den Text gewählt, der noch am ehesten einen Anhaltspunkt für diese Untersuchung bot. Zunächst suchte ich Sätze mit Wörtern, die in der bisherigen Untersuchung bereits wichtig erschienen waren. Dann registrierte ich, ohne vorerst auf logische Beziehungen achtzugeben, den Kontext dieser Wörter und suchte daraufhin Sätze, in denen die Wörter aus dem Kontext wieder vorkamen. Schließlich suchte ich noch Sätze, in denen Wörter aus dem Kontext der im zweiten Durchgang aufgesuchten Wörter wieder vorkamen.


"Tugend", vor allem in Verbindung mit "(äußerlich)", ist der Oberbegriff von "Gerechtigkeit (bürgerlich)"; "Ruhm“ steht zu letzterem in kausaler Beziehung. Im Gegensatz zu dieser Tugend steht "Glaube":

„Von dem fünfzehnten Jahr meines Alters an war ich zur Tugend sehr geneigt; sahe aber damit weiter nicht, als auf eine bürgerliche Gerechtigkeit, wozu ich sonderlich getrieben wurde, um dadurch bei den Freunden Ruhm zu erlangen […]“ — „[…] ja ich erschrak, als ich merkte, wozu ich zuvor allein auf mein Wissen und äußerliche Tugenden hätte gebaut, ohne Christum durch den Glauben in mir wohnend zu haben.“


Es gibt je eine Bedeutungsvariante oder einen aktuellen Sinn von "Reichtum", von "Erbe" und von "Verlassung" (=Hinterlassenschaft), die, mit religiösen Begleitwörtern verknüpft, dem religiösen Bereich zuzugehören scheinen:

„Denn ich erkannte nun, […] welches sei der Reichtum seines herrlichen Erbes an seinen Heiligen […] Eph. 1.“ — „Zu dieser Zeit las ich fleißig die geistliche Verlassung Voetii und Hoornbeckii […]“:


Andererseits können auch die oben erwähnten "Tugenden" in ähnlicher Weise in Büchern vorliegen, nur eben mit "(Welt)" in Verbindung gebracht:

„[…] von welchem Buch ich viel Werks machte wegen der herrlichen Tugenden und schönen Sprüche der berühmten Weltweisen und gelehrten Männer, so darin vorkommen, […]“


Und jetzt der springende Punkt: Gesetzt den Fall, "sich zueignen" hätte auch damals seine Bedeutung unter den Handlungsschemata der Besitzverhältnisse gehabt, so läge zumindest dem Sinn nach eine Überschneidung dieses Bereichs mit einem Bereich von geistlichem "Erbe" bzw. weltlichen "Tugenden" vor. Es läßt sich leider aufgrund des spärlichen Befundes nicht genau angeben, inwiefern diese Gegenstände auch dem zwischenmenschlichen Verhalten zugeordnet sein könnten:

„Doch konnte mir nichts zueignen: und da eben wohl zuvor so viel gelesen hatte, So wollte mir nun doch nichts helfen noch nutzen;“


Sehr wahrscheinlich ist es allerdings nicht, daß es hier auf eine derartige Verschiebung des Sinnes ankommt, denn bei der zentralen Aufspaltung in äußerliche Welt und innerliches Gotteserlebnis werden nicht äußere und innere Reichtümer gegenübergestellt, sondern äußerlicher "Stand" und "lebendiges" Christsein:

„Nun bin ich lieber bei lebendigen Christen, sie mögen dem Fleisch und äußerlichen Stand nach so schlecht sein als sie immer wollen, als bei den herrlichsten Gesellschaften weltlicher Menschen […]“


"Arm (Mensch)" und "teilhaftig (Gnade)" sind als Unter-und Oberbegriff vereinbar:

„Wenn ich deren könnte teilhaftig werden, wollte ich gerne der ärmste und schlechteste [= schlichteste] Mensch sein!“


Hiermit wird etwas ganz anderes ausgesagt als in der obigen, des Besitzdenkens verdächtigen Überschneidung, besonders, da "teilhaftig" nichts vom Begriffsinhalt des ausschließlichen Eigentums an sich haben kann.


Der Autor und Herausgeber Reitz ist im Sinne dieser Untersuchung nicht typisch, aber seine Sammlung ist typisch für pietistische Massenliteratur. „Während der Pietismus, der sich von der protestantischen Kirche abzweigte, den höheren und mittleren Adel stärker als die unteren Schichten des Volkes ergriff, auch später mehr, als es gut war, um die Gunst der Mächtigen bemüht war, erwies sich der der reformierten Gemeindemitglieder als volkstümlicher“. (Köster, Albert: Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit, Heidelberg 1925, S.109.)

Ich wollte hier nicht aufgeben, sondern aus dem pietistischen Bereich noch einen Text suchen, der für unsere Untersuchung etwas mehr abgäbe. Als Autor bot sich August Hermann Francke an, weil er im Mitteldeutschen wirkte und noch nicht gar zu versnobt war. Er wurde 1663 in soziale Verhältnisse hineingeboren, die denen von Leiser und Carpzov zum Verwechseln ähnlich sehen. Das Gymnasium absolvierte er in Gotha, studierte in Erfurt und Kiel und wurde mit zweiundzwanzig Jahren in Leipzig Magister. 1686 gründete er eine Bibel-Lesegesellschaft, das Collegium Philobiblicum, das durch den Dresdner Hofprediger Spener Förderung erfuhr. Auf Betreiben Carpzovs sprach man ihm 1690 das Verbot aus, in Leipzig biblische Vorlesungen zu halten. „Spener, der inzwischen als Professor und Konsistorialrat nach Berlin berufen war, lud Francke nach Berlin ein, und von verschiedenen Seiten erhielt er ehrenvolle Anträge. Er schlug alles andere, auch lohnendere Angebote, aus und nahm die am 22.Dezember 1691 erfolgende Berufung zum Pastor in Glaucha bei Halle und Professor der orientalischen Sprachen an der neu zu errichtenden Universität in Halle an“. (Köster, Albert: Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit, Heidelberg 1925, S.109.)


Zu "Sünde" und "Laster", die in der vorliegenden Predigt unterschiedslos verwendet werden, gehören als Unterbegriffe "Unmäßigkeit", "Üppigkeit" und "Eitelkeit":

„[…] entweder zur Üppigkeit/ zur Eitelkeit/ zur Unmäßigkeit und dergleichen groben Sünden und Lastern mißbrauchen […]“


Zur „Unmäßigkeit" zählen wiederum "Fressen", "Saufen", "Geiz" und "Sorge (Nahrung)":

„Man kann eher die Menschen überzeugen/ die in Fressen und Saufen leben; dieweil solche Unmäßigkeit auch vom Gesetz der Natur gestrafft wird: aber einen Menschen zu überzeugen/ der im Geitz/ oder in Sorgen der Nahrung stehet/ dazu gehöret traun sehr viel.“


"Sorge (Nahrung" wird wiederum kausal abhängig gemacht von "Not", "Zeit (teuer)", "Vorrat (abnehmen)", "Gefahr", "Liebe (Gut)" und "Staat (führen)":

„Es dencket mancher Mensch/ er habe keine Sorge; […] es zeigt sich aber bei dem Menschen/ wann die Noth herankommt/ wann theure Zeiten einbrechen/ wann der äusserliche Vorrath abnimmt/ oder wann einige Gefahr hereintrit/ daß man umb das Seinige kommen möge/ […] – […] oder wenn sie das nicht thun/ mit der Liebe an dem zeitlichen Guth dermassen hangen/ daß ihre Hertzen mit Sorgen der Nahrung beschweret werden […]“ – […] indem sie meynen; sie müßten sich nach ihrem Standt halten/ sie müßten solchen und solchen Staat führen/ […] Wann mancher seinen Staat geringer anfienge/ […] so könnte er von mancher Sorge der Nahrung frey seyn: […]“


Zu letzterem gehören "Diener", "Kleider", "Kapital", "Acker", "Garten", "Schatz".

"[…] dieweil aber die Menschen […] gedencken/ da gehören so viel Diener dazu/ da gehören so viel Kleider dazu/ da gehören so viel Capital dazu/ so viel Aecker/ so viel Gärten/ daß man einen Schatz auff Kinder und Kindes-Kinder sammlen könne/ so ist dann kein Wunder/ daß sie ihr Hertz mit Sorgen der Nahrung beschweren; […]“


Die zum Teil schon im Carpzov-Leiser-Taxt vorhandenen Wörter "Garten", "Schatz", "Kapital" und dergleichen finden sich hier also letztlich auf "Sünde" bezogen. Sünde und Laster bezeichnen aber in religiösen Kontexten von alters her ein Verhalten, das nicht nur zwischenmenschlich, sondern auch vor Gott relevant ist. Unter diesem zentralen Gesichtspunkt findet hier zwar eine Überschneidung von Bereichen statt; aber es werden die Objekte, die man besitzen kann, sehr abgewertet, jedenfalls in Verbindung mit dem Verhaltensschema "Sorge".


Ein Gleichnis zeigt, wie durch die Orientierung auf Gott der Sinn einzelner Bezeichnungen für Güter differenziert wird:

„[…] indem es eben sey/ als wann einem wäre aus einem schmutzigen Beutel eine grosse Summe Goldes von jemand geschencket worden/ und derselbe wollte darnach bekümmert seyn/ ob er dann nun auch den Sack mit bekommen werde. […] der ihm so grossen Reichthum und Geschencke gegeben/ der würde ihm ja auch einen so schmutzigen Sack schencken: also ungereimt bist du lieber Mensch hierinnen/ daß du gedenckest; woher soll ich mir doch Kleider und Unterhalt nehmen? Bedencke/ daß Er dir den Leib und das Leben gegeben: der dir nun das Grössere und Wichtigere gegeben/ derselbe wird dir dann auch das Geringere geben.“

"Reichtum" wird durch den Vergleich analog gesetzt, aber nicht gleichgesetzt, mit "Leib" und "Leben". Es handelt sich also nicht um eine Übertragung auf geistliche Güter wie bei Reitz; im Gegenteil: "Gold (große Summe)" ist ein Unterbegriff dazu. Daran erkennt man schon einmal, daß die Überschneidung der Bereiche bei Reitz ein einmaliger, metaphorischer Akt der Sinngebung war. Was hier nämlich sonst als Unterbegriff zu "Reichtum" in Frage käme, "Kleider", "Unterhalt", muß sich im Gleichnis den Bezug zu einem "schmutzigen Beutel" gefallen lassen. Insofern allerdings der ausgearbeitete Vergleich das Leben als von Gott geschenkten Reichtum erscheinen läßt, wird bei unveränderter Bedeutung der Sinn des Wortes "Reichtum" differenziert. Es kommt eben darauf an, wer der Geber ist: einerseits Gott, andererseits ein Jemand, irgendein Mensch. Vielleicht handelt es sich beim Sinn dieses Begleitworts um den gleichen, der bei Reitz zu "weltlich" gehört. Daraus wäre eine weitgehend symmetrische Aufspaltung der Güter und Verhaltensweisen zu schließen, nach dem Grundgegensatz: einerseits die Sünde der Sorge um die Nahrung, andererseits die Sorglosigkeit, die aus dem Glauben kommt.

Es gibt im Pietismus eine Güterordnung, die der bei Carpzov-Leiser zumindest nicht widerspricht; Geschenke Gottes, nämlich Leib und Leben, stehen obenan, dann folgen Kleider und Unterhalt; Reichtum gehört, in der Form von Gold, zwar auch zu den relativ größeren Gütern, ist aber normalerweise mit weltlichen Dingen in Verbindung gebracht, und wie sehr "weltlich" von "teilhaftig (Gnade)" unterschieden ist, kann man bei Reitz sehen. So wie es bei Leiser ein zeitliches Gut gibt, das zu besitzen ein Pastor sich nicht schämen muß, wenn es nur kein großes Gut ist, so gibt es bei Francke eine zulässige Sorge. Damit nimmt er es aber genau: „Selbst viele Lehrer und Prediger haben ihren Geitz unter den Deckmantel der zuläßigen Sorgen versteckt.“ Wir kennen schon jemanden, auf den dies zutreffen mochte, einen, den Francke auch kennengelernt hatte, besser, als ihm lieb war: Carpzov selber.

Und noch etwas: Leisers harmloser Garten ist bei Francke, jedenfalls im Plural, in Beziehung gesetzt zu einer Sünde, und zwar zu einer groben.


Zunächst scheint sich die symmetrische Gegenüberstellung mit folgenden lexikalischen Schemata festzusetzen: "Christ sein" steht in kontradiktorischem Gegensatz zu "Heide sein" und ist der Oberbegriff zu "Gutes tun":

„Solche Leute/ die in der Bauch-Sorge stecken/ pflegen wo1 zusagen/ was hab ich dann Böses gethan? Ich bin ja ein Christ wie andere/ ich gehe ja zur Kirchen/ zur Beicht und zum heiligen Abendmahl/ ich bete und singe/ thue ja auch noch diesem oder jenem gutes/ wie sollte ich dann ein solcher Unchriste und Heyde seyn? Aber desto gefährlicher ist es/ […]“


Anhand einer Parallelstelle, an der sich ebenfalls "Gutes tun" und "stecken in (Bauchsorge)" nicht ausschließen, ist allerdings zu sehen, daß für Francke zwar eine Bedingung für das Christsein unter anderen die Wohltätigkeit darstellt, daß sie aber nicht hinreicht – daß also auch ein Heide genannt werden kann, wer alle die aufgeführten traditionell christlichen Verhaltensweisen zeigt:

„[…] daß die allerreichsten am allertieffesten in der Sorge der Nahrung stecken/ daß wann sie gleich Geld und Guth/ Silber und Gold zusammen gehäuffet haben/ ihnen doch das Hertze wehe thut/ wann sie irgend einen Verlust im zeitlichen haben sollen/ oder wann sie ihrem armen Nächsten davon gutes thun sollen.“


In ähnlicher Weise wird bei Reitz der Gegensatz von Glaube und Gnade einerseits und äußerlicher Tugend sowie bürgerlicher Gerechtigkeit andererseits dadurch etwas aus dem Gleichgewicht gebracht, daß "Leben (fromm)" und "Glaube" in polar-konträrem Gegensatz stehen und nicht etwa als Unter- und Oberbegriffe aufeinander bezogen sind, wie es einem landläufigem Vorverständnis entsprechen würde.

"Wehe tun (Herz)" erscheint als die Folge der Und-Verknüpfung von "zusammenhäufen (Geld und Gut)" und "Gutes tun". Letztlich bildet den Oberbegriff dazu "Heide sein". Es ist aber nicht so, daß Francke hier schon gegen solche Leute zu wettern hätte, die mit einer Vereinigung der Bereiche im Sinne eines "Besitzdenkens" ernst gemacht hätten. Das wäre nur der Fall, wenn das Zusammenhäufen von Gütern als Voraussetzung für Wohltaten angesehen würde. Doch in dieser Hinsicht ähnelt der Sprachgebrauch dieser ersten Pietisten noch eher der lutherischen Überlieferung; Francke selbst war ja auch ursprünglich lutherisch-protestantischer, vom Konsistorium wohlbestallter Prediger. Sie richten ihr Verdikt gegen Handlungsschemata, die man schon zu Luthers Zeiten als bloße "Werkfrömmigkeit" bezeichnet hat. Eine sehr bezeichnende Veränderung ist allerdings schon zu beobachten: "Gutes tun" und "austeilen (Almosen)" sind bei Carpzov Folgen von "bereuen", und dieses steht in kontradiktorischem Gegensatz zu "zusammensuchen (Vermögen)". Das heißt: Verdammungswürdiger Reichtum und Almosengeben sind zweierlei. Wer Almosen gibt, kann nicht verdammenswürdig sein, denn er bereut ja. Diese logische Verbindung bestreitet Francke. Es kann einer Gutes tun und trotzdem ein Heide sein. Darauf scheint das Auftreten der Begleitwörter "Herz“ bei Francke und "äußerlich" bei Reitz zusammenzuhängen. Schon Leiser zitiert aus dem VI. Kapitel des ersten Paulus-Briefes an Timotheus; bei Francke lautet das Zitat: „Es ist ein großer Gewinn/ wer Gottseelig ist/ und lässet ihm begnügen.“ Bei Leiser war von "gottselig" nicht die Rede; für Francke ist es die Hauptsache.


Zuletzt noch einige Bemerkungen über das Verhältnis pietistischer Aussagen zu solchen der zeitgenössischen aufklärerischen Theorie. Wenn wir bei Francke lesen:

„Man kann eher die Menschen überzeugen/ welche in Fressen und Sauffen leben; dieweil solche Unmäßigkeit auch vom Gesetz der Natur gestrafft wird: aber einen Menschen zu überzeugen/ der im Geitz/ oder in Sorgen der Nahrung stehet/ dazu gehöret traun sehr viel“ — so scheint sich dies mit Locke's Ansicht zu berühren, daß ungehemmte Aneignung nicht gegen die Natur sei. Die Bewertung ist aber hier eine gänzlich andere. Was nicht gegen die Natur ist, kann gleichwohl Sünde und darum unerlaubt sein. Einen "Naturbegriff" gibt es in der Theologie längst; aber es ist eine Natur, die den Sündenfall hinter sich hat. Insbesondere die Pietisten scheinen einer aus dem Naturrecht abgeleiteten Moral lange mißtraut zu haben, in der Meinung, „daß der natürliche Mensch nicht begreift die Dinge des Geistes Gottes; denn sie sind ihm eine Torheit, und er kann sie nicht erkennen, dieweil sie müssen geistlich gerichtet und beurteilet werden. 1.Kor.2.14.“