Soziolekte


Es steht zur Debatte, ob Gottscheds hochsprachliche Bestrebungen an den vorliegenden Komödien wiederzuerkennen sind. Davon abgetrennt bleibt vorerst die Betrachtung der ästhetischen Ordnung in der Sprache; es gibt aber ein seit langem ausgebildetes ästhetisch determiniertes Sprachrepertoire der Komödie, das die Aufnahme wirklicher Soziolekte ins Repertoire steuert.

Der erwünschte style coupée, von Marivaux oder Destouches beeinflußt, findet sich am ausgeprägtesten da, wo die Gottschedin vernünftige oder gesellschaftlich höherstehende Personen sprechen läßt. (Etwa in „Testament“.) Er ist der mittlere Stil der höflichen Unterhaltung, zum Teil echt sententiös:

„Genugthuung? Genugthuung? Ich weis von keiner andern, als daß man die Kunst erfinde, zu machen, daß geschehene Sachen nicht geschehen seyn. Sonst ist gar keine Genugthuung in der Welt möglich.“ (Frau von Ahnenstolz, „Heirat“, I, 2.)

In diesem Stil treten keine Alamode-Wörter mehr auf, es sei denn wegen bewußter Satire. Besonders modellhaft gerät der Gottschedin dieser Stil, wenn sie bemüht ist, den einfachen Plauderton junger, unverbildeter Mädchen aus gutem Hause zu treffen. Aber das gehört schon ins Ästhetische. („Die jugendliche Naive“.) Auch Quistorp in „Bock“ hat diese einfache Syntax, diese bequem und locker zu sprechenden Sinnschritte mit einem gewissen Einschlag von der Studentensprache her, ohne Zeremoniell. Er bemüht sich nicht im mindesten um Galanterien, wie noch Picander. Vielleicht klingt es bei ihm gerade deswegen nicht so streberisch höfisch, weil er kein gesellschaftlicher Neuankömmling war. Was Schlegels „Müßiggänger“ betrifft, so läßt sich daran eben dieses Ausgangsrepertoire hinter der vorwiegend ästhetischen Gestaltung erkennen.

Hin und wieder geht es zwar auch in diesen Komödien noch darum, das richtige Kompliment recht zierlich anzubringen. Da sind noch Gruß-, Dank- und Überreichungsformeln zu beachten, sowie das, was wir auch heute noch Komplimente nennen (vgl. „Heirat“). Die Gültigkeit dieser Formeln ist allerdings nicht so strikt eingeschränkt, wie es die Komplimentierbücher wollten. Eine allgemeine Anhebung des decorum ist übrig geblieben. Selbst unter Bürgern sprechen Söhne ihre Väter mit „Sie", Väter ihre Söhne mit „Ihr“ an. Von Adligen zu Bürgern besteht der Abstand des „Ihr“ oder „Er“. Zu Dienern sagt man „Ihr“ oder „Du“, Diener untereinander duzen sich. Auch eine Mutter nennt ihren Sohn „Du“. Die letzteren Beispiele haben Tradition; neu erscheint unter Bürgerlichen jene ausgesucht höfliche Art mit Leuten umzugehen, denen man am liebsten an die Gurgel möchte: „Und sie sehen, daß ich nirgends lieber bin, als bey ihnen, wenn es mir nur möglich ist“ (s. „Austern“, Szene 13, Herr Liebegern). Siehe auch die Worte des Herrn Schmausefrey in Szene 19, die er aber aus einer Stellung der Überlegenheit spricht. Da wachsen ciceronianische Redeblüten fast wie bei Talander, was sonst gar nicht die Regel ist. Wie Gottsched es vorzeichnete, so wird der ciceronianisehe Stil zwar gelobt, aber kaum gebraucht. In der Gerichtsrede ist er eine französische Mode, die vor deutschen Gerichten nicht angeht und bedeuten würde, daß man Perlen vor die Säue schmisse (vgl. „Bock“).

Es kommt, vor allem in „Hausfranzösin“, eine Art Biedermann-Stil vor, der um nichts besser ist als der Stil der Bauern bei Weise, ohne jede elegantia. So sprechen auch Diener untereinander (vgl. „Heirat“). Er wird aber oft da angewendet, wo sonst respektable Leute auf gut altmodische Art einmal lospoltern. Grobianismen und Flüche wie „Zum Henker!“ charakterisieren zwar, aber sie sind nicht durchwegs satirisch aufzufassen. Es könnte sich teils um theatralische Konvention, teils um wirklichkeitsgetreue Teile des Repertoire handeln. Von dem tatsächlichen Erfolg der zeitgenössischen Kultivierungsbestrebungen darf man ja wohl etwas skeptisch urteilen.

In „Witzling“ wird ausnahmsweise auch aus dem Repertoire eines Dialekts geschöpft, und zwar des niedersächsischen. (Gewisse Redensarten, und Verwechslung von „mir“ und „mich“.) Ich würde dieses Beispiel nicht in Bezug zum Repertoire der Komödiensprache bringen, sondern im Zusammenhang der aktuellen Literatursatire belassen, wenn nicht die Gottschedin auch an anderer Stelle, in ihrem ersten Lustspiel „Die Pietisterey im Fischbeinrocke“, einen Dialekt herangezogen hätte, und zwar zu ganz anderen Zwecken. Dialekte bleiben also bedingt komödienfähig.

Berufssprachen und andere enger begrenzte Soziolekte haben schon seit je zur spottenden Nachahmung gereizt, so daß im Sprachrepertoire der Komödien manches Traditionelle zu finden sein mag, das sich von tatsächlichen Beobachtungen aus der Abfassungszeit nicht leicht trennen läßt. Immerhin ist das Latein der Ärzte und Juristen eine wohlbekannte Sache (vgl. „Hypochondrist“, „Testament“). Wenn allerdings Unterschiede zwischen Mediziner- und Juristenlatein festzustellen sind (vgl. „Bock“), so scheint genauere Beobachtung zugrunde zu liegen. Gänzlich neu im Repertoire und höchstwahrscheinlich wirklichkeitsgetreu ist dagegen die Berufssprache der Schneider, mit vielen falsch geschriebenen französischen Modetermini (vgl. „Bock“). Besonders ausgiebigen Gebrauch vom Juristendeutsch macht Quistorp, indem er den aus der Mode kommenden tatsächlichen Kurialstil angreift: die höchst kanzlistenmäßig verschraubte Sprache, wie Blackall sie beschreibt, die nicht im mindesten höfisch, sondern wie es heißt, „legal“ und „praktisch“ ist (vgl. auch „Testament“). Quistorp verlegt sich überhaupt sehr auf Wiedergabe von Sondersprachen. Sein Studentendeutsch in „Austern“ zeichnet sich durch gelegentliche bewußte Verstöße gegen das decorum aus — was man noch heute „burschikos“ nennt — und durch die spaßige Verdrehung von Zitaten aus dem Lehrstoff. Es ist dabei aber keineswegs so sehr eine Sondersprache, daß man es aus dem Sprachgebrauch der Gebildeten, auf den hin alles konvergiert, ausgrenzen müßte. Die genannten Sondersprachen werden nicht so unvermittelt und bis zum Verunmöglichen der Kommunikation gegeneinandergestellt wie bei Gryphius. Selbst die wüste, arrogante, ohne jeden Euphemismus beleidigend deutlich auf Willensbekundungen hinauslaufende Sprache der Soldaten (vgl. „Testament“ und „Unempfindlicher“) erscheint durch moralische Anstrengung verbesserungsfähig und hängt diesen Leuten nicht gegen ihren Willen als Merkmal ihres Standes an. Im ganzen hat also die Aufnahme aller dieser verschiedenen Stile und Soziolekte ins Komödienrepertoire eine vereinheitlichende Tendenz in Richtung auf Gottscheds Vorstellungen von der Hochsprache, auch gerade dadurch, daß Abweichungen in diesem Zusammenhang zur ästhetischen Verwertung im Sinne des Komischen dienen. Hingegen ist die Sprache der Komödien nicht ideologisch in dem Sinne, daß nur nach der Norm gesprochen würde.