Albert dans le Tram ©️Werner Kügel 2024



Albert war lange Zeit nicht mehr Straßenbahn gefahren. Er sah es an der Verkäuferin im Kiosk. Der Bildausschnitt über den Bonbons und Zeitschriften war eigentlich derselbe, das  Verhältnis von Oberkörper, Kopf, Frisur im Rahmen des Fensters so vertraut, man hätte ihn über die Blickbilder zur Deckung bringen können, die er früher im Vorbeigehen geschnappt hatte; diesmal war keine Traumbeute draus geworden. Das war aber auch kein Mädchengesicht mehr. Jetzt konnte er ja mal zögern, vorgeben, eine Zeitschrift ins Blickfeld zu nehmen — obwohl, wozu jetzt noch die Scheu. Sie hatte einen Ring an der rechten Hand, volle Brüste bekommen, mehr Schminke aufgelegt, Linien von den Mundwinkeln abwärts, und ihren wie auf Abruf bereiten leeren Blick hatte sie verloren, spähte richtiggehend, ob er nun schon was kaufen werde. Nee, danke. Die Ehe mit irgendeinem schweinsgesichtigen Dutzendkerl und die Wirklichkeit des Zeitschriften- und Tabakgeschäfts haben die illustrierten Träume, den blauen Dunst vor der Zukunft eines hübschen „einfachen“ Mädchens weggewischt. Die alte Frau ist auch nicht mehr da. Schwenk nach links zum Haltestellenpfahl.


Warten. Das war er als Autofahrer auch nicht mehr gewöhnt. Das Gesicht wird starr davon, man hat mit sich selbst und anderen nichts zu tun. Die Gedanken wehen wie zufällig heran, noch unkontrollierter, als wenn man zuhause ins Dösen kommt. Jeder kleine Umweltreiz bringt neue, jedenfalls anfangs. Später haben die Leute dann ein Stadium der Versunkenheit erreicht, daß sie aussehen wie Schlafende, oder jedenfalls genauso schutzlos ihre Träume im Gesicht stehen haben. Manchmal erinnert sich einer, daß man ihn beobachten kann, und versucht, beschäftigt auszusehen, ganz schuldbewußt. Man will ja auch wohin fahren. Aber das Warten macht einen ganz durchlässig für die Zeit. Außer, es kommt ein Bekannter heran, mit dem man plaudern kann. Da sind sie dann ganz erleichtert. Die andern auch. Sie können unbeteiligt schauen und zuhören. Oder, wenn gar die Straßenbahn kommt.


Albert lief dahin, wo wahrscheinlich die Eingangstür zum Halten kommen würde. Er erkannte in jeder seiner automatischen Reaktionen die alte Zeit wieder, in der er jeden Tag mit der Straßenbahn zur Schule gefahren war. Er konnte sich jetzt davon absetzen und verstand plötzlich auch, worum es hier ging. Die Straßenbahn vereinzelt die Leute durch Langeweile und pfercht sie dann zusammen, macht sie empfindlicher für Eindrücke und eifersüchtiger aufeinander; jeder Waggon ist ein psychologischer Experimentierkasten, in dem jeder von der Zufälligkeit des Beisammenseins abgehalten wird, Kontakt mit andern aufzunehmen, aber ständig darauf achtgeben muß, daß er sich nur ja keine Blöße gibt,

indem er etwa die Höflichkeit verletzt. Alle warten auf Abwechslung. In Ruhe gelassen werden und aufpassen. Reibungslos befördert werden. Risiko, den Unwillen einer Mehrheit zu erregen, die dasselbe wollen. Lächerlich zu werden. Berechenbar ist man ohnehin schon, vor allem innerhalb einer Zufallsgesellschaft von Anonymen, die Tag für Tag zur gleichen Zeit die gleiche Linie benutzen.


Albert entsann sich, daß er, wie auch jetzt, immer nach außen die Schutzfassade eines unbewegten und ausdrucklosen Gesichts aufgebaut hatte, bis er sich kaum mehr erkannte, wenn er sich in einer der Scheiben gespiegelt sah. Nur fiel ihm das jetzt in seinem gesetzten Alter leichter als früher, als er ständig von einer Geilheit in die nächste Aggression fiel, innerlich Kämpfe bestand oder Sehnsucht erlitt, noch nicht wußte, was er darstellen sollte, um als normaler Zeitgenosse glaubhaft zu sein, sich ständig beobachtet fühlte und fürchtete, ohne Anlaß oder mit Anlaß rot zu werden. Und beinah wär er wieder in die alten Verwirrungen zurückgefallen, wenn er sich nicht erinnert hätte, daß Jahre vergangen waren, er sich verändert hatte, sein Aussehen schon auf solche Weise charakteristisch geworden war, daß man nach dem ersten Blick zu weiterem forschenden Beobachten keinen Anlaß

finden konnte. Verschlossen blicken — das konnte er jetzt erst. Auch zur Offensive übergehen und andere ungescheut beobachten konnte er jetzt erst, und das war wohl, wenn man es durchhielt, für Selbstbewußtsein und Zeitvertreib das Beste.


Der Straßenbahnwagen hielt noch an, weil er hier an der Endhaltestelle war, an der sich der Fahrer und der Schaffner des Beiwagens ihre Zigaretten zur Brust führen mußten. Hin und wieder merkte Albert, wie sich die Federung dieser Kästen verbessert hatte seit seiner Zeit, dann nämlich, wenn wieder so ein fettes altes Weib mit koffergroßer Einkaufstasche heraufwuchtete. Überhaupt sammelte sich nun auf der Höhe des Vormittags eine Kollektion der Häßlichkeit um ihn. Konnten denn diese Leute gar kein bißchen auf sich achtgeben? Von der Kleidung mußte man absehen (diese ewig grauen, zu langen Mäntel, die Kopffetzen, braunen Röcke), weil das ja Geldsache ist, und über den Geschmack kann man dann nicht streiten, wenn jemand gar nicht an Maßstäbe gelangen kann oder an die Zeit, den seinen zu verbessern. Aber: muß man, wenn man älter wird (und arm und vielbeschäftigt ist), sich

so traurig vernachlässigen, in seiner ganzen Lebensweise, daß man eine Figur kriegt wie ein

Mehlsack oder wie ein vollgeschissner Strumpf? Gegen die Falten darf man nichts sagen, die schreibt das Leben — dachte Albert. Oder hat das verkniffene Wurschteln seinen Ausdruck im Einschrumpfen der Lippen, macht sich die psychische Lage doch unwillkürlich im Gesicht bemerkbar? Vide: Wilhelm Reich, Die Funktion des Orgasmus, das Kapitel über muskuläre Manifestationen von Neurosen. Und wenn das Leben in die Gesichter schreibt — ist es so wenig das ihrige, daß sie keine Schuld hätten an ihrem Geschau? Man muß sich erstaunen über so viele ruinöse Menschen. I had not thought death had undone so many. Die zentimeterlangen Barthaare hätten sich diese Hexen wenigstens rasieren können. Angst, daß sie dann schneller nachwachsen? Aberglaube. Dann könnte man sie auch wieder abschneiden. Aber regelmäßig rasieren tut sich keine Frau. Nach unseren Vorstellungen trägt aber eine Frau auch keinen Bart. Ach was, Frauen zu sein, darauf haben die doch noch nie Wert gelegt, höchstens ein paar Jahre lang, als sie noch auf etwas warteten, wie das Mädchen am Kiosk, und das kam dann ganz anders. Da habt ihr eure Hauskreuze, ihr armen Trottel. Kein Wunder, daß ihr mit fuffzich impotent seid. Aber warum sind die Weiber frigid? Ihr habt alle noch nie lieben gekonnt. Vide Reich. Aber geil seid ihr geblieben. Darum verkaufen’s euch so schwungvoll diese Illustrierten.


Den Schaffner, als er hereinkam, den kannte Albert. Sowas kommt ja vor, wenn man jahrelang auf derselben Linie gefahren ist. Auch der war natürlich älter geworden, kein flottes Uniformbürschchen mehr, mit nunmehr massivem Gesicht, aus dem die kecke Nase unpassend abstach, eher ein Exempel der Verrohung. Man sollte sowas nicht immer wieder konstatieren; man könnte sonst meinen, mit der Welt überhaupt gehe es bergab. Auch, daß Älterwerden Schlechterwerden sei. Kann man ja nicht durchaus annehmen. Bloß, wenn es eben mit dem Wiedererkennen so dick kommt wie an einem solchen Tag, an dem man eine lang unterbrochene Tradition fortsetzt, da stößt man sich einfach an allem. Albert, nun schon ganz beschwichtigend und seinen Grant auf ruhigere Bahnen lenkend, war doch momentan wieder geschockt, als der Schaffner irgendetwas Unwirsches, was man mehr ahnte als

verstand, ins Mikrophon raunzte. (Ein letzter herbeigehaxelter Eiliger wollte noch Fahrgast sein und pochte von außen an die Falttür, aber da gab es nichts, der Wagen fuhr los.) Und grade dieser Schaffner hatte früher manchmal einen Scherz vom Stapel gelassen, daß man hätte meinen können, Straßenbahnfahren mache Spaß. Aber das ewige Befördern von Zufallsgästen auf den alten Bahnen (vielmehr als Zufälligen behandelten Stammgästen und wirklich Zufälligen) — diese unproduktive Dienen, das so auffällig Dienst an allen Hergelaufenen ist, das macht den, der’s muß, und der den andern also immerhin seine Pflicht voraushat, schroff, ruppig, muffig. Der zunehmende Abstand des Schaffners von den Fahrgästen: Früher, wenn ein Mädchen, eine Traumgestalt der Vorstädte, Figur, Kleid, Näs’chen, vielleicht ein wenig Parfüm, im Kasten mit dabei war, ob er nicht als gelangweiltes

Mannsbild ein wenig aufgelebt hat, ein bißchen anbandeln wollte, natürlich gerade so leicht und flüchtig, wie eine Bekanntschaft zwischen drei, vier Stationen sein kann, mit einem Hauch von mutwilliger Abenteuerlust dessen, der auf der Fahrt ist? Geht ja nicht, auf die Dauer. Ist nicht dienstlich. Und Beruf ist ja sowas Ernstes. Trägt vielleicht sogar Beschwerden ein, von jeder alten Jungfer, jedem versauerten Schulmeister, die glauben, ihre Karten nicht rasch genug zu bekommen. Auch keine jovialen Sprüche mit den Älteren: Na, Mutter, hopsa, Vater, geht’s? Wo woll’n wir denn hin? Zu oft an die Falschen geraten. „Ich habe mit Ihnen noch nicht Schweine gehütet.“ Vollends die gut Gekleideten (wenn sie auch immer seltener hier wurden), die Erfolgstypen oder Soignierten: Immer dieses Lakaiengefühl. Aber denen werden wir zeigen, wenn sie sich dumm anstellen! Richtige Bosnickel werden die Schaffner mit der Zeit. Sie, die einzigen, die hier mit allen zu tun haben, sind abweisende bis tyrannische, typisch subalterne Amtspersonen in hohem Grade. Also will hier keiner von sich aus mit andern zu tun haben. Wohl fühlt sich hier nur der, der einen Freund mit dabei hat.̈ Der, der eine Freundin mithat, fühlt sich schon weniger wohl. Die, die einen Freund oder einë Freundin hier trifft... das kommt darauf an. Manche Weiber haben ja gar kein Gefühl, wie sie sich durch ihr Geschwätz lächerlich machen oder andere Leute nerven, meinte Albert.


Die ungeschickteHöflichkeit der Leute, die sich, einander wildfremd, Sitzpätze anbieten. "Gehen Sie her, setzen Sie sich doch hin." — "Danke sehr, sehr freundlich, aber ich steig' sowieso gleich aus."— "Das macht doch nichts." Ganz enttäuscht, fast anmaßend: man war ja schon aufgestanden). Also setzt sich der andere. Dann steht der eine stumm dabei —was gäb's noch zu sagen? Schaut stur in die Luft, die nächste Station kommt, der andere steht auf, lüpft den Hut: "Nochmals vielen Dank" und wackelt ab. Kurz und verlegen haben sie sich angelächelt. Ach, wehe, wenn ein müdes Schulkind beim Anblick eines grauen Hauptes, einer Wampe und widerlicher Krautstampfer nicht aufstünde! Anstand wird verlangt von der Jugend; den haben sie selber nicht.


Es geschieht alles so zwanghaft, eckig, so ohne Gefühl für Formen, die den Menschen dienlich sind, zu Gebote stehen, statt ihn sich zu unterwerfen, ohne Art. Das arme, arme Geschmeiß, das sich selbst nur schemenhaft wahrnimmt, weil es sich viel zuviel sagen läßt, sagen lassen muß. Schon diese Reklame wieder an den Dachkehlen. Der Stil des ganzen heutigen Deutschland drängt sich hier auf: harte Kanten, weiße Flächen, bunte Augenfängerei. Alles nicht namhaft zu machen, jedenfalls mit keinem Namen, der mehr als zufällig wäre. Nichts von dem ganzen staunenswerten Wiederaufbau, das nicht

unpersönlicherweise sein Dasein entweder dem Markt oder den Behörden als entrückten,

wunschzettel-gewährenden Mächten verdankte. Und die Plebs hat alldem als ihr Eigenes nichts als ihre traditionelle Schlamperei entgegenzusetzen.


Albert fuhr zu seiner Auto-Reparaturwerkstatt. Da ihm dort eine überraschend hohe Rechnung präsentiert wurde, faßte er den Entschluß, seinen Wagen zu verkaufen und sich bis auf weiteres wieder den öffentlichen Verkehrsmitteln anzuvertrauen. Das Sinnieren fiel ihm von nun an leichter, und er war nicht mehr in der Lage, seine Aggressionen so direkt und gefährlich abzureagieren wie am Steuer.