Anti-Märchen ©️Werner Kügel 2024


Auf einer kleinen Insel in einem großen, großen See lebte einmal der junge König Erbsenwurst, als es in der ganzen Welt schon lange keine Königreiche mehr gab. Er wußte selber nicht, wie er auf seine Insel gekommen und ihr Herr geworden war, und nur wenige von seinem Gefolge erinnerten sich daran, denn als er noch ganz klein war, hatte ihn sein Vater, der ein Schmied war und ihn bei seinem Amboß nicht gebrauchen konnte, dort ausgesetzt, und seine Mutter war auch auf ihrem schönen Pelzmantel davongeschwommen und hatte gesagt: „So sieh nur zu, mein lieber Sohn Erbsenwurst, wie du vorankommst in deiner kleinen Welt; bei uns würdest du es ja doch zu nichts bringen als zu einem schlechten Puppenspieler.“ Und sie ließen ihm ein paar von seinen Puppen zurück, und er machte sie zu seinem Staatsrat, und zu seinen Lakaien, und zu seinen Ohrenbläsern, und auch für Küche, Keller, Feld und Weide waren noch Puppen da, die waren sein ganzes Volk. Da ging es wohl bisweilen in seinem Schloß recht seltsam zu: Statt Mehl buken die Hofkonditoren Sägespäne zu Brot, der Mundschenk

hielt Petroleum für den bekömmlichsten Alkohol, der Kammerdiener hatte immer schwarze Hände, die Schranzen wußten nichts Geistvolleres zu erzählen als Frau-Wirtin-Verse, und gar die würdigen Herren des Staatsrates — die konnten mit aller Anstrengung keine anderen Gedanken zuwege bringen, als die sie schon immer gedacht hatten. Das war ein recht lustiges und kurzweiliges Leben, wenn auch König Erbsenwurst immer kleiner wurde statt größer, und wenn auch mit der Zeit mehr Fledermäuse an den Dachsparren des Palastes hingen als Ziegel darauf lagen.


Aber eines Tages ging der junge König an einem Waldrand seines Inselreiches entlang spazieren, und dieses Fleckchen Erde kannte er noch gar nicht, blieb daher öfters verwundert stehen und fragte sich: „Wie wird mir’s auf einmal so bang um die Milz herum, fast wie früher in meines Vaters Haus; wahrhaftig, ich habe mich verlaufen und wußte es nicht.“ Als er noch um sich schaute, gewahrte er auf einem Tollkirschenstrauch einen wunderschönen gelben Vogel sitzen, der sang: „Willst du nach Hause kommen, so nimm die Elfe mit, kiwitt, kiwitt.“ Erst konnte König Erbsenwurst nicht glauben, daß er gemeint sei; aber bald faßte er sich ein Herz und sprach: „Kleiner hübscher Gelbvogel, sage mir, wer ist denn diese Elfe, und wie kann ich zu ihr kommen?“ — „Oh, nichts einfacher als das,“ erwiderte der Vogel, und er flog vor ihm her, bis sie zu einer schwarzen Lichtung kamen. Da badete die kleine Elfe Sternschnuppe ganz nackt und ganz allein in einem großen Bottich Abspülwasser und war sehr traurig. In früheren Zeiten waren wohl zuweilen fremde Ritter über den See gekommen um sie zu befreien, aber die hatte sie alle aus Versehen in der Tunke ersäuft, und nun mußte sie ewig die rostigen Eisenpanzer blankscheuern und von den ausgelaugten Knochen durfte keiner verlorengehen. Fremdartig kam dies dem jungen König vor, doch er stieg zu der Elfe in den Seifenschaum hinein, wie man es so oft im Kino sieht, stieß all das Blech beiseite und schickte sich an, das Fräulein um die Hüften zu fassen. Doch, oh weh, da war sie über und über ganz glitschig und glibbrig, überall, so daß sich Erbsenwurst nicht wenig

darüber entsetzte. Er nahm deswegen sein Federmesserlein und ritzte ihr weißes Kehlchen damit, nicht schlimm, aber sie mußte elendiglich daran verbluten.


Da nun dies geschehen war und aus der schwarzen Lichtung eine rote Lichtung geworden war, tat es einen gewaltigen Donnerschlag, und seine Majestät stand wieder vor seinem Schloß. Doch, wie sah es aus! Um und um wuchsen Brennesseln aus dem Beton, und der Südsüdwestflügel war schon halb eingestürzt. Jammernd und

frohlockend lief der ganze Hofstaat heraus und feierte die Wiederkunft des Königs nach sieben langen und sieben kurzen Jahren. Den kümmerte alles nicht sonderlich, er ging auf sein Schlafgemach und ließ nur seine weisesten Räte zu sich kommen. „Sagt an, ihr Alten, was dünkt euch: Soll ich hinfort nackt gehen, oder soll ich meinen ganzen königlichen Palast abreißen lassen, oder soll ich versuchen, über den See ins Vaterland zu schwimmen?“ Da rieten sie: „Nicht sollst du deinen allerhöchsten Leib entblößen, du bist ja ohnehin wieder kleiner geworden. — Ihro Majestät wollen bedenken, wo Ihro Majestät wohnen wollen, wenn der Palast nicht mehr dasteht. — Der See hat eine Tiefe, Herr König, die noch niemand ausgelotet hat.“ — „So werde ich wohl alles miteinander tun müssen,“ erwiderte Erbsenwurst. Da raffte der älteste und schlohweißeste Rat ein paar Worte im Munde zusammen und sprach: Weißt du nicht, oh König, daß du nirgendwo sonst König sein kannst, denn die alten Potentaten sind alle gestorben, aber du selbst hast deine Würde auch nur vom Kuckuck. Mein Rat ist: Lasse den Wald abholzen.“


So wurde es auch getan. Und von einem Tag auf den andern wurde der König Erbsenwurst schwermütig, so schwermütig, daß es zum Erbarmen war. Er aß nicht mehr, er trank nicht mehr, er soff bloß noch und vertilgte Mengen wie ein Wolf, und sein ganzer Hofstaat konnte nicht genug tun, ihm Petroleum und Sägespäne

heranzuschaffen. Als er wieder ein gutes Stück kleiner geworden war, bestieg er eines Tages den höchsten seiner Berge, um seine Insel im Umkreis zu sehen. Gar wunderlich kam es ihm vor, wie die Steine übereinander lagen, und er dachte bei sich: „Wie wird mir auf einmal so beklommen in der Gegend, wo meine Leber sitzt; ich wette, mir wird heute noch etwas zustoßen, aber ich weiß nicht was.“ Im gleichen Augenblick sprach eine Dohle neben ihm: „Ja wie, ja wie, suchst du die Nymphe Rosalie?“ Das war zwar falsch gesagt, aber es reimte sich. „Eigentlich suche ich sie nicht, Herr Dohlerich,“ sagte der König, „aber weil ich schon hier bin, soll mir’s gleich sein.“ Und er stieg hinter dem schwarzen Vogel bis unter den Gipfel hinan, wo in einer Höhle die Nymphe saß und spann. Sie spann schon seit langen Jahren feine Seidenfäden, und aus der Seide wirkte sie lauter Altardeckchen für den Bischof von Brixen. Man kann sich denken, daß es ihr allmählich langweilig wurde, und so pflegte sie hin und wieder einen Bergsteiger aufzufressen. Als aber seine Majestät Erbsenwurst hereintrat, war sie sehr freundlich, und er wußte, was sich einer Dame gegenüber gebührt, verneigte sich, und zerriß ihr das

Deckchen, das sie gerade fertig hatte. Wider sein Erwarten wurde sie jedoch böse und zauste ihn am Haar, sodaß er ganz verzagt ward und sie mit einer Seidenschnur erdrosselte. Ganz blau sah ihr Gesicht hinterher aus, und alsogleich begannen auf dem ganzen Berg Glockenblümchen zu wachsen. Und mit einem Hui und einem Knall

vergingen ihm die Sinne, und als er wieder aufwachte, fand er sich vor den Resten seines Schlosses. Gerade der Südsüdwestflügel war noch halbwegs bewohnbar. Daraus schritt ihm eine Abordnung seines Hofgesindes entgegen, huldigte ihm mit steifen Mienen und teilte ihm mit, daß er zwanzig Jahre entfernt gewesen. Dies wunderte ihn zwar nicht sehr, aber er ging dennoch in schweren Sorgen auf seine Kammer und befahl die Räte

zu sich.


Die sahen auf ihn herab und sagten, er solle das Schloß ganz abreißen, hinfort nackt umherlaufen und sich über den See davonmachen. Doch König Erbsenwurst entgegnete: „Nichts von allem werde ich tun. Ich will, daß jener Blauberg in die Luft gesprengt werde, so, wie er dasteht, soll er zu Staub geblasen werden.“ Da tat der

jüngste und vorwitzigste unter seinen Ratgebern das breite Maul auf und quakte: „Geruhen Eure Majestät sich zu erinnern, daß Eure Majestät in Wirklichkeit gar nicht einmal existent sind. Wie käme es auch einem Erbsenwurst zu, sich König zu heißen?“ Hiermit verließen sie ihn und ließen ihn in der größten Verzweiflung zurück. Er

wurde wunderlich, nahm nichts mehr zu sich, redete mit sich selbst und ließ niemand zu sich kommen. Und als er sich so klein gemacht hatte, wie es irgend ging, und als es ihm zur Gewohnheit geworden war, daß die Fledermäuse allnächtlich die wenigen Dachsparren leer ließen, um den Turm zu umkreisen, packte ihn eines Tages der Rappel, und er ging zum Seeufer, um sich zu ersäufen. „Wie ist das Wasser heute so merkwürdig still,“ dachte er, „und jede Woge geglättet, als wartete es oder wolle einen nicht annehmen. Mein Herz klemmt; es wird doch nicht jemand noch etwas von mir wollen; ich wüßte nicht, wer.“ Bevor er noch geendet hatte, hatte er ein pfeilschnelles Rauschen vernommen, und ein ungeheurer schneeweißer Albatros ließ sich neben ihm

nieder. „Wie geht’s, wie steht’s?“ krächzte er, und der alte König antwortete: „Lieber Seevogel, ich habe eine Bitte. Zwar habe ich mit Vögeln noch nie Glück gehabt, aber du könntest mir von jenseits des Wassers eine Frau mitbringen, mit der ich sprechen kann.“ — „Das läßt sich machen,“ erwiderte der Albatros, hob sich empor und kehrte wenig später mit einem wunderschönen Mädchen zurück, das zwischen seinen Flügeln saß. Sie hatte ein weißes Hemdchen an zu ihren goldblonden Haaren, hüpfte herab, nahm Erbsenwurst bei der Hand und rief: „Jetzt wollen wir alles wieder in Ordnung bringen in deinem Land. Ich will für dich kochen, ich will deine Kleider und Stümpfe stopfen, ich will dir den Buckel waschen, wenn du badest, und wir wollen uns recht liebhaben.“ Damit er’s zufrieden sei, gab sie ihn einen Kuß und noch einen und noch einen, und er vermeinte, noch nie in seinem Leben etwas Köstlicheres gegessen zu haben. Doch er war ein vorsichtiges Herrchen und fragte: „Ich heiße aber Erbsenwurst, nicht einmal Erbswurst, wie es richtig wäre. Meinst du, ich kann König bleiben?“ Da lachte sie und sprach: „Ach, du dummer lieber Mann, wir werden Erde, Sand und Steine

herbeitragen und bis zum Festland einen Damm bauen, auf dem kannst du nach Hause spazieren.“


So nahm er sie bei der Hand und führte sie in sein Schloß, und führte sie zu der Marmorterrasse, die stehengeblieben war, und dort ließ er sie vor eine Kanone binden und mit Schrott erschießen, denn, so sagte er, „wo hätten wir denn von dieser kleinen Insel so viel Sand und Steine hernehmen sollen; außerdem wäre es mir bald langweilig geworden.“ In diesem Augenblick versank die Insel, der See trocknete aus, Petroleum und Sägespäne fingen an zu brennen und töteten die Fledermäuse, alle Puppen fielen auseinander, das Schloß war nicht mehr zu finden, und das war das Ende von König Erbsenwurst: Er war sowieso in der letzten Zeit nur mehr wie ein Floh gewesen, und von diesem Etwas schrumpfte er zum Nichts, und wenn er nicht in die Hölle

gekommen ist für seine vielen Sünden, wächst er bis heute als Loch in die Welt hinein und ist schon ganz schön groß.