Ende. Marsch.  ©️Werner Kügel 2020


In memoriam Kenneth Patchen


Wenn einer rasch noch „Ende“ rief, bevor er ging, die Musik spielte aber weiter, oder der Film, dann fühlte man sich als zurückbleibender Anwesender auch so schön unverantwortlich und pflichtlos glücklich. Der Unterschied ist, wir sind nicht in diesem Gefühl dageblieben, sondern selber gegangen. Nun spielt die Musik nicht mehr. Reinhard bemerkte vor kurzem, und sehr zutreffend, daß wir einen Vergleich mit Flüchtlingen nicht aushielten, weil es ja unsere eigene freie Absicht war, den bisherigen Lebensraum hinter uns zu lassen.


Nun ist die Szene sehr groß um uns, und wir bewegen uns darin wie Ameisen in der

Badewanne. Nicht oft sind wir ganz zusammen. Der kleine Trupp zieht sich auseinander, denn die Ausblicke ertragen sich leichter, wenn man minutenweise glauben kann, man träume alles. Dann wird das Hochtal — das wievielte? — richtig schön. In der Entfernung von fünf oder sechs Tagereisen riegeln die blauen Abstürze des nächsten Bergzuges unsere Wanne nach vorne ab; links und rechts, ebenfalls in respektabler Ferne, aber gut sichtbar, die grünen und schrofigen Seitenhänge, die gelegentlich in einem weiter nach hinten verlagerten Felsturm enden. Rudi spricht manchmal davon, daß er gern wieder auf sowas hinaufsteigen

würde. Er war immer ein guter Kletterer. Ob er’s wohl noch könnte? Mit unserer jetzigen Ausrüstung gewiß nicht. Er meint es auch nicht wirklich, er will nur zum Ausdruck bringen, daß man eine solche Gegend früher auch genießen konnte.


Abends, nachdem wir lange genug in lockerer Kette über die spärliche Grasnarbe gestrichen sind, im Wind, und der prallen Sonne ausgesetzt, oder zur Abwechslung schwitzend und lautlos fluchend durch Gestrüpp krabbelten, finden wir wortlos zusammen, erschöpft, und bereiten uns für eine dieser kalten Nächte vor. Eng umarmt schmiegt sich unser Dutzend in eine Mulde. Umarmungen hatten wir uns nicht verbieten lassen wollen, nun haben sie einen banalen Zweck. Aber was will man machen.


Unsere Frauen haben ihre Individualität verloren. (Ich sage unsere, aber meine ist nicht mitgegangen. Ingrid auch nicht.) Seit sie die vierzig überschritten haben, sind sie kaum mehr als Frauen zu erkennen. Manchmal wirken sie wenigstens noch wie Kräuterhexen. Als solche sind sie freilich unentbehrlich. Aber zwei sind schon gestorben. Hat es nicht einmal geheißen, Frauen seien zäher? Was ist bloß aus ihnen geworden. Was ist aus den Kindern geworden? Es ist eine Ewigkeit her, seit wir ein Kind gesehen haben.


Wir wollen versuchen, die nächste große Felswand zu erreichen und eine Höhle zu finden, bevor der Regen wieder einsetzt. Bis jetzt ist der Himmel tiefblau.


An einem der letzten Tage fanden wir Jörg unbeweglich mit dem Gesicht nach unten vor einer Quelle liegen. Es wird nicht am Wasser gelegen haben. Die Spätfolgen. Und Rainer haben wir verloren, wir wissen nicht wie. Der tut uns allen leid. Seinem freundlichen, still verzweifelten Wesen war schon immer anzumerken, daß er auf der Strecke bleiben werde. Manche erliegen dem Verlauf der Entwicklung, wenn für andere, fiesere Typen noch Hoffnung ist.


Neulich erschien am Himmel der Kondensstreifen eines einzelnen Flugzeuges. Zu mehr haben sie es nicht gebracht. Es ist aber schon viel länger her, seit wir einem Kerl begegneten, der nicht zu uns gehört. Er sagte, er heiße Billy Delian, und er gab sich als Tourist aus. Wir glaubten ihm nicht.


Ach, war das herrlich, als wir beim Abstieg in dieses Tal auf halber Höhe Rast machten und uns damals einen ganzen Nachmittag lang in die Sonne legten! Selten störten uns Käfer. Die Erde unter unsern Rücken war warm. Die Luft kühl. Das Tal sah einladend aus, und gut bewachsen.


Zuweilen vermissen wir die Körperpflege. Es klingt uns aber schon absurd, dieses Wort. Früher mußte man pervers sein, um dreckige Füße anziehend zu finden. Heute wäre ich froh, wenn ich die schwarzen Stummel, die mir geblieben sind, überhaupt noch als meine Füße bezeichnen könnte. Ich würde sie schön finden, ich würde versuchen, sie zu beschreiben. Wenn’s bloß der Dreck wäre.


Rudi hat von früher her noch einen Bergführer. Keinen leibhaftigen, natürlich. So gut standen wir uns nie. Es ist ein altes Buch, aus einem — wie man bei uns sagte — Bücher-Schrank. (Der Schrank diente sonst zu nichts.) Das Buch selbst ist nutzlos geworden, wenn es nicht schon immer nutzlos war. Aber Rudi besteht darauf, die gelegentlichen Wunden der Grasnarbe, aus denen Kies quillt, könnten Reste eines Weges sein, und dieser Weg sei im Buch beschrieben. Uns kann’s gleich sein. Wir arbeiten uns höher hinauf, jeden Tag ein paar Steinwürfe weit. Ein paar frühere Steinwürfe weit. Ob wir einem Weg folgen oder nicht, fällt uns gleich mühsam, bei unserm Zustand. Am besten ist noch Reinhard beinander, trotz seiner Flechte. Abends, wenn wir schweigend zusammenrücken und uns beim Glimmen einiger

zusammengelesener Stecken auf den schweren Schlaf gefaßt machen, fällt ihm noch ein, mit seinen immer noch geschickten Fingern das zurechtzubringen, was an unsern Siebensachen lose geworden ist.


Viel höher dürfen wir nicht mehr gehen. Schon haben wir die Zone erreicht, in der nach Rudis Buch auch früher keine Bäume mehr wuchsen. Es liegen auch keine morschen Stämme mehr herum. Vereinzelt sind noch Wurzeln zu sehen, die müssen aber zu einer Art von Büschen gehört haben, die man Latschen nannte.


Einige Tage war es neblig, und Larry mußte wieder öfter husten, aber nicht so arg. Der Nebel ist hier tatsächlich heller, ich möchte sogar sagen, weißer. Er macht einen sanften und frischen Eindruck auf hoffnungsvolle Gemüter. Alle haben wir wieder etwas mehr Hoffnung, ohne Drogen und anfällige Spezialeinrichtungen auszukommen, wenn wir hier bleiben. Ach, warum ist bloß meine Frau nicht mitgekommen. Die rötlich-braunen Sonnenaufgänge, die manchmal zu sehen sind, würden auch ihr gefallen. Weniger wohl der Zwang, durch unablässige nomadenhafte Nahrungssuche und Aufbereitung das Leben zu fristen, während

man sich dazu noch fortbewegt.


Heute haben wir sogar ein flacheres Stück erreicht und gönnen uns eine Rast. Hier stand früher eine Hütte, zur Sennwirtschaft. (Es ist mir aber entfallen, was das heißt: Senn.) Einige Gerippe, wahrscheinlich von Kühen, liegen im Umkreis. Als das hier aufhörte, ließ der Graswuchs derart nach, daß man später, auch wenn man gewollt hätte, nicht mehr neu beginnen konnte. Die Felsen haben mehr und mehr Steine herabgeschickt. Manchmal hören wir sowas prasseln und klappern, vor allem am Vormittag.


Die Wolken sind schwarz. Das Gras ist weiß. Alfred hat einen Anfall. Bruno versorgt ihn. Die Schachtel mit den Medikamenten geht zur Neige, der Fleischextrakt auch. Milchpulver-Ersatz reicht noch eine Weile. Wir müssen uns auf die Zellulose-Umwandlung spezialisieren. Hier wird man es wohl wagen können. Die vereinzelten Blumen — ich glaube, es sind Disteln — sehen eigentlich gesund aus.


Ich habe plötzlich keine Lust mehr zu schreiben. Wahrzunehmen und zu empfinden schon gleich gar nicht. Meine Erinnerungen gehen auch verschütt. Gut so. Der Kugelschreiber geht nicht mehr lange. Von nun an nur noch das Wichtigste…