FÜNFZEHNTER SOMMER IN ROT ©️Werner Kügel 2024


(Splittercollage in Versen)


ROT — kehr wieder, sommerlicher ORT

Beste der Welten, Rückzug zu bieten und Weisheit

Rundes Bild inmitten taumelnder Kreise

rOt

Stiller Kreis gespiegelter Gesichte

Spiegelnde Erinnerung verfließt

TROtz des Glases tut sich auf dein TOR


*

1

Herauf

Jetzt

Dringt sie herauf

Herrschaftlich, über das Tal

Durch ihre Hallen ein Hauch noch

Des nächtlichen Chorgebets

Betäubender Duft ist verflogen.

Die zarte Nüchternheit

Anmutig

Weiß

Ein klarheitswilder Schwan

Das Haupt nach Osten hoch erhoben

In dunkler exstatischer Flamme

Ein geflügeltes Schiff, auf dem Hügel

Von Hoffnung bestrahlt

Zur Feier bereit

Heiter durchglänzt und im goldenen

Dunst, der die Säulen schmeichelnd umgibt,

Nun lebendig, voll Farbe:

Eine tönende Kirche, tönende Kirche.


I


...ganz umfaßt, noch im Schlaf,

wieder vom gleichen Geruch

stark und sättigend

freundlich und wild

Holz. Und die Luft ist hier

ohne lauen Verschnitt.

Ich denke an Schuhe

voller Erde. Die darf nicht verwechselt werden

mit Schmutz. Sie hat eine Altstimme

und tönt mir fordernd entfernt

nach feuchtem Morgen entgegen.

Draußen ganz nah:

Das ewige Land beginnt.

Linien aufwärts und ab

hellgrün und dunkel

unendlich zu ahnen, fortzusetzen

über die Blickschranke hinweg.

Hinter letzten Hügeln verborgen

sind Legenden von anderen Dörfern:

Irgend ein Alter

stammte von dort.

Andere Väter —

auf jedem der breiten Gehöfte

Bauern mit kargen Köpfen

Schnurr-Bärten und Steh-Krägen.

Derbe Söhne —

Flößerriesen, befahren gewaltig die Felder,

schweigsam unter der Tür

verharr'n sie am Abend

im Stolz des Erben.

Weißes Getümmel vor mächtigen Scheuern

die Enten,

einfältige Klumpen dazwischen

die Geißen und Schweine.

Grund und Hang sind durchsetzt

von Gehegen um grasiges Land

wo der Reichtum gutartig weidet.

Über diesen Gefilden

flüchtig das feinspielende Licht

entzündlich in plötzlichem Glanz

an einer Kante entlang, einer Rinne

brennend über Flächen.

Kühl, aber vom gleichen Luststoff

der Weiher, der unsere Wonne umspült

wenn der späte Vormittag ausfließt.

Und Sonntag ergießt sich zu uns

wenn wir vor Abend

wieder als Gäste uns finden

im Haus der Verwandten.

Bewegtheit, wenn milde das Zimmer durchhellt ist,

einfache Worte, gewürzt von dem Licht

von dem bittern Duft aus der Kanne.

Von dem fruchtenden Duft aus der Kirche

hohem Raum

breitet ein weißer Ton sich aus

schwingt sich hinüber zum Wald

als einzelner Axtschlag

in einen zweiten Ursprung zurück.

Manchmal dringen auch wir

von bewehrten Ufern noch ein

unter die schluckende Oberfläche

schweben dort zwischen Nebelstämmen

durch Bänke von Moos oder Schwarzbeer

fremder, argwöhnischer Pilze

Bewohner von Urzeiten.

Rund umher, ganz im Grund

die ungeseh'nen Beobachter.

Verlorene Falter

schaukeln in der Dämmerung

selten einmal verrät sich

das Wild durch scheues Gebaren...


2


Unerwartet das gelbe, fieberstarre Erkennen

Seichter Geschmack mit lautloser Gewalt:

Getrennt von den Lebenden; dicht

Schließt sich die stickende Mauer

Hoch und verdunkelnd

Rauh vor der Brust —

Die Thujahecke.

Zurück.

Kindergräber, zu beiden Seiten.

In beklemmender Hitze, eng, liegt der Friedhof.

Knirschend wieder dein Schritt.

Als du die Kanne rauschend,

Dröhnend vollbrausen läßt

Tanzt dir der Tod davon

Hockt in den vielen Augen der Kapelle

Schaut dir nach, starr

Aus der heißen Mauer

Ewige Ellipsen

Starren dich an

Noch draußen

Vor dem klaren, kühlen Geriesel

Unter nachdenklichen Ulmen.


II


Nichts wird hier aufbegehren

Nichts hört.

In das gleiche endlose

Erstickte, zähe

Veratmen des Nachmittags

Ist alles gekleidet

Sein Schweiß überzieht die Wände.

Hämischer dann das Knacken

Der unbeholfenen Schnäbel

An der niedrigen Tür

Der eiserne Kasten

Schloß. Aber bald

Bloß mehr das Wispern der winzigen Fensterscheiben.

Auf ihrem braunen Bord

Strahlen liebliche Gläser

Zart im Scheine des grauen Lichts,

Stuhllehnen so zerbrechlicher Anmut

Erheben sich über den Tisch

Neben den Herztabletten

Das Poesie-Album dort:

Ein Stapel rosavergilbter Zeit

Etwas Goldstaub

Vergessene Kinderschrift.

Das ältere Fräulein

Rafft etwas auf, kritzelt

Fahrige Briefe an Gott

Ihr junges Lächeln

Stiehlt sich aus dem Raum.


Verschwiegene Siedlung

Schwimmt in zitternden Kreisen

Unter dem steilen Anstieg

Wo wenig Himmel Platz hat

Zwischen bemoosten Mauern.

Ausgetretne graue Treppen

Führen hindurch. Vor den Türen

Auf schmierigen Brettern hocken

Zottlige Alte an den warmen Tagen.

Hier lächeln krumme Dachfirste

Auf jedem Haus sitzt rittlings

Ein weißer Gnom, der ächzt

Rauch durch seine Schlafhaube

Rissige Wände

Murmeln Anzüglichkeiten.

Öffnet sich manchmal ein Durchgang

Dahinter: einförmige Kinderspiele.

Ein dürftiges Apfelbäumchen

Ein grünes Fensterladen-Lächeln

Erleichtert, weist ab.

Als ob sie hier Fremde seien

Lächeln die Mütter; jedoch

Ihre Liebe nährt sich im Schatten

Mit verrotteten Wurzeln.

Sieh jenseits des Kammes

Ein leichtes und massiges Dorf

Und die ferne Kirche über den Dächern.

Allmählich vermischt sich

Das Talgebüsch wirr mit der Siedlung.

Über das freie Feld

Eilt hin und wieder der Pfarrer.

Sein schwarzes Kleid

Wird hier leicht eingeschluckt.


Mein Torturm weiß und fröhlich

Dummes, feindseliges Email

Auf den Samt gebrannt —

Welches Kinderbilderbuch

Hat dich ausgeschwitzt?


Und du mein verwinkeltes Kloster

Deine pestkranken Mauern

Stinken mich an

Voll müden Zierats

Kaum halten sich Zwiebeltürmchen

Mit rostigen Laternen.


Noch bedämmerm die Bäume

Den geborstenen Marmor

Eines verstummten Brunnens

Wie eine Gruft —

Trauernd am Pranger.

Und diese Pforte, Vordach, Treppchen

Zaubernd mit Licht und Schatten

Zeigen geduldige Ruhe und Grazie —

Zu spät! Auch das Einhorn

Im Apothekergewölbe

Ist jetzt eine Fälschung.


Eure herbstliche Todesschönheit

Ist dahin

Schon kam

Der dritte Tag eurer Zerstörung.

Selbst der Staub verließ euch, nackt

Werdet ihr verenden.


Kannte man doch, denk ich

Einen schattigen Bogen

Mit weiten Flügeln

Heitere Malereien

Um dörfliche Fensterchen

Beruhigendes Laub und Idylle und alles —

Vielleicht ist Erinnerung

auf alten Bildern bewahrt, vielleicht.


Ihr aber steht noch

Verwehrt mir den Genuß

Mit eurer langen Ungewißheit im Ende

Die hält euch am Leben

Hält mich bei euch.

Und regelmäßig

Schwingt der zarte Ton

Von Pilaster zu Pilaster

Im weißen Innern...


III


...während gegenwärtig im wald

der bohrturm zu summen nicht aufhört

und schwarze insektengespenster

sich verneigen, heuchlerisch langsam

     unablässig

mit kreischen verkünden: die quelle

lebloser, unerschöpflicher

kraft ist gefunden

aus ungesehener, unerfahrbarer tiefe

entspringt sie, für tausende

klappernder trümmer

     unablässig

verzehrt wird alles schwebende

der bach, die luft und die stimmen

gefüllt der raum dicht bei dicht

mit erstickend ödem ersatz

nun ist es zeit für die tankwarte

hinter glas und umkachelt, pfeifend

ihres eiligen dienstes zu warten

ihres raschen verdienstes

und tausend eigentümer

stürzen voran im zuge der zeit

     unablässig

was kommt noch?

kornfelder, heißgelb und aromatisch —

darunter, gegenwärtig bereits

schlafen die grundrisse

der künftigen stadt

schaudergrüne höhen, windbestrichen

werden beschimmelt, jetzt schon

von weißen kästchen:

eins für den doktor

eins für den lehrer

eins für den bürgermeister

hier auch schon bürgertum

wie es voranstürzt, unablässig

im falschen zuge der zeit

freilich, es werden

denkmäler des alten

unaufhörlich instandgesetzt

schmuck und brauchbar zu sein

seele sei brauchbar

sollte sie aber

das weiß man nicht

unter den händen

weggestorben

sein

der kadaver

und das ist schon etwas

strotzt bunter als jemals zuvor


3


Heidemarie, Räuberbraut

Todtraurig

Das gezogene Gegröle.

Ihre Jugend begraben sie

Jeden Samstag bis zwölf.

Die Kupfertheke glänzt für sich allein

Der Wirt schmeißt Runden

Führt das Wort am Tisch.

Graubart neben Glatze.

Sie lachen langsam

Was kennen sie nicht.

Der geschwätzige Bäcker

Wird auch still um elf

Brummen ist die Tonart

Der betrunkenen Bauern.

Manchmal

In dumpfer Übelkeit

Drängt sich einer durch den Qualm

Hinaus. Im Garten ist ein Abtritt.

„Dreiundsechzig, mein Gott.“

Aber drinnen

Alles hat man geschafft, alles.

Die schwarze verschnörkelte Uhr

Steckt viele Flüche tückisch ein.

Kurz ist der Ausflug

In alte Herrlichkeit bemessen.

Auf Wiedersehen.


IV


Der Morgen weiß noch nicht

Die Farbe, die er sein soll.

Auf dem Hof bewegt sich

Der gelbe Kabelwagen

Das Spulenauto, bemannt

Mit Frühaufstehern,

Ein kleiner Junge im Hemd

Hockt quer ins Fenster gespannt

In der Kammer der Duft

Der Zahnpasta vom Marmorwaschtisch.

Ein bimmelnder Geißenkarren —

Gebückt

Schreitet der bärtige

Post-Pope voran.

Es heben sich bunt

Die Exemplare der Traumzeitung

Von den Brettern, während das Gespann

Die Ringe des Hahnengeschreis durchfährt

Über das Dorf.

Dann treibt langsam

Ein Herr in Schwarz

Auf einer Luftmatraze

Den Bach hinab

An den Weiden vorbei

Verschwindet hinter der Biegung.


Schnurrbärtige Ahnenbilder

Geben ihren Habt-acht-Blick auf

Von älteren Damen verlautet

Sie würden sich demnächst nach Lourdes begeben.


An jeder Ecke

Schaukelt schon wieder

Eine gelbe Bekanntmachung:

Sämtliche greifbaren Schraubenschlüssel

Werden benötigt, man stützt damit

Die Blumengebirge

In den Rathausfenstern.


Überall dringen nun Mädchen hervor

Sie füllen die Plätze

Fliegen umher

Auf blauen Fahrrädern

Sammeln sich

Leise plaudernd

In Läden

Bis sie ein roter Omnibus

In den Tag entführt.


Die Freiwillige Feuerwehr

In prächtigen Uniformen

Arbeitet sie

An der Vervollkommnung

Des Regenbogens.


Nun, da der bemooste Totengräber

Auf der Orgel spielt

Und es schläft

Sein versoffener Freund

Der Bucklige

Vor geschmücktem Altar.

Auch der Dorfschreiber

Von den Ereignissen überw.ltigt

Schläft ein.


4


Fensterkreuze im wachen Sonnenlicht

Die Märchenlampe verblaßt an der Kammerdecke.


Fliegen wirbeln um totes Buntpapier

Und draußen quarren und kratzen im Gras die Hühner.


Einer roten Geranie Spiegelbild

Im Glas erzittert es hinter der glatten Fläche.


Frischgeschlichtetes Holz und Sägemehl

Im leeren Stall unter schwärzlichen Spinnwebwinkeln.


Vor dem Haus drängt sich Wärme dicht gestaut —

Nirgends ein Ort den begonnenen Traum zu erhalten.


Den Mittag vergessen beim Sandspiel

Naschen vom unreifen Mohn

Vom Strauch der roten Johannisbeeren.


*


TROtz des Glases öffnet sich ein TOR

Spiegelnde Erinnerung verfließt

Im raschen Kreis gespiegelter Gesichte

rOt

Du rundes Bild inmitten des raschen Kreises

Torheit des Rückzugs vor ständig besserer Welt

ROT, kehr wieder, sommerlicher ORT.