Kamäleon ©️Werner Kügel 2024


Es war heiß unter dem Dach des Hauses „Obere Karlstraße 26“, sehr heiß, wenn man das schräge Kippfenster nicht öffnete. Das hatte sowieso nur Sinn am Vormittag oder nach Sonnenuntergang, wenn die am Dach heraufstreifende Luft nicht auch noch die ganze Wärme der sonnenbeschienenen Ziegel dieser Westseite in sich aufnahm und mitführte und von der Schräge des Glases hereingelenkt wurde. Ich konnte das Fenster jedoch auch abends beim Arbeiten selten öffnen, weil sonst allerhand Lärm hereindrang: das im Laufe der Kommerse immer ordinärere Grölen der Studentenverbindung „Germania“, wo zum Hofe hin ebenfalls die Fenster offengelassen wurden, oder neuerdings das Klappern von Tellern und Stimmengewirr aus dem Hof der benachbarten Wirtschaft „Alfredo“. Eines Abends konnte ich mich so schlecht konzentrieren und war so durstig, daß ich beschloß, selber in diese muntere Tafelei abzutauchen. Schließlich stören diejenigen Nebengeräusche am meisten, gegen deren bloßes Vorhandensein man

eingenommen ist, und wenn ich selber teilgenommen hätte, dachte ich, ertrüge ich es das nächstemal besser.


Ich setzte mich unter ein Schirmchen auf die letzte noch halbwegs freie Bank. Ein Paar saß noch dort, einander gegenüber, und da es sich intensiv zu besprechen schien, rückte ich gar nicht erst näher. Allerdings konnte ich nicht umhin, Aussehen und Gespräch der beiden verstohlen zu belauern, und sie ließen sich auch durch mein allzu offensichtlich unbeteiligtes Stieren ins Bierglas und meine seltenen Seitenblicke nicht irritieren. Was mich zu dieser Indiskretion trieb, war ganz

einfach mein tagelanger Mangel an Ansprache und der dringliche Tonfall, der zwischen den beiden von Anfang an herrschte.


Von Anfang an: das heißt, sie konnten selbst noch nicht lang hier sein, denn die Geschichte hinter dem Gespräch entfaltete sich erst. Hier saß, mir schräg gegenüber, eine Frau von etwa 45 Jahren, schon etwas fett, mit einem Gesicht, das für ein Kamel zu breitflächig war, aber ansonsten viel Kameliges an sich hatte: die stumpfe Nase mit der übergro.en, in der Mitte deutlich eingesenkten oberen Lefze, die zurückgenommene Stirn. Sie hatte eine unauffällige Langhaarfrisur und ein

helles, nicht besonders geschnittenes Sommerkleid an, das ihre speckigen Arme frei ließ. Eine furchtbar durchschnittliche Hausfrau, die sich gar nicht zurechtgemacht hatte, als sie Hals über Kopf das Haus verließ, um sich mit diesem Mann zu treffen.


Er war klein, etwas untersetzt, nicht dick, eher stramm, mit allmählich dünnerem Haar, das er über seine kahlen Ecken schräg gekämmt hatte, und schaute aus seinem schlaff gewordenen Bubengesicht recht treuherzig, was auch zu seiner hohen, aber markigen Stimme paßte. Ihre Stimme hatte übrigens etwas Verschleiertes und Verhauchtes, und weil das Spannen der Oberlippe oft das Weinen unterdrücken soll, dachte ich erst, diese Eigenheit ihres Gesichtes sei nur

vorübergehend hervorgetreten. Aber sie war schon ein Kamel, in jeder Hinsicht.


Da hatte sie also diesen Abend nach Jahren (Jahren!) zweifelsfrei herausbekommen, daß ihr Mann sie betrog, und was tut sie? Sie hat keine Freunde oder Freundinnen, keine Vertrauten, keine Verwandten, Mutter, Schwester, der sie so etwas mitteilen könnte. Also ruft sie einen Untergebenen ihres Mannes an (sie wird ihn bei irgendeiner halboffiziellen Party kennengelernt haben) und verabredet sich mit ihm in beim „Alfredo“. Habe ihm etwas Wichtiges mitzuteilen. Und er kommt. Das ist das größte Rätsel. Denn er hat mit dieser Frau natürlich kein irgendwie

geartetes persönliches Verhältnis. Daß sie ihm nichts Dienstliches zu sagen hat, ist für ihn klar. Er weiß aber noch nicht: Ist es für ihn in den Augen seines Chefs gut oder schlecht, diesem offenbar dringenden und ziemlich verdächtigen Ansinnen zu entsprechen? Seinem knabenhaften Abenteurersinn gefällt die Herausforderung, die in der Situation liegt, und er traut sich zu, ihr die Beichte abzunehmen, ohne Schaden anzurichten oder davonzutragen.


Als ich dazukam, war die Katze schon aus dem Sack, und er war erst einmal bemüht, die Beweise für das Fehlverhalten seines Chefs in Zweifel zu ziehen und abzuschwächen. Nun kommt es zwar schon vor, daß ein Siemens-Bonze jahrein, jahraus erst um zehn Uhr abends oder später aus dem Büro oder aus irgendwelchen Sitzungen nach Hause kommt und daß dabei auch professionelle Helfer weiblichen Geschlechts Überstunden irgendwelcher Sorte gemacht haben, aber in diesem

Fall lag der belastende Umstand klar vor Augen, und, soweit ich es mitbekam, handelte es sich gar nicht um das häufig einreißende, aus Gefühlsfaulheit dem mörderischen Arbeitsklima und der häuslichen Langeweile abgetrotzte Verhältnis mit der Sekretärin. Hier war kein Restmensch, der sich sonst gar nichts gönnt, schwach geworden, sondern ein Unmensch, der sich alles gönnt, was er

haben kann, hatte sein Leben um etwas bereichert, was ihm seine Frau nicht geben konnte. Gott weiß, warum er sie überhaupt einmal geheiratet hatte. Und der Mitarbeiter, der nichts gegen seinen Chef sagen konnte, was der nicht bei dem unvermeidlichen Streit der Eheleute brühwarm und mit Quellenangabe wieder serviert bekäme, versuchte also abzustreiten, als wäre er selbst beschuldigt.

Da lächelte das Kamel nur schmerzlich und rieb ihm die Fakten unter die Nase, und er konnte nichts tun als die menschliche Schwachheit überhaupt als den einen sympathischen Zug eines jeden starken Spielers in Geschäft und Industrie geradezu in eine Tugend zu verkehren und bei der so oft bewiesenen Vernunft und Gerechtigkeit seines Chefs zu beschwören, es werde schon alles wieder gut werden, und es sei zwar im Augenblick schwer zu verzeihen, müsse aber bei einigem Abstand schon möglich sein.


Zweite Runde: Sie sieht ein, daß sie ihrem Mann nicht das sein kann, was er braucht. Sie sei, nun, das sehe man ja, alt und dick geworden... Jetzt muß er ihr unbedingt schöntun, denn die Mischung aus Rachedurst und Selbstmitleid könnte explosiv werden. (Entweder tut sie sich was an, und dann wehe dem, der zuletzt mit ihr gesehen wurde, oder sie heult ihrem Mann vor, wie reizlos er sie aus

Vernachlässigung habe werden lassen, sodaß sogar ein unbeteiligter Beobachter, der Mitarbeiter N.N., ihre Selbsteinschätzung unwidersprochen gelassen habe, was ja für seine, des Ehemanns, Repräsentation all die Jahre auch nicht gut gewesen sein kann, et cetera.) Also: „Älter werden wir alle, Ihr Mann natürlich auch, ich auch; aber Sie sind doch gesund und munter, wie alt werden Sie sein? 35? Sie sehen jedenfalls jünger aus, weil Sie nicht so beruflich beansprucht sind wie die

Kolleginnen, die wir um uns haben.“ Ich schwöre, da leckte sich das Kamel tatsächlich die Lippen. Das sah grausig dumm und sinnlich aus. Irgendwie muß ihr der Gedanke „Wie du mir, so ich dir“ gekommen sein, und das probierte die an dem unglückseligen Burschen aus, der sich nicht hatte träumen lassen, daß nach einem anstrengenden Tag der Abend derart schwierig werden könnte. Das Getränk — ich glaube, Rotwein — war nachgeliefert worden, und es tat bei ihr seine Wirkung. Ich bestellte gleich auch noch ein Bier, gegen meine ursprüngliche Absicht, und gab den Rest des Abends für die Arbeit verloren. Dies hier war Lebenshilfe aus ganz besonderem Blickwinkel.


Wie sei das überhaupt bei ihm? Wie komme er mit dem Leben zurecht? Mit Partnerschaften? Er sei ja, wie sie zu wissen glaube, nicht verheiratet? Das unwillkürliche Aufatmen des Guten war sehenswert. Nun hatte sie ihm Gelegenheit gegeben, indem sie ihn an den Haken nehmen wollte, von seiner Partnerin zu erzählen und endlos seine bewegte Lebensgeschichte zur Ablenkung

aufzutischen. Lange Zeit sprach nur er, mit sicherer und heiterer Stimme, und er hatte bei Gott was zu erzählen. Schulschiff, zweiter Bildungsweg, Weltreise, nie gut gehabt, nie unterkriegen lassen, spät im Leben seßhaft geworden, guten Job gekriegt, also „Danke nochmal an Ihren Mann, Gnädigste“ konnte er gerade noch unterdrücken zu sagen; ihren Einwand, dann müsse er doch ziemlich einsam sein, wenn er nach Feierabend so herumsitze, konterte er: Ja allerdings habe er eine Freundin, und zwar eine, die als Mensch sehr ausgefallen und für ihn eigentlich fast zu gut sei; er frage sich, was sie an ihm finde — schon hakte das Kamel ein und beglückwünschte ihn zu seinem jugendlichen Aussehen; das Gespräch war in Gefahr, sich im Kreis zu drehen. Unglücklich hätte es geendet, wenn es sich spiralig einwärts zum Schwarzen Loch dieser Existenzen gedreht hätte. Aber er kam noch rechtzeitig ins Erklären, daß seine Freundin, eine hochgebildete Frau, fast mit dem Studium fertig, dreißig, ganz einfach unabhängig sein wolle, ohne auf Freundschaft mit einem Mann ganz zu verzichten, daß sie sich selten sähen — „aber wenn wir gemeinsam Urlaub machen, dann machen wir’s schon auch noch ein paar Tage wie die jungen Leute“: auweh, da leckte das Kamel wieder und legte lächelnd den Kopf schräg. Hastig erzählte er, wie er seine Freundin kennengelernt habe (beim Sport), und die Tatsache, daß es für ihn zu spät sei, eine Familie zu gründen, und sie nicht daran interessiert, gab ihm das Sprungbrett zu der allgemeinmenschlichen Betrachtung, wie wenig man sich als ganz selbstverständliches Glück aus dem Leben wirklich herausholen könne, wenn es die Umstände nicht gestatteten. Man müsse da halt Zufriedenheit lernen. Und Glücklichsein komme punktuell immer wieder zustande. Das sei gar nicht abzusehen.


Der Mann war ein Philosoph. (Wer weiß, ob Sokrates ohne Xantippe einer geworden wäre.) Und das arme Frauchen war mittlerweile so abgefüllt — bei einer Grünen Witwe ohne Kinder, die unter Tag wohl mehrmals zur Sherry- oder Eierlikörflasche greift, reichen dazu zwei Gläser Rotwein vollauf —, daß sie in mild-melancholische Resignation verfiel. Sie hatte sich aussprechen dürfen,

er hatte Rettungsschwimmer gespielt, ohne sein Hemd naßzumachen, die beiden zahlten. Sie wollte ihn natürlich freihalten, und nach etwas Protest ließ er es zu. Ihre Überlegenheit nicht mehr in Frage zu stellen, war das Gebot der Stunde. Weil der Ober einmal da war, zahlte der schweigende Doktorand ebenfalls und verfügte sich kopfschüttelnd auf seine Bude zu verhältnismäßig frühem Schlaf, obwohl nun das Geräusch von außen erträglich geworden war. Und ich nahm mir vor, meiner Verlobten bei ihrer Rückkehr aus dem Jugendlager keine eifersüchtigen Fragen zu stellen.