Waldirrungen ©️Werner Kügel 2024


Wandern durch den Wald — nach einer halben Stunde kennt man es, wie die Bäume aussehen, wie sie zusammen- oder auseinanderstehen, wie das übrige Gewächs treibt und stockt; und dann geht das noch stundenlang so weiter, rechts und links und gradeaus. Die Ödnis!


Wie aber lauten die unsterblichen Verse:


     „Manchmal dringen auch wir

     von bewehrten Ufern noch ein

     unter die schluckende Oberfläche

     schweben dort zwischen Nebelstämmen

     durch Bänke von Moos oder Schwarzbeer

     fremder, arglistiger Pilze

     Bewohner von Urzeiten.

     Rund umher, ganz im Grund

     die ungeseh'nen Beobachter.

     Verlorene Falter

     schaukeln in der Dämmerung

     selten einmal verrät sich

     das Wild durch scheues Gebaren...“


„Der erste Baum am Waldrand, den die Leute nach dem Weg übers freie Feld erreichen, wird totgebrunzt. Entschuldigung. So sagen wir Förster.“


Knapper Gruß, dann überblendet er sich mit dem gründämmerigen Hintergrund. Sein wohlondulierter Hund braucht ein kleines bißchen länger, um irgendetwas wie ein Kenner zu beschnuppern.


Also los. Der breite, unasphaltierte Fahrweg soll die Route angeben. Baumeintönigkeit. An einer Biegung zweigt ein schmalerer Fußpfad ab. Hier wechselt der Baumbestand ins Auenhafte. Vielleicht aber ist es hier heller, weil unlängst vom Sturm umgelegte Eichen breite Lücken im Blätterdach lassen.

Zimmerwändehoch ragen im Neunzig-Grad-Winkel die herausgerissenen Wurzelteller mit schwarzer Erde empor. Ein moosiger Geruch: Pilze. Mal sehen.


„Annihilating all that’s made / to a green thought in a green shade.“


Es befriedigt irgendwie, das unwillkürliche Einspielen von Atemrhythmus und Schrittzahl zu spüren. Ein Schritt einatmen — drei Schritt ausatmen. Wenn das Gelände ansteigt: zwei zu zwei. Wird es steiler: eins zu eins; in schwerem Gelände Doppelatem je Schritt, dann Hechelatem — aber so steil ist es hier doch gar nicht!


Der Weg hat sich verloren, oder: wer hat hier eigentlich was verloren?


„Es ist schon spät, es wird schon kalt — kommst nimmermehr aus diesem Wald!“


Das wollen wir doch sehen! Händi raus! — Oh, gerade, wenn man es braucht: Funkloch.


Aber der Bildschirm bläht sich auf, drängt heran, und lautlos — hetzt ein nacktes Mädchen daher, flieht vor einer lautlosen Meute reißwütiger Hunde, ein Ritter zu Roß — mit gezogenem Schwert, lautlos, sticht sie ab, schlitzt ihre Brust auf, reißt das Herz heraus —


Kann nicht sein! Die Szene aus Boccaccio — sie schwindet.


Aber das beklemmte Gefühl bleibt.


Man hätte nicht von den Pilzen naschen sollen.