Thomasius


Das Fundament der Sprachverwendung in „Kurzer Entwurff der Politischen Klugheit“ bilden meiner Ansicht nach die Paragraphen 20 und 21 im I.Kapitel. Thomasius unterscheidet hier "Weisheit" als Lehre vom Guten von der "Torheit", die das Böse wolle. "Weisheit" bilde aber einen Unterbegriff der göttlichen Vollkommenheit, während dem Menschen angemessen und erreichbar die "Klugheit" sei, als "Streben (Gutes)". ("Streben nach dem Guten" versucht Thomasius als Lehnübersetzung von "Philosophie".) "Klugheit" bildet somit eine Vorstufe zu "Weisheit" und ist nach dieser hin orientiert; der Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß "Weisheit" den Gegensatz zu "Hindernis (innerlich)" abgibt, und "Klugheit" den zu "Hindernis (äußerlich)":

„Die innerlichen Hindernisse der Glückseligkeit werden durch die Weißheit gedämpffet/ nemlich die aus der Wollust entstehen/ durch die Regeln der Ehrbarkeit; die aus dem Ehr-Geitz durch die Regeln des Wohlstandes; und die aus dem Geld-Geitz durch die Regeln der Gerechtigkeit. Wie man aber vor den äusserlichen Hindernissen eines glücklichen Lebens sich in acht nehmen und solche von sich abwenden solle/ solches muß uns die Klugheit lehren.“

In einer tabellarischen Übersicht, die nach dem IV. Kapitel eingeheftet ist („Spiegel der Erkäntniß seiner selbst und anderer Menschen“), führt Thomasius die drei innerlichen Hindernisse "Wollust", "Ehrgeiz" und "Geldgeiz" auch unter den Oberbegriffen "Hauptlaster" oder "Begierde (herrschend)". Ihnen gegenübergestellt als Haupttugenden oder beherrschte Begierden erscheinen "Mäßigkeit", „Bescheidenheit“ und "Vergnüglichkeit". (Das letzte würden wir uns wohl, als den Gegensatz zu "Geldgeiz", mit "Genügsamkeit" übersetzen.)

Thomasius hatte in früheren Schriften neben den drei Lastern Wollust, Ehrgeiz und Geldgeiz noch eine vierte Leidenschaft postuliert, nämlich die "vernünftige Liebe", aus der alle wahren Tugenden herrühren sollten. (vgl. Wolff, Hans M.: Die Weltanschauung der deutschen Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung, München 1949, S.41.) Er schließt sich dabei an Pufendorf an, der einen natürlichen Trieb zur Geselligkeit (socialitas) angenommen hatte. Daraus, und aus der Vernunft des Menschen, der seine Bedürfnisse einsieht, folge die Einrichtung des Staates. (vgl. Wolf, Erik: Grotius, Pufendorf, Thomasius, Drei Kapitel zur Gestaltgeschichte der Rechtswissenschaft, Tübingen 1927, S.92.) Dies würde die Trennung von "Weisheit" und "Klugheit" überwinden und "Staat" bzw. "Gesellschaft" zur Folge von etwas Gutem erheben. Im vorliegenden Text heißt es: „Der Grund aller Gesellschafften ist die Conversation […]“. Es fällt aber schwer, sich "Konversation", wie andere Tugenden, letztlich auf "Vollkommenheit (göttlich)" bezogen vorzustellen. Thomasius gab nämlich schon um 1692, in seiner „Einleitung zur Sittenlehre“, sein Konzept einer vernünftigen Liebe auf, weil er erkannte, daß dies kein natürlicher Trieb sei. Er ging so weit, das schon Geschriebene zu verwerfen sowie dem Leser zu raten, sein Buch wegzuschmeißen und sich allein an Gottes Wort zu halten. Man muß darin aber nicht unbedingt eine reuige Rückkehr zum christlichen Dogma sehen. Er half sich auf die Dauer aus der Verlegenheit, indem er die Klugheit an die Stelle der vernünftigen Liebe setzte:

„Die rathgebende Klugheit ist entweder allgemein oder bürgerlich. Jene lehret alle Menschen/ sie mögen seyn in was vor Stande oder Gesellschafft sie wollen/ wie sie ihr Thun und Vorhaben wohl ausführen sollen.“ — „Die bürgerliche Klugheit aber siehet vornehmlich auf die Regierung/ einer Republic und alle Theile der Majestät/ dahero man sie auch die Klugheit Gesetze zu geben zu nennen pfleget/ […]“

"Gesetz" ist Folge dieser "Klugheit"; von "Natur" ist nicht mehr die Rede. Keine Tugend ist die Ursache des gesellschaftlichen Zusammenschlusses; was ist aber diese "Konversation"? Schwerlich, wie wir es heute verstehen, eine Art bildungsbefrachteter Plauderei. Auf den ersten Blick: eines jener Fremdwörter für die von Leibniz genannten Bereiche, wofür entsprechende deutsche Wörter noch nicht zur Verfügung standen. „Der Grund aller Gesellschaften ist die Conversation, diese aber ist zweyerley/ nemlich die tägliche/ die mit jederman/ der uns vorkommet/ und dann die absonderliche/ die mit guten Freunden angestellet wird“. Das sieht sehr nach einer Trennung von Öffentlichkeit und Privatsphäre aus. Im Hinblick darauf könnten wir uns "Konversation" mit "Umgang" übersetzen. Daß dieser Umgang innerhalb der Privatsphäre nicht gleichbedeutend sei mit dem Umgang innerhalb einer Intimsphäre (falls es damals etwas Derartiges schon gab), lehrt folgende Definition des Freund-Seins: „Denn Freunde heissen: Die ihre Kräffte zusammen setzen/ damit einer des anderen Vorhaben befördere/ und das Vorhaben ihrer Feinde hintertreibe. Hingegen werden diejenigen Feinde genennet/ deren einer des andern Vorhaben zu verhindern trachtet“.

Was man hier als wichtigstes Ergebnis der Analyse festhalten kann, ist die Eingliederung von Wörtern, die zwischenmenschliche Beziehungen bezeichnen, in den Bereich der Philosophie, nicht in den der Weisheit. Sie haben also mit Tugend nicht direkt zu tun. Die schon erwähnte Einleitung in die Sittenlehre will es noch anders. Der volle Titel lautet: „Von der Kunst, vernünftig und tugendhaft zu leben als dem einzigen Mittel zu einem glückseligen, galanten und vergnügten Leben zu gelangen, oder Einleitung in die Sittenlehre, Halle 1692.“ (vgl. Wolf, Erik: Grotius, Pufendorf, Thomasius, Drei Kapitel zur Gestaltgeschichte der Rechtswissenschaft, Tübingen 1927, S.92.) Hans M. Wolff referiert die Schwierigkeit, in die Thomasius geriet, als er für vernünftiges Handeln ethische Begründungen suchte. Er geriet zwangsläufig in Gegensatz zum Sprachgebrauch der christlichen Ethik. Man kann das als einen seiner Zeit vorauseilenden Versuch betrachten, die Leitvorstellungen politischen Handelns und tugendhaften Handelns zu vereinen. Trotzdem kann ich Hans M. Wolff nicht ganz beipflichten, wenn er schreibt, daß Thomasius von da an das Leitbild politischen Handelns hinter sich gelassen habe. Er fing erst richtig an, sich damit auseinanderzusetzen, freilich nicht unter ethischem Gesichtspunkt. „Über dieses ist aber in der Welt noch was besonders, das nebst dem honesto, utili und jucundo [Ehre, Reichtum, Wollust] dem Thun und Lassen der Menschen eine gemeine Richtschnur ist, absonderlich aber Polite, Weltkluge und höffliche Leute von plumpen, groben und ungeschickten Tölpeln absondert. Dieses wird von denen Lateinern Decorum, von denen Frantzosen Galanterie genennet. In der Teutschen Sprache aber finde ich kein Wort, das den genium dieser Sache recht exhaurirte“. (s. Christian Thomas eröffnet Der Studierenden Jugend Einen Vorschlag, Wie er einen jungen Menschen, der sich ernstlich fürgesetzt, Gott und der Welt dermahleins in vita civili rechtschaffen zu dienen, und als ein honnet und galant homme zu leben, binnen dreyer Jahre Frist in der Philosophie und singulis Jurisprudentiae partibus zu informiren gesonnen sey, in: Christian Thomasens Allerhand bißher publicirte Kleine Teutsche Schrifften […] Halle […] 1701, S.4. Zit. nach: Conrad Wiedemann, Hg., Der galante Stil.)

Besteht eine begriffliche Beziehung zwischen dieser Galanterie und der "politischen Klugheit", in die Thomasius im vorliegenden Text einführen will? Wenn man als Unterbegriff von "Galanterie" anständige "Conduite" nehmen dürfte — das findet sich, zusammen mit "Staatslehre", unter den Eigenschaften des Verstandes, die in der Tabelle dem Laster "Ehrgeiz" zugeordnet werden. "Klugheit" und "Sittenlehre" dagegen finden sich auf einmal gleichermaßen unter den Verstandeseigenschaften, die mit den drei Haupttugenden zusammenhängen! Man sieht, Thomasius hatte Schwierigkeiten, seinen Standpunkt mit den Mitteln eines Sprachgebrauches klarzumachen, in dem "Tugend" automatisch auf "Vollkommenheit" bezogen und mit Gott in Verbindung gesetzt wurde. Thomasius kann sich nicht erlauben, "Weisheit" und „Tugend" mit einer anderen Bedeutung zu versehen als der traditionellen, theologisch vorgeformten. Der Bedeutungsumfang von "Weisheit" umgreift auch "Klugheit"; doch vorsichtig, sehr vorsichtig, indem "Streben (Gutes)" — bei vorgeblich identischer Bedeutung von "Gutes“ — unterschieden werden, wird "Klugheit" von "Weisheit" und somit Philosophie von Theologie abgehoben.

In § 19 der Vorrede zu „Fundamenta Iuris Naturae et Gentium“ steht: „Die jetzige Beschaffenheit des Rechtes der Natur erfordert, daß wir uns der heiligen Schrift und des Standes der Unschuld gänzlich enthalten, weil der Stand der Unschuld ganz und gar verloren gegangen ist, auch in diesem Leben nicht wieder erlangt werden kann, und weil der Endzweck der heiligen Schrift das glückselige Leben der zukünftigen Welt ist. Die Sittenlehre aber und die ganze Rechtsgelehrtheit zielt bloß zur wahren Glückseligkeit des gegenwärtigen Lebens hin“. (zit. nach: Günther Bieber, Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius, S.17.) Die Trennung von Theologie und Philosophie hat zwar keinen antireligiösen, wohl aber einen antiklerikalen Sinn. Im dritten Kapitel, §§ 4-12 der hier analysierten Schrift gibt Thomasius eine geschichtliche Herleitung der politischen Klugheit; es heißt da, die „päbstliche Clerisey“ habe sich über den Staat erhoben und nur solche Studien zugelassen, die mit diesem Interesse verträglich gewesen seien. Nach der Gründung der ersten Universitäten, die anfangs auch nur der Kirche dienten, habe eine allmähliche Selbstbefreiung der Geister stattfinden können, und zwar seien die Juristen des römischen Rechts die ersten gewesen, die von politischer Klugheit gehandelt und die Philologie empfohlen hätten. Dies beschreibt in etwa, was wir heute den Humanismus nennen würden, und setzt ihn in Beziehung zu dem frühen Ansehen der juristischen Fakultät. Aus dem Humanismus sei dann die Reformation gekommen, „und wolte GOtt/ es wäre diese Reformation über alle Mängel ergangen;“ der Aufklärer Thomasius sieht sich mithin als Vollstrecker der Reformation — oder gibt es wenigstens vor.

Es ist noch fraglich, ob Thomasius unter "Gutes“ wirklich dasselbe versteht wie ein rechter Christ; durch diese Frage hoffe ich auch dem Bereich der Besitzverhältnisse auf die Spur zu kommen.

„Wer die Weißheit deßhalber suchet/ daß er Macht und Reichtum gewinnen möge/ der ist nicht klug. Der ist aber weise/ der gewiß glaubet/ daß die Weißheit reich mache und aus dem Staube erhebe. Deßhalber gebrauchet sich auch ein kluger Mensch seines Reichthums und Ansehens/ andern damit gutes zu thun/ sie mögen noch in der Thorheit stecken oder weise zu werden anfangen. Ja hierinnen bestehet der Reichen und Mächtigen gröste Glückseligkeit/ ohne welche sie bey dem grösten Reichthum und Ehren die allerunglückseligsten Leut seyn.“

Ein schwer verständlicher Ausspruch! Einesteils soll das Suchen der Weisheit, d.h. das Streben nach dem Guten, mit dem Gewinnen von Reichtum nichts zu tun haben; andererseits macht Weisheit reich. Wen? Den, der sie weitgehend erreicht hat? Es scheint eher, als sei "reich machen" ein Teil von "Gutes tun (anderen)". Daß es sich bei "reich" nicht um eine übertragene Bedeutung handelt, geht aus dem nächsten Satz hervor: Es sind die Reichen und Mächtigen und zugleich Klugen, die da Gutes tun. Was sie aber dabei selbst gewinnen, ist "Glückseligkeit". Es ist also immerhin ein Austausch von Glückseligkeit gegen Reichtum möglich, und zwar zu Lebzeiten, wenn auch Glückseligkeit nicht schon selbst den Sinn von Reichtum annimmt. Halten wir fest: Die Bedingung für eine bestimmte Art von Glückseligkeit, die durch Gutes tun befördert wird, besteht darin, daß man erst einmal reich sei. Man hätte also gar keinen Grund, das Anhäufen von Reichtum zu bereuen oder sich dessen zu schämen.

„Nemlich kostbare Dinge besitzen ist nicht närrisch/ aber dieses ist ein Character der Thorheit/ wenn man an solche Dinge mit einer närrischen Liebe angefesselt ist/ und von ihnen besessen wird.“

Auf die Frage, ob es sündhaft sei, läßt sich Thomasius nicht ein; sein moralischer Bewertungsmaßstab klug-närrisch ist ein philosophischer, weltlicher. Aber das "besitzen", das mit "Gutes tun" zusammenhängt, stellt er närrischem Verhalten gegenüber, indem er einen zweiten Sinn von "besitzen" ins Spiel bringt, der im religiösen Sprachgebrauch aus der Bedeutungsübertragung der rechtlichen Besitzergreifung auf die des Menschen durch Dämonen entstanden ist. Das hat Zitatcharakter und dient zur Warnung. Ein kluger Mensch hält sein Innenleben und seine Besitzverhältnisse auseinander. Das klänge fast pietistisch, wenn nicht folgende Aussage wieder eine Art weltlicher Werkfrömmigkeit propagierte:

„Eine schlechte Lebens-Art ist alsdenn vor Tugend zu achten/ wenn sie von einer großmüthigen Verachtung des Reichthums begleitet wird/ sonst können unter dieser Masqve allerhand Eigenschafften des Geld-Geitzes verborgen stecken. Hingegen muß man die nicht vor hochmüthig oder vor Verschwender ansehen/ die propre leben und viel auffgehen lassen/ wenn sie nur solchen Staat allzeit fortzusetzen vermögend seyn/ und keine andere Marquen des Hochmuths oder der Wollust von sich blicken lassen.“

Das heißt doch: Wer schon einmal reich ist, soll das Geld unter die Leute bringen, dann tut er Gutes! Das merkantilistische Interesse an höherem Geldumlauf wird an die Stelle der christlichen Askese und Selbstverleugnung um Gottes und des Nächsten willen gesetzt.

„Man brauchet auch nicht allezeit eigentlich freygebig zu seyn/ und das Geld zu verschencken/ sondern man achtet auch alsdenn dasselbige nicht/ wenn man/ was man übrig hat/ nicht in den Kasten schliesset/ sondern durch andere Hände gehen lässet/ ob man es gleich nicht umsonst weg giebet. Zum Exempel: Wenn man (jedoch nach seinem Stande) eine ansehnliche Haußhaltung führet/ damit man viel andere erhalten helffe. Hiedurch schaffet man dem gemeinen Wesen mehr Nutzen/ als wenn man mit seiner Freygebigkeit faule Bettler/ die sich in eine Cynische Weißheit oder Pietistische Scheinheiligkeit verkappen/ ernehren wolte.“

Bereits 1702 enthielt ein Universitätsprogramm von Thomasius eine Absage an den Pietismus, unter Hinweis auf Lockes „Essay Concerning Human Understanding“. (vgl. Brüggemann, Fritz: Aus der Frühzeit der deutschen Aufklärung, Christian Thomasius und Christian Weise, Weimar und Leipzig 1928, Einführung.) Lange hat die Allianz also nicht gedauert. Die Ursache hierfür scheint nicht bloß ein persönliches Zerwürfnis mit Francke gewesen zu sein. Am Pietismus irritierte ihn mancherlei, und nicht zuletzt die religiös statt politisch motivierte Armenpflege. In unserm Text ist davon die Rede, daß einem „von vielen Scheinklugen ein subtiler Müßiggang unter dem Deckmantel der Gelehrsamkeit oder Frömmigkeit gar sehr gerathen und gepriesen wird“. Das geht gegen die vita contemplativa. Niemand kann aber behaupten, daß Francke die armen Leute, deren er sich annahm, nicht zur Arbeit angehalten hätte. Aber er hielt sie eben auch zu religiösen Übungen an: „Ich denke wohl manchmal, möchten doch die Reichen dieser Welt, die wohl 1000 und 100 000 Taler besitzen, soviel Liebe als Geld haben, so könnte man leicht überall Arbeitshäuser einrichten, daß wenigstens niemand sagen könne, er könne nichts zu arbeiten finden, wenn er gleich und gern arbeiten wolle, und wie manchem Menschen könnte dann in seiner Seele besser geraten werden“. (geschrieben 1702; zit. nach: Mitteldeutsche Lebensbilder, Bd. 4, S.41-59. — Wo "Liebe" und "Geld" gleichermaßen mit "besitzen" verbunden wären, läge die Vermutung nahe, daß "Besitzdenken" vorliege. Das setzt aber wahrscheinlich voraus, daß davon nicht nur in einem Wunsch, sondern mit Selbstverständlichkeit als von einer Tatsache gesprochen werden kann; hier handelt sich wohl noch um eine Metapher.) Schon bei Spener gehört zur Wohltätigkeit, daß Arbeitshäuser eingerichtet werden, und er hebt im Gegensatz zu Francke hervor, daß dies Sache der Obrigkeit sei. (vgl. Grün, Willi: Speners soziale Leistungen und Gedanken, Ein Beitrag zur Geschichte des Armenwesens und des kirchlichen Pietismus in Frankfurt a.M. und in Brandenburg-Preußen, Würzburg 1934, S.84 f.) Thomasius mußte sich blind stellen für das, was in Glaucha vor seinen Augen geschah, wenn er von „faulen Bettlern“ schreiben konnte. Das geht vielleicht nicht so sehr gegen eine bemerkbare Faulheit bei Franckes Schützlingen als gegen ein religiöses Verhalten, das dem Thomasius scheinheilig erschien. Ansonsten waltet ein merkwürdiges Mißverständnis. Auch Francke hatte bei aller Propaganda um Almosen nicht verboten, daß man „seine Haußhaltung beschicke“; auch Spener hatte einen Unterschied gemacht zwischen den wirklich bedürftigen Armen und den mutwilligen und faulen Bettlern.

Die Bedeutungen von "Haushaltung", von "reich" und "Reichtum", ja von "Gutes tun (Geld)" sind offenbar dieselben, doch ein neuer Sinn wird von Thomasius bei "nicht achten (Geld)", "freigiebig" und "Freigiebigkeit" eingeführt. Das steht allerdings nicht nur mit "Nutzen (Gemeinwesen)" in Verbindung, sonst bräuchten wir uns darum gar nicht zu bekümmern; die Redeweise entspräche gänzlich den wirtschaftlichen Gegebenheiten. Es heißt aber:

„Wahre Freygebigkeit und Allmosen ist/ wenn man denen Gutes thut/ die entweder gar nicht arbriten [sic] können/ oder die bei ihrer sauren Arbeit gleichwohl in Armuth leben; Wenn man einem armen Manne etwas mehr als gewöhnlich/ vor abgekauffte Waaren giebt/ wenn man armen Arbeitern den Lohn verbessert/ wenn man ihnen Geld ohne Zinsen leihet/ wenn man bald zahlet/ was sie zu fordern haben/ etc.“

"Weggeben (umsonst)" ist das also nicht; doch es hat mit dem Postulat des Austausches gleichwertiger Dinge im normalen Warenverkehr auch nichts zu tun. Oder macht sich das Wohltun anderswie bezahlt?

Im Hinblick auf die traditionelle Auffassung, daß Wohltaten ihren Sinn verlieren, wenn sie an die große Glocke gehängt werden, schreibt Thomasius:

„Was ich verkauffe/ ist keine Gutthat/ was aber öffentlich gegeben wird/ ist eben so viel/ als ob es verkaufft würde/ und dergestalt ist uns niemand einen Dank darvor schuldig.“

Es soll sich also nicht durch Publicity bezahlt machen, aber auf subtile Weise bringt das heimliche Geben auch etwas ein, nämlich "Dank". Daß dieser mit "schuldig sein" im Sinne des heutigen "schulden" in Verbindung gebracht wird, ist wohl ein Beleg für beginnendes Besitzdenken, weil "Dank" dadurch dem Sinne nach als Zahlungsmittel oder Ware erscheint. Es liegt wahrscheinlich nicht bloß eine Metapher vor, weil sie sonst sehr ungeschickt auf die sonstige rhetorische Gestaltung des Textes abgestimmt wäre: das heimliche Geben im Unterschied zum öffentlichen soll ja gerade nicht so sein, „als ob es verkaufft würde“. Kann man noch ein weiteres Beispiel finden? (Denn sehr überzeugend ist dieses eine nicht, weil ich erst die Aussage des Satzes umkehren mußte.)

Wie das Führen der Haushaltung, so unterliegt auch das Wohltun ständischen Beschränkungen:

„Andern Gutes thun gehöret eigentlich vor Hohe und Mächtige. Den Geringern stehet zu/ Gutthaten von jenen anzunehmen/ und durch Dienstfertigkeit sich danckbar zu erweisen.“ — „Hüte du dich ferner/ daß du nicht denen Geschencke anbietest/ die sie mit Recht und ohne Verletzung ihrer Ehre nicht annehmen können.“

Mit der freien Konvertierbarkeit des Schenkens ist es also nichts. "Gutes tun" muß eine weitere Bedeutung haben als den Sinn von "Almosen geben", wenn die unteren Stände nicht ohne Zugang zur Klugheit bleiben sollen.

„Jedoch muß man etwas vornehmen. Ein Weiser bringet sein Leben nicht mit Speculiren/ sondern mit Thun und Arbeiten zu. Wer nichts thut/ thut auch nichts gutes/ sondern faullenzet. Die Tugend wirddurch Übung erhalten. Die Laster werden dadurch nicht gedämpffet/ wenn man nichts thut/ […]“

Das wäre reformatorisch gedacht — jeder arbeite, wohin Gott ihn gestellt hat —, wenn nun auch von Beruf oder von der Ehre Gottes die Rede wäre. Aber unprätentiös wie nur je bei Wilhelm Busch wird das Gute, das da durch Arbeiten getan wird, beschrieben als „das Böse, was man läßt“. Ja, im Gegensatz zu christlicher Überlieferung wird die Schwelle zum Bösen durch Arbeiten nie überschritten, auch wenn sich immer mehr Reichtümer ansammeln:

„Es müssen aber auch diejenigen arbeiten/ die schon reich sind. […] Du must dich demnach in Zeiten zur Arbeit gewöhnen/ damit sie dir im Nothfalle nicht sehr beschwerlich oder gar unmöglich werde.“

Wenn "reich sein" auch keine Bedingung für "nicht arbeiten" ist, sondern eher für "arbeiten“, so führt "arbeiten", so "gut" es sein mag, nicht immer zu „reich sein"; wäre das in irgendeiner Weise der Fall, die einen "Gewinn" aus zwischenmenschlichen Beziehungen einschlösse, so läge Besitzdenken vor — doch Thomasius hält sich vor derartigen Aussagen zurück. Im Gegenteil: seelische Güter, die man erwürbe, kommen in seiner Sinngebung von "Reichtum" nicht vor, dagegen "Reichtum" in eigentlicher Bedeutung, der angeborene psychische Eigenschaften zur Voraussetzung hat:

„Der Mensch brauchet vielerley zu seines Lebens Erhaltung. Wie nun dieses/ nachdem das Eigenthum eingeführet worden/ nicht angebohren wird/ also muß er/ was er brauchet/ durch rechtmäßige Mittel erwerben.“

Rechtlich geregelte Marktbeziehungen als Folge von "Eigentum": das paßt zu Macphersons Punkten.

„Die Mittel/ dadurch man alles erwerben kan/ sind Witz und Geschicklchkeit [sic] / und Arbeit.“

„Arbeit ist ein Werck des Leibes; Geschicklichkeit aber ein Werck des Gemüths/ und kan keines ohne das andere seyn/ wenn man klüglich handeln will. Witz ohne Arbeit verwandelt sich in Betrug und Spitzbüberey. Esels-Arbeit aber ohne Witz bringet nicht Reichthum sondern Disteln/ […]“— „Solcher Kauffmanns-Witz aber wird den Menschen mehr angebohren als erlernet oder angewöhnet.“

Hier haben wir also wieder die von Geburt bestimmte Zugehörigkeit zu einem Stande, und kein zu erwerbendes "Eigentum" an Fähigkeiten begründet einen Austausch, einen Wechsel des gesellschaftlichen Status. Dazu gehört wie der Schlußstein zum Gewölbe die Tatsache, daß "besitzen" bei Thomasius noch nicht die Bedeutung eines freien Verfügens über Besitzobjekte hat:

„Im übrigen ist es mit dem Reichthum so beschaffen/ daß es ein kluger Mann nicht zu besitzen/ sondern zu gebrauchen suchet.“

"Besitzen" bedeutet also vermutlich das Verhalten des Schatzbildners zu seinem Mammon, nicht aber das Wirtschaften des Kapitalisten.

Wenn auch ein Kristallisationspunkt für "Besitzdenken" bei Thomasius erkennbar ist, so ist er doch von einer etablierten "Besitzsprache" noch weit entfernt.