Herantasten an das Untersuchungsgebiet


Modelle geben Kriterien an die Hand, wie ein Untersuchungsgebiet beschaffen sein soll, damit es für eine bestimmte These relevant ist; sie erschließen selbst noch keine konkreten Gegenstände der Untersuchung. Immerhin haben wir Anhaltspunkte dafür, daß die Suche nach deutschen Verhältnissen, die denen der Modelle entsprechen könnten, einigen Erfolg verspricht, wenn man sie beim späten 17.Jahrhundert ansetzen läßt.

Im Verbreitungsgebiet der deutschen Sprache gab es bis ins vorige Jahrhundert keine nationalstaatliche Organisation der Art, die es beim Hinblick auf die westeuropäischen Länder leicht macht, von einer im Gebiet der jeweiligen Sprache herrschenden Kultur zu reden. Kein deutscher König hatte ein übergreifendes Rechtssystem einzuführen vermocht. Es gab auch keine Bewilligungsinstanz für Steuern, die für ganz Deutschland zuständig gewesen wäre nach Art der westeuropäischen Parlamente. Der Reichstag war mit jenen nicht zu vergleichen. Keine nationale Organisation wie der englische Tuchhandel existierte, trotz einiger Ansätze bei der Hanse. (vgl. Walter Horace Bruford, Germany in the Eighteenth Century: The Social Background of the Literary Revival, Cambridge 1959.) Zudem war Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg verarmt und in wirtschaftliche Rückständigkeit geraten.

Es blieben aber im Ganzen gesehen die alten ständestaatlichen Verhältnisse nicht länger als anderswo erhalten. In dem Maße, in dem sich ein Fürst nach außen hin souverän erzeigte, wichen im Innern seines Landes die auf Gegenseitigkeit beruhenden feudalen Rechtspositionen der absoluten Befehlsgewalt. Schon die Reformation hatte in den Gebieten, die sie erfaßte, dazu beigetragen, indem sie zuerst die geistlichen Angelegenheiten zu Objekten einer zentralen Verwaltung machte; doch auch das veränderte System der Kriegsführung, das einen Teil des Adels funktionslos werden ließ, und das Bedürfnis nach „innerer Sicherheit“ förderte in manchen Ländern, oft mit Zustimmung der ständischen Vertretungen, den Absolutismus. In Preußen, Kursachsen und Württemberg zeigte er sich ausgeprägt und funktionsfähig. In Kleinstaaten machte er sich oft um so bemerkbarer, als die Organisation eine kleine Bevölkerung besser in den Griff bekam. Dennoch erhielten sich viele politische Relikte. Wir müssen uns überhaupt vor Augen halten, daß etwa achtzig Prozent der deutschen Bevölkerung landwirtschaftlich produzierten und bis zum Anfang einer praktisch orientierten Volksbildungsbewegung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts keinerlei Veränderung ihrer traditionellen Lebensweise erfuhren. Ähnliches gilt für einige Hunderte kleiner, halb landwirtschaftlich strukturierter Städte, wo in geschlossenen Hauswirtschaften vieles von dem noch produziert und verarbeitet wurde, was zur gleichen Zeit, zum Beispiel in England, bereits durch den Handel vermittelt wurde. Wenn es also in Deutschland in der fraglichen Zeit zu einem gesellschaftlichen Wandel kam, der in ursächlicher Beziehung zur kulturellen Entwicklung gesehen werden kann, so betraf er allenfalls die sozialen Verschiebungen im Adel, in der Einwohnerschaft größerer Städte, und in deren gegenseitigem Verhältnis.

Der Hochadel bestand aus dem Kreis der Personen, die Sitz und Stimme im Reichstag hatten, von den Kurfürsten bis zu den Reichsgrafen. Der niedere Adel ging auf die Ministerialen des Mittelalters zurück. Er war geteilt in den reichsunmittelbaren Adel und den Landadel, der jeweils dem Fürsten untertan war, in dessen Land seine Territorien lagen. Wichtig in unserem Sinne sind die Wandlungen innerhalb der adligen Stände. Die Stellung des Landesadels zum Fürsten gestaltete sich dahingehend, daß, wer an der Macht und an den finanziellen Vorzügen seiner angeborenen privilegierten Stellung weiterhin teilhaben wollte, sich am Hof des Fürsten aufzuhalten hatte. Der zur Erledigung seiner feudalen Aufgaben an den Hofdienst, bestenfalls Verwaltungsdienst gebundene Hofadel bildet die höfische Gesellschaft des absolutistischen Staatswesens. Die Fürsten walten als Hausherren inmitten ihres Hofes. Noch gibt es keine Trennung von Staatshaushalt und "privatem" Haushalt der Fürsten. Zu den Bürgern in den Städten gestaltet sich das Verhältnis geradezu feindselig. Die Einkünfte des Adels aus seinen Besitzungen, die Grundrenten, bleiben annähernd gleich, die Ausgaben aber steigen mit zunehmender Leistungsfähigkeit des Handels und der Luxusgüter-Produktion. Der Adel muß mit der ihn nachäffenden bürgerlichen Spitzengruppe konkurrieren können, um sein Prestige zu halten. Daraus resultiert, wie in Frankreich, so auch an einigen deutschen Höfen, eine zunehmende Verschuldung des Adels beim Bürgertum. Würde diese Entwicklung konsequent fortgehen, so bliebe dem Adel nichts als seine Ehre und sein Rang. Der Rang muß jedoch repräsentiert werden, damit der Kontakt mit dem Hof erhalten bleibt. Nur am Hofe kann es sich ereignen, daß man durch die Gnade des Fürsten wieder zu neuen Einkünften kommt.

„Übrigens verhinderten die spezifischen Formen der Exklusivität vieler deutscher Adelsgruppen, die sich zum Unterschied von denen der Pariser höfischen Gesellschaft und der Londoner Society nicht einfach in der strikten Beobachtung von Rangunterschieden, sondern oft genug in einem völligen 'Unter-sich-bleiben', in der mehr oder weniger strengen Ausschließung von Bürgerlichen vom normalen gesellschaftlich-geselligen Verkehr äußerte, die umfassende Durchdringung bürgerlicher Schichten mit adligen Verhaltensformen, die man eine zeitlang sowohl in Frankreich wie in England beobachten kann,“. (s. Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft, Neuwied und Berlin 1969, S. 149.) In Westeuropa bestanden zwischen dem Hochadel und dem absoluten König noch Spannungen, die von den Bürgerlichen ausgenutzt werden konnten. In Deutschland waren sich Adel und Fürsten jedenfalls immer dann einig, wenn es um die Entrechtung der übrigen Klassen ging. Die höheren Staatsämter standen Leuten aus dem Bürgertum in weit geringerem Ausmaß offen als in jenen Ländern. (vgl. Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1973, S.619.) Eine zeitlang wurde den Doktoren der Rechte der Adelsrang zuerkannt, und es hätte sich etwas Ähnliches wie die französische „noblesse de robe“ bilden können, doch die Juristen konnten diese Position nicht halten, und im 18.Jahrhundert wurde das Doktorat bei Hofe geringer geschätzt als der Titel „Hofrat“.

Im absolutistischen Staat des 18.Jahrhunderts nahmen die theologischen und juristischen Ratgeber der Fürsten eine weit unselbständigere Position ein als noch im 17.Jahrhundert. Immerhin wurden auch in Deutschland die Juristen zu den führenden Schichten des Bürgertums gerechnet. Mediziner konnten ihr Ansehen nur um vieles langsamer heben. Der protestantische Klerus konnte sich gewöhnlich mit den Beamten des Fürsten im Rang nicht vergleichen, jedenfalls nicht bis, um die zweite Hälfte des 18.Jahrhunderts, der Klerus selbst zu einer Art von Beamtenschaft geworden war. Was die Graduierten der Philosophischen Fakultät anbetrifft, so konnten sie damals kaum als eine soziale Größe für sich gelten. Die meisten Studenten durchliefen diesen Studiengang als Vorbereitung auf einen anderen. Wer nur die freien Künste studiert hatte und vielleicht Magister geworden war, fand in der Regel nur als Schulmeister oder Hofmeister Verwendung, und diese Posten warfen wenig mehr als das Existenzminimum ab. Die soziale Differenzierung innerhalb der Schichten des Bürgertums war also kaum eine Frage des Ausbildungsniveaus, eher schon des Berufes; daß hierbei nur eine geringe Korrelation besteht, führe ich darauf zurück, daß der entscheidende Faktor für das soziale Prestige eines Bürgerlichen von aller Anfang in seinen Besitzchancen lag.

In den Reichsstädten hatten die Patrizier das beinahe ausschließliche Recht auf einen Sitz im Stadtrat. Es waren dies die vornehmsten Familien, die weder Handwerk noch Einzelhandel trieben, sondern ihr Einkommen entweder aus Grundbesitz, Fernhandel, Finanzgeschäften von einigem Ausmaß oder aus den Einkünften eines hohen Amtes bezogen. Am Beispiel Frankfurts läßt sich die typische soziale Fünfgliederung der Einwohnerschaft einer Freien Reichsstadt demonstrieren: Zu den eigentlichen Patriziern gehörten außer den Ratsfähigen noch die Doktoren der Rechte und der Medizin sowie Adlige, die länger als ein Jahrhundert in der Stadt ansässig gewesen waren. Als nächste Schicht folgte die der Gilden- und Zunftvertreter, Großhändler und Großbankiers, dann die der Notare, Advokaten, Künstler und mittleren Geschäftsleute. Die vierte Schicht machten die Kleinkrämer, Gesellen und einfachen Handwerker aus. Der Rest bestand aus Lohnarbeitern und Dienstboten. Gewisse Berufsgruppen erstreckten sich quer durch das Schichtengefüge, vor allem der Klerus und das Militär, die in sich eigene Rangordnungen aufstellten. Als dritte solche Berufsgruppe kam mit dem 18.Jahrhundert die schon erwähnte Beamtenschaft auf, wodurch die Korrelation zwischen ständischem Rang und Prestige ein weiteres Mal gestört wurde. Man kann sie als eine zweite Welle sozialer Aufsteiger mit Universitätsausbildung betrachten. Jedenfalls handelt es sich nicht um den gleichen Prozeß, der schon seit zweihundert Jahren einige Juristen in hohe Staatsämter brachte. Dies trifft natürlich nicht nur für die Freien Reichsstädte zu, sondern trat überall dort ein, wo die Verwaltung ausgebaut wurde. In anderer Hinsicht aber wichen die sozialen Verhältnisse von Reichsstädten und „Landstädten“, wo ein Fürst die höchste Obrigkeit darstellte, merklich voneinander ab.

Wir sehen schon, daß es für das 18.Jahrhundert nicht möglich ist, vom gesamten Bürgertum als einer Klasse zu reden. Wer sich damals als "Bürger" bezeichnete, mußte, um sozial klassifiziert werden zu können, noch einige qualifizierende Attribute dazusetzen. In den „Landstädten“ gab es eine Anzahl „gefreiter“ Bürger, die von ihrem Untertanenverhältnis gegenüber dem Magistrat entbunden und dafür direkt dem Fürsten und seinen Räten unterstellt waren. Sie hatten meistens irgendwie mit dem Hof zu tun, insbesondere in Residenzstädten. Der Status des gefreiten Bürgers bedeutet einen Einbruch ins bisherige soziale Gefüge; vor allem im Hinblick auf Manufakturisten und Hoflieferanten scheint mir hier ein Indiz für einen tatsächlichen Übergang vom ständischen Bürgertum zur bürgerlichen Klasse vorzuliegen. Es muß festgestellt werden, daß es in der Regel nicht die reichen Patrizier sind, die bei diesem Wandel vorangehen. Diese waren meist durch Sanierungsheiraten oder Erwerb von Grundbesitz parasitär mit dem niederen Adel verschmolzen. Zu den Bürgerlichen in unserem Sinn gehören sie höchstens, indem sie „privatisieren“, ihren geschäftlichen Obliegenheiten einen Teil ihrer Aufmerksamkeit entziehen, z.B. als Dilettanten der Künste und Wissenschaften.

Die Vertreter der herkömmlichen Stände hatten keinen leichten Stand mehr. In Kursachsen, wo sie, wie sonst nur noch in Württemberg, noch regelmäßig zusammentraten, gelang es ihnen nicht, August den Starken (1694-1733) und seinen Minister, den Grafen Brühl, an der Ausführung ihrer Kabinettspolitik merklich zu hindern. Sie vertraten eben nichts als partikuläre Interessen im Rahmen eines nur mehr auf dem Papier existierenden Regierungssystems und konnten somit von den Vertretern der absolutistischen Neuordnung unterlaufen werden. Dazu, und letztlich zur zentralen Einflußnahme auf das wirtschaftliche Geschehen, bediente sich der Staat seines neuen Heeres von Beamten. Von 1786 liegt eine Schätzung vor, nach der in Kursachsen auf zwei Millionen Einwohner 6500 Zivilbeamte kamen.

Fassen wir noch einmal zusammen, welche von den Bürgern als Bürgerliche in Frage kommen: Die Kaufleute zweiter Garnitur, denen an einer Lockerung der bisherigen Monopol- und Stapelpolitik gelegen war. Die Finanziers, denen an einer marktgerechten Handhabung des Zinssatzes gelegen war. Verleger und Manufakturisten. Ihre Arbeiter, sowie alle Handwerker und Künstler ohne Zunftbindung, solange ihre Löhne durch Marktorientierung eher gehoben als gesenkt wurden. Schließlich Universitätsabsolventen, die nach Verwaltungsämtern strebten oder die mit einem eventuellen Markt für intellektuelle Produkte zu tun bekamen.

Es gab bis weit über die Mitte des 18.Jahrhunderts hinaus in keinem Lande Deutschlands eine bürgerliche Gesellschaft, in der die Interessen und die Lebensweise anderer Klassen nur Ausnahmen von den Regeln unseres Modells gewesen wären. Die Bürgerlichen führten lange ein parasitäres Dasein innerhalb der rechtlich undefinierten Bereiche der eigenartig zwiespältigen feudal-absolutistischen Gesellschaftsstruktur. Andererseits erscheinen der Fürst und sein Hof als Parasiten der bürgerlichen Wirtschaftstätigkeit. Jedenfalls waren die Bürgerlichen in Erwerb und Besitzstand sehr abhängig von der Autorität des Fürsten, dessen Entscheidungen oft genug launenhaft waren. Erst als die Bürgerlichen über den größten Teil des vorhandenen Kapitals verfügten, konnten sie daran denken, die Interessengemeinschaft mit den Fürsten aufzugeben und den Merkantilismus hinter sich zu lassen. Im gleichen Moment konnten sie sich auch von ärmeren Schichten der Bevölkerung abheben. Da die Adligen und andere Privilegierte keine Steuern zahlten und der Grundsatz galt, diejenigen am höchsten zu besteuern, die sich am wenigsten wehren konnten, lief der Merkantilismus darauf hinaus, daß gerade die sozial und oft auch ökonomisch schwächsten Schichten die Erweiterung der Industrie und damit des Kapitalismus zu tragen hatten. Dadurch wurden die Tauschvorgänge nicht gerade ermuntert. Doch die merkantilistischen Ratgeber der Fürsten dachten eigentlich noch im Rahmen der traditionellen Stapel- und Monopolpolitik. Die Überzeugung, daß jeder nur durch den Verlust des andern profitieren könne, führte nach dem Vorbild mittelalterlich-städtischer Ansätze zur Marktregulierung durch den Staat. Neu war daran nur, daß die Geldmenge eines Staates für entscheidend gehalten wurde. Geld und Kapital wurde mehr oder weniger bewußt gleichgesetzt. Das entspricht der Erfahrung des frühen Unternehmers bei unentwickeltem Kreditwesen, daß flüssiges Geld da sein muß, um Hilfsquellen zur industriellen Tätigkeit zu mobilisieren.

Der Staat war anfangs der Unternehmer, auf den es ankam. Die Märkte waren mit französischen Luxusartikeln aus Manufakturproduktion geradezu überschwemmt. Diese Güter wurden den deutschen Handwerksprodukten ihrer Qualität wegen und wegen wechselnder Moden vorgezogen. Nun mußte man, um das Geld im Lande zu halten, eigene Luxusgütermanufakturen errichten. Dies geschah meist in oder in der Nähe von Residenzstädten, den Zentren des Verbrauchs. Freilich arbeiteten solche Manufakturen oft mit Verlust und waren also vom Wohlwollen des Fürsten und seiner Schatulle abhängig. Deutschland besaß eine unabhängige kapitalistische Industrie anfangs fast nur in Gestalt des Verlagssystems, das auf Heimarbeit beruhte. Es fand sich überall da, wo in der Nähe von Städten die ständischen Regulationen durchbrochen werden konnten, also im Umland, und dabei in Gebieten, wo die Landwirtschaft des Bodens halber wenig abwarf. Zu nennen sind Schlesien, Thüringen, Sachsen, Westfalen, Württemberg und die Schweiz. Für das Aufkommen der privaten Fabrikproduktion, mit der die ökonomische Vormachtstellung der bürgerlichen Klasse beginnt, fehlten in der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts noch zwei Voraussetzungen: Maschinen, um ungelernte Arbeitskräfte billig einsetzen zu können, und Gewerbefreiheit. Ungelernte, mittellose Arbeitskräfte hätte es allerdings schon in großer Anzahl gegeben: entlassene Soldaten, Invaliden, Bediente, verkrachte Studenten, religiös Verfolgte, ja selbst verarmte Adlige. Sie erhielten sich, falls überhaupt, durch Betteln. Ein Pfarrer auf dem Lande hatte jährlich etwa 40 Taler für Almosen einzukalkulieren. Man konnte sich fast nirgendwo aufhalten, ohne angebettelt zu werden.

Bevor wir es unternehmen, den Blickwinkel auf die wenigen Zentren einzuengen, wo es zur Bildung einer bürgerlichen Kultur kommen konnte, muß erwähnt werden, daß wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung nicht unmittelbar kausal aufeinander bezogen werden können.

Die wirtschaftliche ist ein Teil der kulturellen, und mit einem weiteren Teil, der gesellschaftlichen Entwicklung, im Sinn wechselseitiger Einflußnahme relativ locker verbunden. Die gesellschaftliche Entwicklung ermöglicht wiederum kulturelle Neuerungen, an denen die Träger der wirtschaftlichen Entwicklung nicht teilhaben müssen, andere aber teilhaben können, insofern sie durch ihre gesellschaftliche Stellung nicht geradezu davon ausgeschlossen sind. Konkret: Der Hof blieb lange Zeit maßgebend, was die Künste, die Moden, den ganzen Aufwand der Lebenshaltung anbelangt, während seine wirtschaftliche Position bereits stagnierte. Diejenigen Schichten des Bürgertums, die diesem Vorbild am ehesten nachkommen konnten, waren die Patrizier und sonstige Reiche, soweit sie nicht durch ständische Vorschriften davon abgehalten wurden. Die Kultur der mittleren Schichten war, von da aus betrachtet, allein durch Mangel gekennzeichnet. Freilich hatten diese Leute, die nicht einerlei Gruppe mit den Bürgerlichen ausmachen, eine durchaus eigene Art zu leben, aber sie hatten sich vergleichsweise wenig literarisch oder sonstwie künstlerisch informiert oder betätigt. Der Einfluß des Hofes hatte höchstens die äußerlichsten Merkmale beigesteuert, vor allem bei der Kleidermode. Die aus dieser Schicht hervorgehenden bürgerlichen Beamten, Künstler und Gelehrten, die von ihrer geistigen Arbeit lebten, lernten dementsprechend die intellektuellen Werte der bislang noch höfischen Kultur höher schätzen. Wegen ihrer Herkunft blieb ihnen jedoch viel von den Anschauungen des alten Kleinbürgertums, das in wirtschaftlicher Hinsicht noch gar nicht bürgerlich war. Dies bezieht sich vor allem auf die Moral, insbesondere die Sexualmoral. Von den bürgerlichen Kapitalisten, die beruflich nicht mit intellektuellen Dingen zu tun hatten, kann man ohnehin keine andere als eine passive Haltung zu kulturellen Erscheinungen erwarten. Auf der anderen Seite sind die Spitzengruppen des Bürgertums und der Adel diejenigen Personenkreise, die zur Aufnahme und Anregung kultureller, besonders künstlerischer Neuerungen am ehesten imstande waren. Man kann annehmen, daß es sowohl beim Adel als auch beim Bürgertum gleichzeitig fortschrittliche, aber auch konservative Teilgruppen gab, die sich vielfach überschnitten.

Wenn wir nach Maßgabe des Obigen vermeiden, eine allzu isolierte Betrachtung anzustellen, können wir die Untersuchung eines sprachlichen Wandels, der mit dem Aufkommen der bürgerlichen Klasse in Verbindung steht, auf den kulturellen Raum von Städten beschränken, die sowohl Universitäts- als auch große Handelsstädte waren und in einem absolutistisch regierten Lande lagen. Es gab nur eine solche Stadt. Diese Stadt war Leipzig.

Die Neuorientierung des deutschen Handels nach Norden anstatt nach Italien, nach dem Wandel der Haupt-Schiffahrtsrouten, kam wegen der zahlreichen Zollschranken längs des Rheins vor allem Hamburg zugute, und davon profitierte auch Leipzig, als Mittelpunkt der Nord-Süd-Verbindung. Leipzig lag zusätzlich am Schnittpunkt zweier alter Handelsstraßen, nämlich der Verbindung Frankfurt-Eisenach-Erfurt-Halle und der Verbindung Köln-Breslau. Die Leipziger Messen, eine schon sehr alte Einrichtung, zogen dreimal jährlich bis zu 7000 fremde Kaufleute an. Im 18.Jahrhundert kamen zu den Waren, die dort herkömmlicherweise gehandelt wurden, noch die Textilien der nach Sachsen immigrierten holländischen und hugenottischen Flüchtlinge, das Meißner Porzellan, die Baumwolle von Chemnitz — und der erweiterte Buchhandel. Frankfurt hatte seine beherrschende Stellung in dieser Branche am Anfang des 17.Jahrhunderts an Leipzig verloren. Dafür war teilweise die Errichtung einer kaiserlichen Zensurbehörde die Ursache, teilweise das Nachlassen des Buchverkaufs nach Italien als Folge des 1570 eingeführten römischen Index, teilweise auch die zunftgemäßen Vorteile, die sich die reichsstädtischen Buchhändler im Verkehr mit Fremden nicht nehmen ließen. Die kaiserliche Zensur konnte sich wegen ihrer schwachen Organisation außerhalb Frankfurts nicht durchsetzen. Das gestaltete die Presseverhältnisse ebenso verschiedenartig wie die politischen Verhältnisse, und es fanden sich Schlupflöcher. Zum zentralen Umschlag all dieser Bücher war Leipzig der geeignetere Ort.

„Ungleich weniger, als in Österreich und Preußen, war die Industrie im Kurfürstenthum Sachsen durch Monopole und Staatsunterstützungen großgezogen worden“. (Karl Biedermann, Deutschland im Achtzehnten Jahrhundert, 1.Bd, S.299.) Sie beruhte auf den schon angeführten Handelsvorteilen, und ihre Unternehmer waren keine Staatsbeamte, auch selten Abenteurer, sondern Angehörige der Mittelschichten, die auf eigenes Risiko arbeiteten und sich zum Teil erst langsam hochgearbeitet hatten. Sachsen war auch schon lange ein Schwerpunkt der Hüttenindustrie und des Bergbaus. So kam Leipzig zu seiner Stellung als größter Warenumschlagplatz Mitteleuropas, inmitten der Bergbau- und Textilreviere zwischen Harz, Thüringer Wald, dem Erzgebirge und der Lausitz; hier waren bürgerliche Interessen gewiß vorhanden.

Eine etwas ungewisse Schätzung aus dem Jahre 1760 besagt, daß in Kursachsen etwa Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung in Städten lebte. Der Anteil der Bürgerlichen wird entsprechend hoch gewesen sein. So ist es nicht verwunderlich, daß man von Leipzig, neben Hamburg und Zürich, als einem ersten Zentrum der Aufklärung in Deutschland spricht.


Sonstige Schriften, die zugrundegelegt wurden:

Karl Biedermann, Deutschland im Achtzehnten Jahrhundert, 1.Bd: Politische, materielle und sociale Zustände, Leipzig 1854.

Leo Balet und E.Gerhard, Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18.Jahrhundert, Leipzig, Straßburg, Zürich, 1936.

Günther Mühlpfordt, Die Deutsche Aufklärung und ihr Zentrum Halle-Leipzig, Zur gesamtgeschichtlichen Betrachtung geistiger Bewegungen, in: Wissenschaftliche Annalen 2, Heft 6, AkademieVerlag (Ost-)Berlin 1953.

Werner Krauss, Studien zur deutschen und französischen Aufklärung, in: Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 16, (Ost-)Berlin 1963.