Poesie der Pegnesen

© Werner Kügel, 2007


Fünfter Abschnitt: Epigonen


Vor der Revolution von 1848 (geschichtlich gesehen) bzw. vor der Literaturepoche des Realismus waren manche Schriftsteller von dem Gefühl durchdrungen, Epigonen zu sein, und demgemäß hat man sie rückblickend oft beurteilt. Ursprünglich bezeichnete das Wort die Söhne von Helden, die gleiches erstrebten wie ihre Väter: "[...] daher sie gleichsam so viel, als Nachhergeborene heißen [...] Es sind aber solche die Söhne der im ersten Zuge wider Theben vereinigten sieben Fürsten [...]" Wer mit besonderer Breitenwirkung diese Bezeichnung auf seine eigene Epoche anwandte, das war Karl Immermann: "Wir können nicht leugnen, dass über unsre Häupter eine gefährliche Weltepoche hereingebrochen ist. Unglücks haben die Menschen zu allen Zeiten genug gehabt; der Fluch des gegenwärtigen Geschlechts ist aber, sich auch ohne alles besonderes Leid unselig zu fühlen. Es ist, als ob die Menschheit in ihrem Schifflein auf einem übergewaltigen Meere umhergeworfen, an einer moralischen Seekrankheit leide, deren Ende kaum abzusehen ist. Man muss noch zum Teil einer andern Periode angehört haben, um den Gegensatz der beiden Zeiten ganz empfinden zu können. — Wir sind, um in einem Worte das ganze Elend auszusprechen, Epigonen und tragen an der Last, die jeder Erb- und Nachgeborenschaft anzukleben pflegt." Als Heinrich Laube 1836  Immermanns Roman "Epigonen" ankündigt, schreibt er u.a.: "[...] Epigonen heißt der Roman, weil wir gleich den Nachkommen in Theben eine eingeleitete Geschichte vorfinden und von den Consequenzen und Nothwendigkeiten derselben leben, leiden und sterben. Wir haben unsere Zeit nicht begonnen, wir haben den Kampf gegen geistliche und weltliche Auktorität nicht angefangen, aber wir haben ihn geerbt mit allen Verzweigungen, in seinem Blute sind wir aufgesäugt und können deshalb Temperament, Leidenschaften der Väter nicht verleugnen, Schicksalen nicht entgehn, deren Vorbedingungen von uns angenommen sind. [...] Alte ritterliche Spiele sollen in einem Turnier gefeiert werden, und wie das Alles nicht mehr gehen will, wie in den Wünschenden selbst und ringsumher eine andere Welt liegt, wie es ein unseliges Beginnen sei, mit Schöpfung einer bloßen Staffage mehr als ein bloßes Spiel zu beabsichtigen. Für die Romantiker und manche Andere liegt große Weisheit in diesem Buche, [...]" Anders als im Inhaltlich-Stofflichen, das im Roman nicht mehr gehen will, oder im Politischen, das vor 1848 noch nicht gehen will, sieht Friedrich Sengle das Besondere des Epigonenzeitalters in einer stilistischen Unselbständigkeit: "Das bloße Epigonentum, das es immer gegeben hat und das nicht stilsprengend zu sein braucht, scheint sich hier [bei Rückert] mit Hilfe einer alles berührenden Philologie, eines konsequenten literarischen Historismus zum universalen Epigonentum weiterentwickelt zu haben, das eben dadurch, daß es alle Traditionen aufgreift, jede bestimmte Tradition und Stilprägung unmöglich macht." Es will scheinen, daß die Pegnesen zwischen 1820 und 1844, Angehörige der Biedermeierzeit auch sie, den Problemen, dem eigenen Bewußtsein und auch dem Vorwurf, Epigonen zu sein, ebensowenig entkommen konnten wie der bei Sengle einzig aus ihrem Mitgliederbestand genannte Rückert. Gelehrt genug waren sie dazu, es standen ihnen viele Muster zur Verfügung. Doch wenn nun einiges von ihrer Produktion hier betrachtet wird, obwohl es nicht einmal in Sengles weitausholender und stoffreicher Darstellung gestreift wird, so geschieht dies in der Hoffnung, vielleicht noch etwas darunter zu finden, was einigermaßen originell und zukunftsträchtig gewesen wäre. Dazu sollte man aber erst einmal als Hintergrund den Bereich der herkömmlichen geselligen Dichtung betrachten, von dem sich gute Einzelleistungen abheben müßten.


Neue gesellige Dichtung

 


Damit es zu einem Wiederaufleben des Dichtens in geselligem Austausch kommen konnte, mußten im Orden dazu gestimmte und geeignete Mitglieder auftreten. Eine neue Errungenschaft dieser Art stellte Johann Christoph Jakob Wilder dar, nicht der Maler und Zeichner — das war sein jüngerer Bruder Georg Christoph —, sondern Pfarrer, obwohl es von ihm auch heißt: "Wilder hat sich von Jugend auf zwar mit der zeichnenden, nicht aber mit der dichtenden Kunst beschäftiget. Zu ihr neigte er erst im Mannesalter hin, und solche Neigung konnte ihn mit dem Pegnesischen Orden gar leicht in Berührung bringen. Diesem gehörte er an seit 1813 und zwar mit ganzer Seele; 1829 wurde er Ordenskonsulent." Dadurch wurde man seiner Bedeutung beim Aufkommen des monatlichen Dichterkränzleins seit 1827 gerecht: "Der Orden war durch ihn außer Verlegenheit, die Zeit der Verhandlungen mit Erzeugnissen der Mitglieder auszufüllen; ja Wilders freigebige Muse war Hauptgrund zur Bildung eines engeren Kreises, in welchem monatlich vorgetragen, geprüft, und für die bevorstehende Ordensversammlung ausgewählt wurde. Sein poetischer Nachlaß ist darum beträchtlich. [...]"


Das ist kein Wunder, wenn irgendein Blatt zur Einladung dieses Kreises, das herumgegeben und mit Vermerken versehen wurde, von Wilder nur eben so in der Gestalt einer jahreszeitlichen Betrachtung abgefaßt werden konnte:

 

Zerrissen sind die magisch starken Bande,

Die uns gezogen nach dem Ludwigsfeld;

Leer ist die Haide mit dem magren Sande,

Ich sehe keine Bude mehr, kein Zelt!

Vorüber sind die freundlichen Momente,

Wo man so innig sich zusammenfand;

Auch jene, wo der Wuth der Elemente

Man trotzend manches Abentheu'r bestand!

Soll ich das alles, alles wiederhohlen,

Erneuen manche Wunde, die sich schloß,

Wenn man gesteht sich lächelnd und verstohlen,

Daß man bald halb erstickte, halb zerfloß?

O nein, das will ich alles nicht erneuen;

Die Freunde lade ich in unsern Hain,

Den unsichtbaren, wo wir uns erfreuen

Der Poesie mit diesen Zeilen ein!

Es pocht der Herbst bereits ja an die Schwelle

Des Sommers und das Abenddunkel reicht

Wohl in des Tags Gebiet, bis an die Stelle

Des Sonnensohns der Traubenspender steigt! —

Laßt uns vereint dann jetzt zurückekehren

Zu unserm Kreis im niedrigen Gemach; —

Wer lächelt drob? — Mag er des Schmucks entbehren,

Wir hängen dort nur unsrer Neigung nach!

Und nicht wahr? Alle, die dieß Blatt begrüßet,

Sie werden seine Bitte nicht verschmähn!

Wo heitre Lust für Dichter sich ergießet

Da wollen wir uns freudig immer sehn!


Nbg den 3. Septemb. 1834

JCJ Wilder


Es folgt der freundlichen Einladung             Dietelmair

Leider verhindert                                       Seidel

Meißner ist leider verhindert

Ich werde kommen                                    Harless

Leider ist so mancher, der der lieblichen Einladung nicht Folge leistet, u. dessen Gegenwart doch bey der angekündigten Vorlesung so erwünscht wäre. Sollte die Versammlung nicht lieber verschoben werden?                                 Osterhausen"


Ausrufe, Anreden, Fragen und eine gehobene Ausdrucksebene, in der es z.B. noch ein "zurücke" gibt, kennzeichnen dieses Produkt als literarisch in überkommenem Sinne, der Versbau ist glatt, die Reime nicht völlig abgegriffen, ja, sie enthalten in ihrer passenden Anspielung auf ein datierbares Volksfesterlebnis sogar ein Überraschungsmoment. Wilder legte alsbald nach:


Damit die theuren Herrn sich nicht versagen

Auf Morgen schon, will Held Sie heute fragen:

Ob Sie am Mittwoch wiederum begehren,

Mit Ihrer Gegenwart ihn zu beehren?

Zur Blume, wünscht er, mögen sie erscheinen

In unsrem Kreiß, im friedlichen, im kleinen;

Will er das Wort auch noch so arg radbrechen,

Das kann ja unsren Eifer doch nicht schwächen!

Des Monats ersten Tag soll Glück bedeuten,

Ein neues Sterben und ein Vorwärtsschreiten;

Wird's etwa diesen Zeilen auch gelingen,

Zu einem: "Ja, ich komme" Sie zu bringen?

Wenn in des Sommers wonnig heitren Zeiten

Uns wenig aufgeblüht der Dichtung Freuden,

So soll, ich hoff' es, sich bei uns verkehren,

Des Herbstes Hauch die Lieder wieder mehren!


Am 30. September 1834

Wilder


Dietelmair

Seidel

Seys lebend oder tod, ich komme, wenn ich kann (Shakespeare) Meißner

Ja ich komme      Harless

"                    E.Lösch

"                   Schnerr

"                    Osterhausen"


Es kann nicht alles, was für den monatlichen Bedarf gestrickt wird, gleichermaßen glatt und gefällig sein. Diesmal hat Wilder selber ein wenig geradebrecht. Dennoch gehört es zum Spiel und zum guten Stil, daß Meißner mit einem von seinem ursprünglichen schauerlichen Ernst herabgestimmten Shakespeare-Zitat antwortet.


Karl Meißner selbst war eine Stütze der geselligen Dichtung im Orden: "[...] II.) Theilte Herr Meißner den anwesenden OrdensMitgliedern ein von ihm verfaßtes Gedicht, nemlich die Novembernacht vorlesend mit und erregte hiedurch den allgemeinen Wunsch nach künftiger Mittheilung ähnlicher Früchte seiner geschäftsfreien Nebenstunden."


Ebenso Johann Jakob Schnerr: "[...] V.) Herr Magistratsrat Schnerr machte den Anwesenden ein von ihm dem geschätzten Dichter Freiherrn von Salis bei Übersendung seiner des Herrn Schnerr Gedichte übersandtes Gedicht, sowie die von Herrn v. Salis hierauf erhaltene poetische Antwort, nebst mehreren anderen kleinen Gedichten durch Vorlesen bekannt." Er scheute sich also nicht, seine Hervorbringungen, und zwar nicht ohne einen gewissen Erfolg, dem damals sehr bekannten und beliebten Dichter des Liedes 'Bunt sind schon die Wälder /gelb die Stoppelfelder' zuzuschicken. Jenes Lied des Johann Gaudenz von Salis-Seewis ist heute noch im Chorrepertoire recht verbreitet; es hat eine letzte Strophe, deren kurzatmige Schmucklosigkeit schon an Unvermögen und zurechtgestutzte Reimerei heranreicht:


Geige tönt und Flöte

bei der Abendröte

und im Morgenglanz;

junge Winzerinnen

winken und beginnen

frohen Ringeltanz.


Das war der erstrebte "Volkston". Es gelang den Bildungsbürgern allemal besser, rhetorisch aufgeladene, kompliziertere Verse zu schreiben, wie etwa folgendes Scherzgedicht von beachtlicher komischer Fallhöhe aus der Feder von Georg Paul Dietelmair:


1.


Was braust so gewaltig in tiefer Nacht,

Daß das Kind erbebet, die Mutter erwacht?

Von entblättertem Wald, von verstorbener Flur

Scheint, Bestien gleich, die man losgelassen,

Herein gestürmt in bewohnte Straßen

Die gesetzlos waltende Kraft der Natur.


2.


Es rast durch die Tenne, es dröhnt an der Wand

Und poltert und knistert wie stürzender Brand.

Die segnenden Geister entfliehen dem Haus.

Nun droht der benachbarte Thurm sich zu neigen,

Sich über das Dach verwüstend zu beugen;

Nun löschen die Lampen des Himmels aus.


3.


Ist etwa das Maß der Verbrechen erfüllt,

Und gekommen der Tag, der Geheimstes enthüllt?

Verglühen die Sonnen, verbirgt sich der Mond?

Beginnt das Weltenfeuer zu lodern?

Die Posaune die Todten aus Gräbern zu fodern?

Und wird, was geathmet, bestraft und belohnt?


4.


Mit Nichten. Der wirkliche Anlaß war,

Daß ein Schwabe getreten in's vierzigste Jahr.

Der Dinge gewöhnlicher Lauf ist verirrt,

Bis der Weisheit verspätete Zähne durchbrechen,

Weil Edelstes nur mit Toben und Stechen

Und schaurigen Stürmen geboren wird.


Dieses Produkt vom 1. Dezember 1830 erscheint nicht unter der Rubrik "Gelegenheitsdichtung", weil es einen allzu spezialisierten Anlaß hat, nicht irgendeinen Geburtstag, und eher unter "scherzhafte Muse" einzuordnen wäre, welche kaum institutionalisiert werden kann. Ein kunstvoller Ernst im Unernst ist ihm nicht abzusprechen. Der umarmende Reim ist geschickt gehandhabt.


Im Unterschied dazu ist folgendes scherzhaftes Gedicht nicht datierbar, deutet aber inhaltlich auf genau diejenigen Zustände und Verhaltensweisen, die man mit den stickgemütlichen Verhältnissen der Restaurationszeit noch heute assoziiert. Es stammt von keinem Geringeren als Christoph Wilhelm Carl Freih. Kreß von Kressenstein, und man hätte gern gewußt, ob er zur Zeit der Abfassung bereits Präses war. Immerhin setzt sich dieser tätige Mann in satirischer Absicht von dem Tagesablauf seiner weniger rührigen Standesgenossen ab; er wird es auf einer Ordensversammlung oder im bewußten monatlichem Zirkel wohl verlesen haben, sonst hätte es nicht den Weg ins Archiv gefunden:



Die lange Weile


                        Wie,— Langeweile sollt' ich fühlen? —

Das käme mir nicht in den Sinn,

Bei der Zerstreuung, den Gewühlen,

Womit ich stets umgeben bin.



                        Schlüpf' ich nach acht Uhr aus dem Bette,

So blinkt, — entnommen aus dem Schrein,

Schon von dem blank polirten Brette

Der Kaffeetassen goldner Schein,



                        Und ladet zu dem Hochgenusse,

Wann, wie sich Strom in Strom ergießt,

Heiß-dampfend nun im Doppelgusse

Der Trank aus Silberurnen fließt.



                        Behaglich läßt sichs hier verweilen,

Beschäftigt ist ja Hand und Mund.

Unüberlegtes Uebereilen, —

Das wäre wahrlich ungesund.



                        Die Glocke hat schon neun geschlagen.

Ach wie so schnell vergeht die Zeit!

Es steht als Anfang meiner Plagen,

Die Toilette längst bereit.



                        Ein Stündchen nur darauf verwendet,

Bringt zehn Uhr unvermerkt herbei.

Wer glaubt nun, daß die Zeit verschwendet,

Verloren die Minute sei?



                        Nun wird, wie's ziemt, Besuch empfangen,

Wo nicht, so wird Besuch gemacht.

So ist im Adlerflug vergangen

Der Vormittag, eh man's gedacht.



                        Und daß ich es nur nicht vergesse,

Man geht wohl auch schon früher aus,

Zur Zeit der bunten Ostermesse,

Und kommt Mittags dann spät nach Haus.



                        Hat man das Mittagsmahl genossen,

So ist in des Gespräches Lauf

Die Stunde,  janoch mehr, verflossen,

Denn spät hebt man die Tafel auf.



                        Ein Stündchen drauf der Ruhe pflegen,

Erfordert der Gesundheit Pflicht,

Drum muß ich mich ins Bette legen;

Denn was hier nützt, versäum' ich nicht.



                        Ich bin erwacht. Zur dritten Stunde

Gibt aromatisch milder Duft

Von Mokka's Trank mir schon die Kunde;

Sein Wohlgeruch erfüllt die Luft.



                        Und nun zu sammeln die Gedanken,

Zur vierten Stunde ist erst Zeit.

Ein wenig mit dem Mädchen zanken,

Gebietet die Notwendigkeit.



                        Es dränget die gewicht'ge Frage:

Wo wird der Abend hingebracht?

Denn nach dem mühevollen Tage

Ist auf Erholung man bedacht.



                        Soll das Theater ich besuchen? —

Soll lieber auf der Rosenau

Mich laben Thee und feiner Kuchen?

Ich weiß es selbst nicht recht genau.



                        Wohl könnt' ich zu der Freundin gehen?

Auch trinken meinen Thee zu Haus?

Entscheidendes muß bald geschehen,

Schon ist die Zeit zum Wählen aus.



                        Wozu ich endlich mich entschlossen, —

Seis Unterhaltung oder Spiel, —

Der Abend war zu schnell verflossen,

Und ach! Das Haus ist nun mein Ziel!



                        Das Abendbrod dort zu verzehren,

Soll der Geschäfte letztes seyn.

Kaum kann ich mich des Schlafs erwehren,

Ermüdung lädt zur Ruhe ein.



                        So ist der Tag, der kaum begonnen,

Unmerklich schnellen Flugs vorbei.

Ich frage: da er mir entronnen,

Wo Raum für Langeweile sei? [sic, nicht "sey"!]



                        Und solches Treiben, solches Weben,

Man kannte es vor Alters schon.

Da nannte mans Schlaraffenleben

Doch heut zu Tag nennt mans: Bon ton



Ein tatsächlich belegbarer Austausch von Gedichten fand unter Kressens Vorsitz und Beteiligung mit einer auswärtigen Literaturgesellschaft statt:


"[...] V.) Wurde von dem Herrn Präses folgendes vorgetragen:


Bei seiner Anwesenheit in München sey Ihm und dem geschätzten Ordens-Mitglied, Herrn Ober-Appellationsgerichts-Rath von Harsdorf, nach erfolgter Einladung in einem dortigen literarischen Verein, welcher sich wöchentlich unter dem Namen "Zwanglose Gesellschaft" versammelt, am 7ten April dieses Jahres, zur Bewillkommnung nachstehendes Sonett übergeben worden:



Der Sänger Kunst gieng Nürnberg nie verloren;

Ward Poesie nicht in die Stadt gefreyt?

Das Maskenbild der letzten Ritterzeit

Gab uns die Meistersinger neugeboren.


 

Und kaum sind sie zu uns heraufbeschworen,

Und haben uns den Meistersang geweiht;

So kommen Liederfreunde angereiht,

die an der Pegnitz Blumen sich erkohren.



Seyd uns gegrüßt im Deutschen Dichterwalde,

Willkomen, Lebende, im Bayerland!

Ein Reich umschlingt Hanns Sachs und Jacob Balde.



Nur segnen kann uns jene Götterhand,

Die uns, von einer sanften Macht entzündet,

In fernen irdschen Trennungen verbindet.

                                                                                                                                                                     Carl Fernau


Der Verfasser dieses Sonetts ist Herr Doktor Daxenberger, geheimer Sekretär Sr. K. Hoheit des Kronprinzen. Zur Erläuterung wurde bemerkt: Daß einige Tage zuvor ein glänzender Maskenball im Kostüme des 16ten Jahrhunderts von dem Kunstverein in München veranstaltet und ausgeführt worden war." Dies erinnert sehr an den Maskenball, dem Thema "Nürnberg" gewidmet, den Gottfried Keller in 'Der grüne Heinrich' beschreibt. Interessant ist, daß ausgerechnet der Privatsekretär des Kronprinzen, Daxenberger alias Fernau, den Landtagsabgeordneten Kreß und seinen Begleiter Harsdorf im "Bayerlande" bewillkommnet, als ob Nürnberg noch gar nicht richtig zu Bayern gehörte. Nun mußte man sich aber auch revanchieren:


"VIII.) Machte unser verehrter Herr Präses den anwesenden Mitgliedern [16 Personen] bekannt: Er habe auf Veranlassung des ihm bei seiner Anwesenheit in München am 7. April von der dortigen zwanglosen Gesellschaft übergebenen Sonetts [...] eine Antwort in Versen abgesendet, welche folgendermassen lautet:


Wenn an der Isar kiesbedecktem Strande

Uns überrascht bekannter Töne Klang

Und mit der Saite Schwung sich mischt Gesang

Wie er erschallt, da wo im dürren Sande

Die Pegnitz fließt im gleichen Vaterlande,

Umschlingt mit unaufhaltbar mächt'gem Drang

Der Sänger ferner Städte gleicher Hang

Sie mit der Musen buntem Blumenbande.



Ihr! Deren Kreis uns freundlich aufgenommen,

Seyd uns gegrüßt durch Druck der deutschen Hand!

Euch schmückt — wollt Ihr's — des Blumenordens Band,

Verwandt am Geiste, seyd Ihr uns willkommen!

Mit Freuden wurde Euer Wunsch vernommen,

Entfernt von uns, doch in dem Vaterland,

Durch Wissenschaft, in engeren Verband

Mit uns — als Musenfreunde — bald zu kommen.


                                                                       Nürnberg im August 1840.


[Kurios, wie Kreß selbst daran erinnert, daß die Pegnitz "im gleichen Vaterlande" fließt! Sollte es vielleicht das ganze Deutschland sein, von wegen der "deutschen Hand"?]


Einige Wochen darauf habe ihm die zwanglose Gesellschaft folgende Erwiederung übersendet:


Ihr an der Pegnitz, Männer, Gleichgesinnte,

Empfangt der Dichter an der Isar Wort!

Es töne zu dem heitern Labyrinthe,

Worin ihr blüht, mit FreundschaftsWohllaut fort!

Ihr die ein Reich, seit zweimalhundert Jahren

Den Musen und der göttlichen Natur

Geweiht, mit priesterlichem Stolz bewahren,

Nehmt unsern Dank auf eurer Blumenflur.


 

Nehmt unsre Hand! Der Dichterorden flechte

Verwandten Volkes edlen Städtekreis!

Mit Lust erhebt sich unsre deutsche Rechte

Und nimmt von euch das dargebotne Reis.

Es wandelt unser Gruß zum Pegnitzstrande,

Und dieser Sängerspruch veralte nie:

Hoch blüh' im Deutschen und im Bayern-Lande

Die Himmels-Wunderblume Poesie.


                                                                                              Dr. S. Daxenberger.


[...]" Er hat verstanden, der Herr Dr. Daxenberger! Eine hochpolitische Angelegenheit. Vielleicht zielten die "Armins-Lieder, von H. F.Maßmann, ordentlichen Professor und kgl. Ministerial-Sekretär" auch in diese Richtung. Sie waren nach Auskunft des Präses in der Sitzung vom 11. Mai 1840 auch schon bei jenem Münchner Aufenthalt an ihn übergeben worden.


Weiterer Austausch von Gedichten und Beschäftigung mit Literaturgeschichte ist durch weitere Sitzungsprotokolle belegt:


"[...] I.) Herr Doktor Winterling theilte zwey Gedichte vorlesend mit, nemlich:

1. ein Gedicht an die Versammlung der Naturforscher zu Erlangen im Jahr 1840. [...]

II.) Herr Rektor Mönnich las eine von ihm verfaßte Abhandlung über Gotthold Ephraim Lessing und dessen Verdienste um die deutsche Sprache und Literatur als Dichter und prosaischer Schriftsteller. [...]"


Am 8. November 1841 stand nach zwei Gedichtverlesungen durch Michahelles und Dietelmair auf der Tagesordnung:

"IV.) Von Herrn Director Scharrer wurde ein prosaischer Aufsatz, enthaltend eine Skizze der Geschichte des Handels und Gewerbs-Betriebs von Nürnberg vorgetragen.

V.) Herr Buchhändler Merz las ein von ihm verfaßtes Gedicht: "Der Rose Loos".

VI.) Machte der Herr Präses den anwesenden Mitgliedern einige von der Zwanglosen Gesellschaft in München im Druck herausgegebene und dem Blumenorden übersandte Gedichte vorlesend bekannt und übergab solche hierauf dem Sekretär zur Aufbewahrung bei der Bibliothek des Ordens.


Womit die heutige Sitzung beendiget worden ist."


Ungebrochen setzt sich der Strom von Gedichten fort, die zu den üblichen Anlässen von Ordensmitgliedern verfaßt worden sind. Folgender Überblick richtet sich im wesentlichen nach der Entstehungszeit.

Eigentliche Casualdichtung



Georg Paul Dietelmair gelingt es, eine Gratulation zur Goldenen Hochzeit mit zwei Strophen zu beginnen, deren Empfindsamkeit gerade noch nicht kitschig ist:


Habt ihr willig einst und gerne

Meinen Liedern zugehört:

Wehret's nicht wenn aus der Ferne

Euch die Harfe wiederkehrt —

In der Töne zartes Beben

Ewig sich ein Trauern wagt,

Wie der Frühling um das Leben

Abgefallner Rosen klagt.

 


Da das Schicksal ihn bewegte,

Schuf der Meister sie im Schmerz,

Sagt sein Leiden ihr und legte

Die vertraute an das Herz.

Und ein unbefriedigt Sehnen

Schlief in ihren Saiten ein;

Weckt ihr sie in ihren Tönen,

Muß sie schmerzlich süße seyn.


[...]


Die Wiederkehr der Harfe spielt auf ein Gedicht an, das Dietelmair für die gleiche Familie, die seines Onkels Georg Tobias Christoph Fronmüller, des Stadtpfarrers von Fürth, zu dessen fünfzigjährigem Dienstjubiläum verfaßt hatte und dessen Titel mit "Meine Harfe" begonnen hatte:



Was soll der Glocken feierliches Rühren;

Was ströhmt das Volk, wem gilt dies Lied,

Das preisend aus des Tempels Thüren

Im leisen seeligen Verlieren

Den Himmel sucht, das Herz durchzieht?


[...]


Der dort, der mit dem Silberhaare,

Der dort in hoher Geists Gewalt,

Das Auge blitzt und spottet seiner Jahre,

Zur Dichtung selber wird das ernste Wahre:

Ein Jubelgreiß — und doch nicht alt.


[...]


Auf langer Zeit verweilt mit Herzensfülle,

Wie mit dem Blick der Ewigkeit,

Der starke Mann; das Fest wird ihm zur Stille,

Entsiegelt liegt der Allmacht letzter Wille —

Er denkt sich selbst und die Vergangenheit.

 


Er sah den Sohn in Jugendschönheit glühen;

Ein nie geträumtes Paradies

Nach tausend schwerbekämpften Mühen

Schien seinem Alter wuchernd aufzublühen,

Ein Frühling, der auf reiche Saaten wies.

 


Der Frühling bleicht, die Blume will sich schließen,

Und schläft und ruht im weichen Grab.

Des Vaters Auge soll im Jammer fließen;

Bedeckt von eines Greises Feuerküssen

Eilt seiner Sonne Pracht hinab.

 


Er sah die andre Hoffnung aufgegangen,

Wie einen Stern im Abendroth

Den Sohn an seines Lebens Himmel prangen,

Und hält ihn vest mit ängstlichem Verlangen —

Und kommt und sieht die stolze Hoffnung todt.

 


Da fand ich ihn in seiner Wehmuth Zähren.

Sein Glaube griff zu jener Welt.

Die Größe schien im Leiden zu gewähren,

Der Schmerz sein ganzes Wesen zu verklären,

Wie unterm Strahl der Tropfen fällt. — — —


[...]


Das sagt kein Lied, das kann kein Schwung erreichen,

Das müßt ihr hören, müßt ihr sehn.

Vor solcher Wahrheit muß die Dichtung schweigen,

Der Geist sich nur in frommer Demuth beugen,

Die Harfe feiern und das Lied vergehn.

 


Wenn die fränkisch-mitteldeutschen Reime "erreichen — schweichen — beuchen" nicht wären, könnte man diesen Text als gerundetes, ungewöhnlich einfühlsames und bildmächtiges Beispiel des literarischen Biedermeier gelten lassen. Doch vielleicht hat sich Dietelmair wegen ähnlicher Goethe'scher Reime in epigonaler Weise für entschuldigt gehalten.


Er scheut in einem anderen Gedicht, ausgerechnet auf einen Todesfall, auch nicht davor zurück, eine geradezu barocke, vordergründig effektvolle Gliederung anzuwenden. Friedrich Sengle hat bereits festgestellt, daß Dichter der Biedermeierzeit gerne konstruktiv ans Werk gegangen sind und weder sie noch ihr Publikum sich daran störten, wenn das begriffliche Schema so deutlich wurde, daß der Gedankengang unorganisch und äußerlich herauskam. Gerade von einem Geistlichen wird man in Nürnberg und Fürth gar nichts anderes erwartet haben:



Schwarz ist das Grab. Nennt mir der Allmacht Licht

Das segnend durch die Dunkel bricht;

Die Sonne, die das Leben zu verkünden,

Mit Majestät durch Wolken tritt?

Wo strömt die Luft durch die sie schritt

Die lange Nacht zum Morgen anzuzünden?

            Schwarz ist das Grab.


 

Hell ist das Grab. Des Lebens Schatten fällt

Und eine neugeschaffne Welt —

Der Erde schwermuthvollen Traum zu lösen —

Liegt deinem Blicke aufgethan.

Du trägst's der Wahrheit dich zu nahn,

Sie wagt's sich deinem Auge zu entblößen

            Hell ist das Grab.


Und nach diesem Schema geht das weiter: Oed ist das Grab — Still ist das Grab — Stumm ist das Grab — Laut spricht das Grab — Schwach ist das Grab — Stark ist das Grab — Rauh ist das Grab — Mild ist das Grab — Bang ist das Grab — Süß ist das Grab. Am Ende steht mit rotem Bleistift "Dietelmair"; er ist wohl, der Fundstelle nach zu schließen,  der eigentliche Verfasser, und die beiden anderen sind im Titel genannt, weil sie bei der Beerdigung die Strophen abwechselnd vorgetragen haben, der antithetischen Struktur der Leitwörter entsprechend.


Dietelmair ist offenbar nicht nur ein fruchtbarer, sondern ein gesuchter Verfasser von Gelegenheitsgedichten gewesen. In dem Bündel innerhalb Schachtel 53, das seinen Namen trägt, finden sich sonst noch vier derartige Drucke der Jahre 1841-46, davon eines mit gedrucktem Autorennamen. Die im Blumenorden früher abgelegte Sitte, Leichcarmina drucken zu lassen, ist offenbar wieder aufgenommen worden; auf Kosten des Ordens werden sie kaum besorgt worden sein, denn in Protokollen findet sich zu derartigen Ausgaben nichts.


Präses Seidel verfaßt 1826 gleich zwei Irrhainlieder: Das erste, das nach der Melodie "Heil dir im Siegerkranz" gesungen werden sollte, erscheint wenig bemerkenswert; um so mehr läßt das zweite, ohne Melodieangabe, wegen seines geradezu naturreligiösen Gehaltes aufhorchen:


Wo sich des Lebens Welle

An deinem Ernste bricht,

Und aus der Zweifelhelle

Ein Geist der Weihung bricht —

            O heil'ger Wald, erweitert sich

            Ein menschlich Herz und heilt durch dich.


 

Du tröstest in der Kühle

Ihn, der in öder Welt

Sich, fern vom Mitgefühle,

Für einen Fremdling hält.

            Der ewig sichre Freund ist nur

            So heut wie gestern die Natur.



Ein Wandeln Gottes, lauter

Als irgend, tritt hervor,

Und nahet dem vertrauter

Dem's draußen sich verlohr.

            Wohl schauert's wenn der Ast sich neigt,

            Zu düstern Lauben sich verzweigt.

 


Hat süßen Liedes Gabe

Der Genius verlieh'n,

Greif zum bekannten Stabe

Und flieh nach Waldes Grün.

            Dem Dichter wird im stillen Hain

            Ein Braußen die Begeistrung seyn.

 


Hier ist's, wo der Gedanke

Verwegner sich erhebt,

Wo des Erscheines Schranke

Sein Flügel überschwebt.

            Die Wahrheit will aus dir allein

            Und deinem Geist geboren seyn.



So rauschet denn, Gesänge,

So ruft an diesem Tag —

Rauscht durch die tiefen Gänge

Ein Lob des Haines nach.

            Rauscht bis das Leben, selbst ein Lied,

            Mit uns in beß're Haine zieht.


Der schon 1823 in den Orden aufgenommene Friedrich Wilhelm Freiherr von der Borch, königlich bayerischer Kämmerer und Forstmeister, übersandte zum Irrhainfest 1831 aus Gunzenhausen ein besonders sorgfältig und schön ausgestattetes Geheft im Oktavformat, mit hellgrünem Umschlag von geprägtem Wachspapier, Vorsatzblatt, dessen Rand ebenfalls mit einer Bordüre geprägt ist, graphisch aufwendigem Titel, darunter geziert von einer Vignette (entweder Feder- und Pinselzeichnung oder lithographisch aufgebracht) mit der Darstellung eines wappenhaltenden, helmtragenden Putto, dann eineinhalb mit professioneller Schreiber- oder Kupferstecherhand geschriebene Seiten mit der eigenhändigen Unterschrift des Verfassers:

 


Des Saengers Gruß


Längst schwieg das Frühlingslied im Haine,

Der kalte Nord durchhauchte Berg und Thal,

Der Wiesen, wie der Gärten Töchter keine

Gewahrte man am eis'gen Wasserfall,

Die Laute hing verstimmt am starrenden Gestade,

Entschlafen war die freundliche Dryade.



Ich sah mein Bild; der Winter war gekommen,

Verwelkt die Blüthe, selbst der Ast entlaubt.

Wo hätte einen Kranz ich, Aermster, hergenommen,

Wo Schnee und Eis die letzte Blume raubt?

Doch unterm Schutt verlass'ner Bergruinen

Gewahr ich einer Ranke dunkles Grünen.

 


Ein Epheu war's, einst heilig hehren Göttern,

Jetzt trauernd ob verblich'nem Glanz,

die Blüthen, halb verdeckt von düstern Blättern,

Wählt' ich mir nun zum letzten Sängerkranz,

Und an der Pegnitz Strand ist mir der Trost geworden,

Ihn einzuflechten in den Blumenorden.



So komm' herab vom Zweig der Trauerweide,

Mein Saitenspiel, du meines Alters Lust,

Vergönn' mir, daß ich nimmer von dir scheide,

Verjüng' des Sängers neu erwärmte Brust,

Und hilf mir, Gute! noch im Zwielichtschein,

Des Bundes Brüdern würd'ge Blumen streu'n!


Die Strophenform folgt dem Schema der auf sechs Zeilen (statt der Ottaverime) verkürzten Stanze nach dem Vorbild von Goethes Marienbader Elegie, wohl einem der feierlichsten Metren, die in deutscher Sprache zur  Verfügung stehen. Auch der Anklang an "Der Morgen kam; es scheuchten meine Schritte..." in der Verszeile "Ich sah mein Bild; der Winter war gekommen..." läßt Goethes Vorbild ahnen. Doch weiter wollte von der Borch in seiner Anlehnung wohl aus Bescheidenheit nicht gehen. Wenn man genau hinsieht, ist die Länge der einzelnen Verszeilen recht unterschiedlich, von vier- bis zu sechshebigen Versen. Das sollte nicht voreilig als Nachlässigkeit oder mangelndes Können aufgefaßt werden. Sengle macht darauf aufmerksam, daß eine gewisse mäßige Abweichung von der Gleichförmigkeit um des Ausdrucks willen von den poetologischen Theorien der Biedermeierzeit, ausgehend von  August Wilhelm Schlegel, durchaus empfohlen wurde und der etwas früher zu beobachtenden klassizistischen, durch die Altphilologie vermittelten Formenstrenge allmählich Boden abgewann. Daß von der Borch die erste Verszeile so kurz hält ("Längst schwieg das Frühlingslied im Haine"), ist nicht nur als Anlauf zu längeren Versen zu verstehen, sondern vereint sich mit einer resignativen Haltung, ebenso wie das spätere "Jetzt trauernd ob verblich'nem Glanz". Dagegen wird etwa die suchende Unruhe durch einen besonders langen Vers hervorgehoben: "Wo hätte einen Kranz ich, Aermster, hergenommen", wo doch sehr leicht auf das "Aermster" zugunsten einer glatten Abfolge von Fünfhebern verzichtet hätte werden können. Zur bequemen Deutung dieses scheinbaren Naturgedichts als eines Abschiedsgrußes hat der Verfasser seine Bilder nicht aus aktueller Beobachtung, sondern aus dem konventionellen Bestand genommen, der bis auf die Dichter des "Göttinger Hains" im 18. Jahrhundert zurückgeht. Auch das ist typisch für die Biedermeierzeit, und man darf von der Borch keinen überlebten Nachromantiker nennen, auch wenn er sich in dieser Alterselegie vielleicht so zu empfinden scheint. 1833 ist er gestorben.

 


Anknüpfung ans Aktuellste


Andererseits greift man auch Anlässe zum Verfassen von Versen auf, die mit wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Neuentwicklungen zu tun haben, und erweist sich dadurch, ganz im Sinne der Pegnesen um 1700, als wache Zeitgenossen, die keineswegs in ein dichterisches Traumland fliehen:


Von der Sitzung am 23. November 1835 verzeichnet das Protokoll nach den Präliminarien, es


"II) Wurden von nachbenannten Ordens-Mitgliedern folgende von ihnen verfaßte Gedichte vorgelesen:

[...] 3) Von Herrn Rath Schnerr: ein Gedicht an seine Gattin bei Schenkung eines Fernrohrs; den Zimmermanns-Spruch bei Einrichtung des Gebäudes für die Werkstätten der Polytechnischen Schule; ein Gedicht auf die Eisenbahn und die Pietisten.

[...] 5) Von Herrn Stadtpfarrer Wilder acht Gedichte nemlich:

a) als ich die Eisenbahn gesehen hatte, [...]"


Leider findet sich in dem kleinen, verschnürten Bündel mit Schnerrs Gedichten nicht dieser Richtspruch, sondern nur der für den Neubau des Krankenhauses von 1841 (an der Stelle, wo heute das Opernhaus steht); nach diesem zu urteilen, wäre auch nicht viel anderes zu erwarten gewesen als die üblichen Jubelformeln. Doch Schnerrs Eisenbahngedicht ist in gewisser Hinsicht interessant:



Festlied bei Eröffnung der Eisenbahn, am 7ten December 1835.



Glück auf, mit Gott! der Anfang ist geschehen,

                        Es liegt die Strecke Bahn!

Und soll's nach Ost und Westen weiter gehen,

                        So knüpft man eben an.

 

Das schöne Werk, der Gegenwart zum Lobe

                        Wird sicher anerkannt

Als erster Punkt, als musterhafte Probe

                        In unserm Vaterland.


Zwar eben geht's zu Nutz und zum Ergötzen

                        Von hier zur Schwesterstadt;

Doch kann der Mensch wohl Berge auch versetzen

                        So er den Willen hat.


Und kann's nicht Einer, nun so können's Viele,

                        Wenn Eintracht sie umschlingt.

Geht alles Streben fest nach einem Ziele,

                        Gewiß das Werk gelingt.


Seht ihr die Bahn, die Linien von Eisen,

                        die fest und schnurgerad

Bedeutungsvoll nach Ost und Westen weisen?

                        Seht ihr den Zauberpfad?


Was schnaubt und qualmt dort vor der Wagen Reihe?

                        Es scheint ein Elephant,

Daß er als Zugthier sich zum Dienste weihe,

                        Gemacht von Menschenhand.

 

Und seht, er zieht mit wunderbarer Schnelle

                        Den langen Wagenzug,

Dieß Werk der Kunst gar mächtig von der Stelle

                        Im adlergleichen Flug.


Was ist's, das wunderbarlich heut zu Tage

                        Solch Menschenwerk belebt? —

Das Element, auf dem nach heilger Sage

                        Einst Gottes Geist geschwebt.

 

Und noch ein Element mit ihm verbunden,

                        Ihm scheinbar nicht verwandt,

Das Prometheus in thatenreichen Stunden

                        Dem Himmel kühn entwandt.


Kennt ihr das Kind des Wassers und der Flammen?

                        Es wird nur Dampf genannt;

Doch Wunder wirkt's, hält man es klug zusammen

                        Gezähmt von Menschenhand.

 

"Hans Dampf" hat man zum Schimpf oft den geheißen,

                        Der nicht viel hergeschafft;

Doch Dampf ist nun auf solcher Bahn von Eisen

                        Das Ideal der Kraft.

 

Vergeudet nicht zu Kriegs- und Mordgewehren

                        Hinfort dieß edle Erz!

In Fried und Glück auf solcher Bahn verkehren

                        Erfreue aller Herz.


Ja alle Ketten, Fesseln, Wehr und Waffen

                        Aus vorher harter Zeit,

Sie werden einst in Schienen umgeschaffen,

                        Zum Preis der Menschlichkeit.

 

Mit Schienen, Freunde, webet ohne Bangen

                        Ein Netz von Pol zu Pol!

Sieht sich Europa einst darin gefangen,

                        dann wird es ihr erst wohl.


Zugegeben, es ist kein sehr starkes Gedicht. Der falsch betonte Prometheus und das unfreiwillig komische, weil leicht masochistische Wohlsein der im Schienennetz gefangenen Europa zeigen, daß der Verfasser seine Klänge und Bilder nicht wirklich gespürt, sondern gedrechselt hat. Doch sein Gedankengang ist bemerkenswert wegen seiner Hoffnung auf eine friedliche Entwicklung im Zeichen des Kommerzes. Magistratsrat Schnerr und seine Pegnesenbrüder wissen die Bedeutung dieser technischen Neuerung von Anfang an gut einzuschätzen, besser als Ludwig I., und es überrascht geradezu, besonders die Erweiterung des Bahnverkehrs in west-östlicher Richtung hervorgehoben zu sehen. Leider sind etliche Kriege und der Eiserne Vorhang diesen Zukunftshoffungen über 150 Jahre lang im Wege gewesen.


Wie kritische Bewußtheit mit gefühlsbetonter Produktion zusammengeht, zeigt schlaglichtartig ein Brief Wilders an Seidel:


"20. August 1837

Hochverehrter Herr Kirchenrath!

Theuerster Freund!


Herr OrdensSekretär Heyden hat mir am vorigen Freitag inliegenden Oesterreichischen Musenalmanach überbracht, wie ihn Herr Buchhändler Mainberger denselben mit dem Vorschlag zur Anschaffung für die Ordensbibliothek zugesandt hatte. Er wünschte, daß ich ihn ein Bißchen durchstöbern und dann mit einem kleinen Resümé versehen an Dich befördern möge. Nach meiner Ueberzeugung enthält der Almanach wenig oder eigentlich gar Nichts Ausgezeichnetes, Mittelgut über 3/4 des Ganzen, und ganz Alltägliches das Uebrige. Sind denn z.B. die Zeilen S. 366. ein Gedicht? Ist S. 370. Menschenwiege und Saatendünger eine edle Parallele? Und Aehnliches findet sich in Menge,  Geist und Gedanke wenig oder Nichts. Man sieht es den meisten Versen an, daß sie gemacht sind, nicht gedichtet und die Flamme der Begeisterung mangelte. Die Beiträge des Herausgebers mögen leicht zu dem Besten gehören. Uebrigens glaube ich, daß nicht leicht ein schwächeres Sonnett gedichtet und gedruckt wurde als das S. 399.

Da wir den Almanach von Chamisso uns bereits seit langem halten, so ist dieser Oesterreichische, auch wenn er gediegener wäre, für uns überflüßig und schon die Rücksicht auf unsere Kasse muß uns seine Anschaffung verbieten. Wir schicken ihn also unbedenklich an Herrn Mainberger zurück.

Noch erlaube ich mir bei Gelegenheit dieser Zeilen, Dir etwas anderes noch mitzutheilen. Am vorigen Mittwoch war es uns Beiden nicht vergönnt an der Blumenordensfahrt Theil zu nehmen, und ich verläugne es nicht, daß meine Gedanken mich an jenem Nachmittag mehr als einmal dahin trugen. Abends um 7 Uhr saß ich in meiner Stube allein, da kamen mir die untenstehenden etlichen Verse, die in einer halben Stunde vollendet waren, und mir wirklich einen kleinen Ersatz, ein angenehmes Gefühl bereiteten. [...]


Dein ergebenster Diener

J. G. J. Wilder



Am 16. August 1837. Abends 7-1/2 8 . Uhr.

 

Geistesblick.


Abend ists, mit reinem Wolkengolde

Hat sich der Azur nun weit bemalt,

Ausgegossen ist es, zart zerflossen,

Daß es durch das grüne Dickicht stralt! —

Schönes Bild, wie schaffst du mir Entzückung,

Wenn mir gleich der Mitgenuß gebricht;

Ach auch in des engen Zimmers Wände

Leuchtest du herein als Freudenlicht!

Abend ists, im Sonnengolde schaue

Ich die Freunde jetzt im Geist geschaart,

Schaue sie in schattig kühlen Räumen

In des Irrhains Schooß nach alter Art.

An den Tischen herrscht die laute Wonne,

Eines kommt zum Andern und stößt an,

Ueberall ist Herzlichkeit, denn heute

Scheinet Jedem dornenlos die Bahn.

So will ich mich hin im Stillen schwingen

Jetzt zu Euch, die Ihr so seelig seyd,

Wie ihr weilet, euch zum Aufbruch rüstet,

Niemals fehlt' ich sonst in langer Zeit!

Sey es diesmal auch, ich will es tragen,

Herz, du hast des Glaubens ja so viel,

Und so stehe ich in künftgen Tagen

Einst doch wieder an dem schönen Ziel!


Ein gutes Jahr später greift das betagteste Ordensmitglied der damaligen Zeit zur Feder, Johann Wilhelm Friedrich Link, als Xenophilus 1775 aufgenommen.


Erneutes Andenken an die den 19. Oct. 1738 feierlich eingeweihte neuerbaute Stadtkirche Hersbrucks. Hersbruck, d. 19. October 1838


Nicht gestützt auf Marmorsäulen,

Nur von Quadern aufgebaut,

Steht das Gott geweiht' Gebäude

Hundert Jahr' zu unsrer Freude.


[...]


Selbst im Sturm der heft'gen Kriege

Blieb es fest und unversehrt,

Denn kein Wüthrich durft' es wagen

Seine Feste zu zerschlagen.


[...]


Prägt es, Eltern, Euren Kindern,

Prägt es ihren Herzen ein,

Welches Sinn's vor hundert Jahren

Uns'rer Stadt Bewohner waren.

 


In die neuerbaute Kirche

Zogen sie frohlockend ein,

Denn in Gottes heil'gen Hallen

Sollt' ihm Lob und Dank erschallen.


[...]


Verfertigt von Herrn Johann Wilhelm Friedrich Link, den Pfarrer und Spitals-Senior in Hersbruck, damals schon 84 Jahre alt. Er starb am 19. März 1844, alt 90 Jahre." Er hat also nur um ein paar Wochen das Ziel verfehlt, zwei Jubelfeiern des Ordens im Abstand von 50 Jahren zu erleben. Abgesehen von dieser Kuriosität erscheint bemerkenswert, wie wenig veraltet im Vergleich mit den Hervorbringungen jüngerer Ordensbrüder diese Verse erscheinen — allerdings nur, weil sie so schlicht sind. In diesem Genre war nichts mehr hinzuzulernen.


Nicht lange vor jenem Jubiläum von 1844 gab es das 25jährige Amtsjubiläum des Schriftführers im Orden gebührend zu feiern, und das entsprechende Gedicht bemüht sich nun schon deutlicher um rhetorischen Schmuck. Geschickt darf genannt werden, wie bereits in den ersten zwei von insgesamt sechs Strophen das Persönlichkeitsprofil des Gefeierten scharf umrissen wird, knapper als in dem Nachruf:


Froh sammeln heute sich des edlen Ordens Glieder,

In Eintracht zu begeh'n das schöne seltne Fest

Zum Preis des Würdigen, der lang als treuer Hüter

Des geistgen Eigenthums hier stets bemüht gewest,

Durch fünf und zwanzig Jahr in seinem Ehrenamte

Das Beste des Vereins gewissenhaft bedacht,

Der zu der Musen Dienst die Andern gern entflammte,

Manch würdig Opfer auch hier selber dargebracht.

 

                        Sey, Edler, uns gegrüßt in Deiner Silber-Würde,

Nimm unsern Herzensdank als wohlverdienten Lohn!

Wir schätzen Dich nicht nur als unsers Ordens Zierde:

Wir ehren auch in Dir der Noris ächten Sohn!

Den biedern deutschen Mann, den lebenskundgen Weisen,

Der früh schon mit dem Geist der Alten sich vertraut,

Den Freund von Allem, was da schön und groß mag heißen,

Den Frommen, der auf Gott in allen Dingen baut. [...]


Scheinbar durch den Anlaß einer Münzprägung ausgelöste, in Wirklichkeit von jedem Anlaß abgelöste lyrische Versenkung und Selbstvergewisserung findet man in Dietelmairs Schriften ebensogut wie die beliebten Gelegenheitsgedichte, doch hat er sich damit offenbar erst spät herausgelassen, wohl etwa 30 Jahre nach der Entstehung.


Gedankenlyrik


 

"Am 16. Juli 1793 geboren, fiel seine Jugend in jene merkwürdige Zeit, in welcher alles Alte zusammenstürzte und eine neue Welt entstand. [...] Wie tief der Eindruck war, welchen Dietelmair von Hegel [S. 4] empfing [...], das offenbart uns ein Gedicht, welches erst im Jahre 1860 in einer Versammlung von ihm vorgetragen wurde und das deßhalb berechtigt scheint, hier eine Stelle zu finden."


Erklärung einer Medaille.


1.


Zeig uns die Münze! Sprich, Weß' ist dieß Bild?

Die Züge tiefen Ernst's und doch so mild?

Es ist, dem keine Andern ich vergleiche,

Das Bild des Herrschers im Gedankenreiche.


2.


Und kehrt ihr um, Wer ist der Genius,

Durch den vermittelnd es gelingen muß,

Daß Gegner, die die Zwietracht lang geschieden,

Jetzt zur Versöhnung sich die Hände bieten?


3.


Gefallen denn ist eine Scheidewand,

In Harmonie das Herz mit dem Verstand.

Wir sehen, sei es auch zur späten Stunde,

Den Glauben mit der Wissenschaft im Bunde.


4.


Ob diese Beiden wirklich sich verstehn,

Nicht unvereinbar auseinander gehen,

Und Hegel das Versöhnungswerk vollbrachte?

Es wollen ist's, was ihn unsterblich machte.


5.


Die Wissenschaft bespricht zwei Punkte nur:

Den Geist, den menschlichen, und die Natur.

Das wahre Sein der Dinge zu erkennen

Strebt sie, das Wesen von dem Schein zu trennen.


6.


Kalt ist die Wissenschaft, der Glaube warm;

Reich ist an Wundern er, doch jene arm.

Nie wird sie Tempel und Altäre bauen;

Dem Glauben ist's gegeben, Gott zu schauen.


7.


Kant, der den Menschengeist in Theile schied,

Und Grenzen zog auf der Vernunft Gebiet,

Bleibt, mag man das Gelingen ihm bestreiten,

Schon durch die Absicht Kant für alle Zeiten.


8.


Das Lehren Hegels war Gespräch mit sich,

Was einem aus sich Selbst Entwickeln glich,

Und unbesorgt, ob Einer ihn begreife,

Bringt er vor Schülern sein System zur Reife.


9.


Er fragt nach Dingen, die sie nie gelernt,

Und himmelweit von ihnen sind entfernt.

Doch fängt's, durch sein ununterbrochnes Fragen,

Allmälig an, in ihrem Geist zu tagen.


10.


Noch weiß ich, wie ich ihm zu Füßen saß

Und, kam ich heim, das Nachgeschrieb'ne las.

Er pflegt' zu reden, ganz wie Menschen pflegen,

Doch andern Sinn in jedes Wort zu legen.


11.


Er hat, und hätte er sonst nichts bezweckt,

Des Denkens Kraft aus seinem Schlaf geweckt,

Und mancher Seele für das ganze Leben

Die Richtung, die bedenkende, gegeben.


12.


Gewaltig war sein zuversichtlich Wort,

Gleich einem Strom riß es die Hörer fort;

Doch hab ich nimmer auf dies [sic] Wort geschworen

Und so die Freiheit meines Geist's verloren.


13.


Nie nehm ich Etwas als das Wahre hin,

Eh' ich besiegt durch Ueberzeugung bin.

Der Jüngling schon verschmäht' des Geistes Bande,

Gedankenknechtschaft achtet' er für Schande.


14.


Es war für Hegel's großen Geist zu klein,

Bezwinger eines kleinen Geist's zu sein.

Ihm Ehre, der des fremden Geistes Regen

Geduldet, statt ihm Fessel anzulegen.


15.


Es hat mit ihm, Deß Ruhe nichts mehr stört,

Ein edles Herz zu schlagen aufgehört.

Von Dank und von Verehrung mir geboten,

Galt, was ich sagte, einem großen Todten."


Was Lützelberger der Wiedergabe dieses Gedichtes in seinem Nachruf auf Dietelmair hinzusetzt, macht diesen beinahe noch zum Romantiker oder wenigstens Nachromantiker: Nicht genug damit, daß er imstande war, Hegels Wirkung auf seine Studenten in einer wohl dauernd gültigen Weise zu beschreiben, er war der davon Geförderte sowie auch das Opfer der spekulativen Daseinsweise eines Hegelianers, eines Erben des deutschen philosophischen Idealismus, bis in die Schrullen seiner Alltagsexistenz hinein:


"Denn während er denkt, dichtet er, und während er dichtet, möchten wir fast sagen, grübelt er [...] Die Dichtung, stets darnach ringend, das Ergebniß einer Betrachtung zu gestalten; die äußere Erscheinung nicht darauf achtend, wie sie gestaltet sei, und dabei die Fähigkeit für ein äußerlich ordnendes und schaffendes Handeln in großer Beschränkung. Daß für seine Freunde aus dieser Beschaffenheit seines Lebens manches Heitere sich ergab, ist bekannt; daß er aber eben dadurch auch ein geistreicher Unterhalter und gefühlvoller Freund ward, Deß werden Viele schmerzlich gedenken. [...]


[...] Mozarts Tönen zu lauschen war seine Seligkeit. Aber eine äußere Fertigkeit auf irgend einem Instrumente zum Vortrag, zur Ausführung der Musik, war nicht das Ziel seines Strebens. Er dachte lieber über die Möglichkeiten der Guitarre nach, als sie meisterhaft zu spielen, und las die Noten besser in Gedanken.


[...] mit dem Jahre 1821 trat er auch schon in denselben [den Blumenorden] ein. Seiner Thätigkeit verdankt der Blumenorden eine ansehnliche [S. 8] Reihe von dichterischen Erzeugnissen, von denen leider gar manche nicht mehr vorhanden sind. Eine Auswahl derselben aus der Zeit bis zum Jubiläumsfeste des Ordens im Jahre 1844, wo Dietelmair bereits seit mehreren Jahren zum Ordensrath erwählt worden war, findet sich in der Festgabe abgedruckt [...]


Die Beschäftigung mit äußeren Werken aber, die Tagesarbeit eines Amtes -- das war nicht sein Begehr, wie auch nicht sein Geschick, und es mag wohl auch diese Scheu vor der harten Wirklichkeit, dieses Abwenden von der unpoetischen Alltäglichkeit des Lebens mit die Ursache gewesen sein, warum er sich keine Gefährtin des Lebens erwählte, sondern als Junggeselle dahinschied, wenn auch brüderliche Rücksichten dazu beigetragen haben mögen. [...]"


Man kann freilich nur einen sehr geringen Teil der Verse abdrucken, welche diese Jahre hervorgebracht haben; auch wären sie auf die Dauer eintönig zu lesen. (Die Kanonisierung eines Teils der literarischen Werke ist auch ein Schutz des Lesers vor dem zahlreichen Ähnlichen, doch erscheint das Herausragende dadurch oft ursprünglicher und einzigartiger, als sich bei genauerem Hinsehen rechtfertigen läßt.) Daß die Pegnesen nicht nur Einerlei produziert haben, sondern einer Vielfalt von Formen und Anlässen aufgeschlossen in Wahrnehmung und Nachahmung gegenübertraten, erweisen einige Niederschriften ihrer Versammlungen.



Unterschiedliche Aussichten über den Tellerrand



Es ist überraschend, unter den Gegenständen, die in regulären Ordenssitzungen verhandelt wurden, auch einmal ein literaturgeschichtliches Thema zu finden, das bestimmt nicht nahelag. Am 1. März 1824 geht Gotthold Emanuel Friedrich Seidel einer Anregung Herders nach:


"III.) Da dermalen kein OrdensMitglied sich zu einer Vorlesung angemeldet hatte; so wurde durch den Herrn Präses aus Herders Terpsichore eine Lebensbeschreibung und Charakterschilderung des in der Mitte des siebzehenden Jahrhunderts berühmt gewesenen lateinischen Dichters Jacob Balde, eines Ordensgeistlichen der Gesellschaft Jesu, sowie einige von dessen vorzüglichen Gedichten nach der trefflichen Übersetzung Herders vorgelesen, und damit die heutige Sitzung beendiget."


Der Tod des bayerischen Königs mußte natürlich auch bedichtet werden, doch nahm man auch Kenntnis von dem, was anderwärts dazu geschrieben worden war:


Es wurde "II.) von dem Herrn Präses aus der unter dem Titel: Max Joseph, erster König von Baiern, eine biographische Skizze für Freunde des Vaterlands, vor kurzem zu Augsburg im Druck erschienenen kleinen Schrift, eine Biographie unseres verewigten Königs vorgelesen."


Weitere Gedichte zum Tode des Königs lasen dann Mainberger, Wilder (zwei eigene), und dann las Wilder drei Gedichte, die der König noch als Kronprinz gemacht hatte: "Unter allgemeiner ehrfurchtsvoller Bewunderung unseres hochverehrten, auch als Dichter rühmlich ausgezeichneten Monarchen [...]" — die Neigung zur Poesie fing bei den Wittelsbachern also nicht erst mit dem "rex participialis" Ludwig an. Ob sie bei Max Joseph eine unglückliche war, ist natürlich aus einem offiziösen Protokoll nicht zu erkennen.


Die Gattung "Drama" wurde folgendermaßen gepflegt: "IV.) Herr Pfarrer Wilder las hierauf eine kurze Geschichte des Nürnbergischen Theaters von 1748 bis 1768 vor. — V.) Herr Pfarrer Dietelmaier machte die Anwesenden mit einem von ihm verfaßten Trauerspiel unter dem Titel: Das Naturgericht bekannt und las zur Probe den Vorbericht und die erste Szene [...]"


Noch zu Goethes Lebzeiten befaßte man sich im Blumenorden mit einer seiner späten Schriften; ihm gegenüber verhielt man sich in Nürnberg keineswegs so reserviert, wie Sengle es an den Jungdeutschen und den Biedermeierschriftstellern anderer Gegenden beobachtet hat: In einer Sitzung des Jahres 1828 "V.) Las Herr Stadtpfarrer Wilder aus Göthes Schrift: Kunst und Alterthum, die mit einem Vorwort dieses ehrwürdigen Veterans der deutschen Dichter begleitete Übersetzung der Recension der französischen Übersetzung von Göthe's dramatischen Werken, vor."


In derselben Sitzung "VI.) Wurden zwey von dem hiesigen geschickten Künstler Herrn Engelhard verfertigte Gemälde zur Beschauung aufgestellt, deren erstes die Trauer einer jungen Novize über ihre bevorstehende Einkleidung als Nonne und die sie tröstende Priorin, das andere aber den Tod einer Nonne vorstellt. Zugleich wurden auch zwey von einem ungenannten OrdensMitglied über den Gegenstand dieser Gemälde verfaßte Gedichte vorgelesen und mit allgemeinem Beifall aufgenommen." Nicht gerade multimedial, aber immerhin schon ein Dialog der Künste. Übrigens wäre es im 17. und frühen 18. Jahrhundert noch undenkbar gewesen, daß im protestantischen Nürnberg Bilder über solche Themen vor dem Blumenorden der Betrachtung gewürdigt worden wären. Man gruselte sich mittlerweile recht ästhetisch vor der Exotik des romantisch verbrämten Katholizismus.


Auch von außen kamen dem Blumenorden Anregungen zur Erweiterung seines Gesichtskreises zu, so zum Beispiel 1830:


"Dem hochlöblichen, in der Geschichte der schönen Litteratur Deutschlands hochverdienten Pegnesischen Blumenorden zu Nürnberg erlaube ich mir die beifolgenden auf den deutschen Boden verpflanzten nordischen Blumen hochachtungsvoll zu überreichen.


Mit der ausgezeichnetesten Hochachtung habe ich die Ehre mich zu unterzeichnen

Eines Hochlöblichen Pegnesischen Blumenordens ganz ergebenster

Dr. Gottlieb Mohnike,

Königl. Preußischer Consistorial- u. Schulrath,

Ritter des rothen Adlerordens


Stralsund, den 20. August 1830."


In der darauffolgenden Sitzung "II.) Wurde durch den Herrn Präses den anwesenden Mitgliedern [15 an der Zahl] bekannt gemacht daß der Königlich Preußische Herr Konsistorialrath und Schulinspektor Dr. Gottlieb Christian Friedrich Mohnike zu Stralsund an den pegnesischen Blumenorden ein sehr verbindliches Schreiben erlassen und mit demselben folgende von ihm verfaßte und herausgegebene Druckschriften als Geschenk übersendet habe:


1.) Tegner und Ohlenschläger, enthaltend drey Gedichte in schwedischer Sprache mit einer deutschen metrischen Übersetzung [...]"


— insgesamt vier Druckwerke. Es fällt auf, daß in diesen Jahren, obwohl nur jeweils zwei Protokolle von Sitzungen angefallen sind, die Zahl der Vorlesungen aus eigenen und fremden Gedichten in diesen Sitzungen sehr zunimmt.


In Heinrich Heines Gedicht "Ich rief den Teufel, und er kam" (Stück 35 aus "Die Heimkehr 1823-1824") heißt es: "Sanskrit und Hegel studiert er jetzunder". Es scheinen Modestudien gewesen zu sein; der Aufschwung der deutschen Indogermanistik stammt aus jener Zeit. Den Blumenorden erreichte davon Kunde über einen Gelehrten, der später als erstes Mitglied jüdischer Herkunft aufgenommen wurde; in der Sitzung vom 13. Februar 1832 "II.) Wurde von dem Herrn Stadtpfarrer Wilder die Einleitung in das von dem Herrn Doktor der Philosophie Ludwig Wihl zu München aus dem Hindostanischen übersezte und durch Herrn Forstmeister von der Borch zu Gunzenhausen an den Blumenorden eingesandte Gedicht unter dem Titel Jadschuadatta's Tod, eine Episode aus dem Ramayana nach der Ausgabe des Herrn von Chezy, nebst einigen Stellen aus diesem Gedicht vorgelesen [...]".


In dieselbe Sitzung fiel die Verlesung einer Fleißarbeit mit hochaktuellem Anlaß: "4.) Sonetten-Kranz veranlaßt durch das Concert des Herrn Paganini, gesammelt von Joh. Baptist Greger [...]" Nun muß man freilich wissen, daß Greger, später sein Sohn Friedrich August Greger, als auswärtige Mitglieder in München vor allem durch klebriges Fürstenlob in veraltetem Stil zu allen möglichen Gelegenheiten hervorgetreten sind, z.B. zur Geburt Ludwigs II.; ihre Werke mag in Schuber 68 unseres Archivs aufsuchen, wer will.



Gedichte zu Gedenktagen


 

Es wäre zu erwarten, daß Texte, die im Blumenorden entstanden sind, vor allem dann in der Öffentlichkeit wahrgenommen worden seien, wenn sie zu Gedenktagen verfaßt wurden. Im Nürnberger Umfeld kam dazu vor allem Albrecht Dürer in Frage, im allgemeineren Goethe.


Im Jahre 1821, 350 Jahre nach Dürers Geburt, war am Maxplatz das Dürer-Pirckheimer-Denkmal Heideloffs mit seinen beiden Porträtmedaillons aufgestellt worden. Man erinnerte sich auch wieder, daß schon 1681 Joachim von Sandrart das Grab Dürers auf dem Johannisfriedhof erworben und wiederhergestellt hatte, und der 1817 gegründete Albrecht-Dürer-Verein kümmerte sich um eine erneute Instandsetzung. Vom "frühen Morgen des 22. Juny 1823" datiert ein Gedicht von Johann Tobias Felix Harleß, "An Albrecht Dürers Ruhestätte". Möglicherweise handelt es sich um ein Festgedicht zu diesem Anlaß, denn ein zahlenmäßiges Anknüpfen an ein Datum aus Dürers Leben scheint nicht bestanden zu haben, sieht man einmal von der seltsamen Formulierung in Strophe 3 ab, welche einen Zeitraum von neun Generationen nach seinem Tod zu benennen scheint:

 

     Stärkende Morgenluft

Weht um die dunkle Gruft

Die Dich umschliest.

Edler, Vollendeter,

Herrlicher, lieblicher

Reich ausgestatteter

Meister der Kunst. —


 

    Wenn auch die Hülle nur

Ruhte, die kleinste Spur

Längst ist dahin;

Immer im Weltgewühl

Sey es uns ein Asyl

Ernst wird des Lebens Spiel

An dieser Gruft.



    Neunmal schon stand die Zeit

Vor der Unendlichkeit,

Starb aus die Welt,

Seit Dich die Ruhe fand!

Groß wirst Du noch genannt

Nicht nur im Vaterland

Wo man Dich nennt.



    Und bis zum Weltgericht

Strahlet dasselbe Licht

Glorien Glanz

Um Dein verklärtes Bild

Das rein und klar und mild

Irrdisches Sehnen stillt

Wie Du einst warst.


 

    Raphaëls Genius

Sandte den Bruder Gruß

Einst Dir zurück.

Was sich auf Erden fand

Eilt längst schon Hand in Hand

Im höhern Künstler-Land

Rascher zum Ziel.


 

    Stolz unsrer Vaterstadt —

Müde und lebenssatt

Sankst Du dahin,

Duldetest, littest viel,

Warst übler Launen Spiel,

Rastlos doch hin zum Ziel

Strebte Dein Geist.


 

    Glühender Farbenton

Strahlt nun zum schönen Lohn

Rings um Dich her,

Was Du auf sichrer Spur

Ahnetest, hofftest nur

Siehst Du in der Natur

Höherer Welt.


 

    Vater, wir bringen hier

Blumen und Thränen Dir

Sey stets in uns.

Edler — Vollendeter,

Herrlicher — lieblicher

Reich ausgestatteter

Meister der Kunst!



Der Enthusiasmus für den großen Sohn der Stadt nimmt deutlich Züge der Verehrung eines Lokalheiligen an. Selbst die Strophenform und Reimverteilung erinnert stark an das katholische Marienlied "WunderschönPrächtige/ Hohe und Mächtige/Liebreich holdselige/Himmlische Frau"". Abermals hat man sich zu verwundern über die wenigstens ästhetische Katholisierung romantischer und spätromantischer Gemüter in einer Stadt, in der Katholiken erst seit kürzester Zeit Bürgerrechte erwerben konnten.


Richtig politisch wird dann die Grundsteinlegung zum Dürer-Standbild auf dem Milchmarkt anläßlich der dreihundertjährigen Wiederkehr seines Todes. Es ist in Deutschland die erste Ganzkörperstatue eines nichtadligen Menschen als Bronzeguß ausgeführt und unter freiem Himmel. Rainer Mertens stellt die Umstände der Entstehung dieses Denkmals und der Einmischungen Ludwigs I. erneut dar, gestützt auf zahlreiche Vorarbeiten und in besonderem Hinblick auf die Rolle Johannes Scharrers. Das muß hier nicht wiederaufgegriffen werden. Aus dem Gesichtspunkt des Blumenordens ist bedeutsam, daß Bürgermeister Binder, auch ein Ordensmitglied, vor beinahe 10000 Festbesuchern aus ganz Deutschland zu diesem Anlaß eine Rede hielt und daß die Tendenz der Feier deutlich nationale Untertöne hatte. Goethe, der zu dieser Zeit wohl noch reisefähig gewesen wäre, hatte wohl Lunte gerochen und sagte in freundlichen Worten seine Teilnahme ab. Der Präses des Blumenordens, Seidel, beeilte sich, in seinen dem Anlaß gewidmeten Versen einen Ton der Verinnerlichung anzuschlagen, und so klingt er geradezu wie ein Maler der nazarenischen Schule, die zu jener Zeit in München wohl gelitten war:



Dein Denkmal Dürer?

Es ist nicht das Eine,

Deß Grundstein Dir die Dankbarkeit

In neuer Regung würdig weiht.

Vielfältig lebt's in großen Bildern,

Die Deines Geistes Tiefe schildern.

Manch' Land und manche Stadt so weit

Erfreut sich Deiner Herrlichkeit.

Die Kräftigen, die Züchtigen und Zarten,

In vielbewegter Zeit bewahrten.

Rein war der Pinsel, rein die Seele,

Und, daß dem schönen Bild nichts fehle,

So war's die Kraft, die jegliches gebar,

Drum ist auch jedes warm und wahr.

 


Doch eine Seele, die so Edles schuf,

Sie folgte auch den höheren Ruf,

Der ihren frommen Sinn berührte

Und sie zu ihrem Meister führte.

So ward der Meister Jünger, und sein Walten

Schuf dann der Meister, würdige Gestalten,

Und so verherrlichte das innre Leben

Des Künstlers treues Höherstreben.

So ward er stets als der befunden,

Der fromme Reinheit mit der Kunst verbunden.


Als dann Goethe gestorben war, gab wieder Seidel, dessen poetisches Vermögen wohl hinreichte, um dem Blumenorden eine würdige Stimme zu leihen, seine offiziöse Stellungnahme ab. Sie gibt einen repräsentativen Überblick über die neuere Literaturgeschichte, wie sie einem Nürnberger Gebildeten um 1832 gegenwärtig war. Manche der erwähnten Dichter sind heute nurmehr dem Spezialisten ein Begriff (und die Namen werden oft anders geschrieben):


Auch Göthe ist nicht mehr! — hat sich der Abend

Geneiget nun im deutschen Dichterland?

Einst ging in Opiz uns der Morgen auf.

Und drauf — seht aus den Fesseln Gottscheds hebet

Ein Zachariä und ein Gellert sich.

Was hör' ich? — aus Helvet'iens Alpen tönt

Um Mariane Hallers Klaggesang.

Von dorthen flüstern die Idyllen Geßners,

Des Manns um dessen Gunst

Die Muse des Gesangs und die der Zeichenkunst

Sich stritten — dem Apoll um ihren Streit zu schlichten

Hieß mahlen im Gesang und im Gemälde dichten.

Dort weckt in unseres Hoelty weicher Seele

Ein Bürger der Ballade Geist

Und hier erfüllen Ramlers Klagen

Mit sanfter Wehmuth das Gefühl.

Er klagt: [...]


Dort hebt sich Kleist in kühnen Phantasien

Und tauchet drauf zur Tiefe in dem Menschengeist.

Und wen erblick ich dort auf Golgathas geweihten Höhen?

— Den hohen Sänger des Messias. Hört, er spricht:


[...]


Und seht, um ihn versammelt sich der Sänger

Ein heil'ger Chor zum himmlischen Hallelujah.

Die Cramer, Lavater, die Schuberte und Uze

Ein Claudius und Gleim und Heß und Herder.

Ich wende mich und siehe —

Ein Dichter, dessen leiblich Aug umwölkt,

Greift in die Saiten, ihn umhüllt der Blindheit Nacht;

Jedoch ins Innre dringt das Auge seines Geistes

Das Hertz des Weisen und des Thoren spricht er aus.

Auch sanft berührend ist gar oft sein Sang.


[...Zitat...]


Dort aus Graubünden steigt ein Sänger nieder

Ein Salis forschend, voll Gemüth und Geist.

O hört, wie seine heil'ge Muse es verräth,

Was er in der verborgensten Natur erlauschet.

Wie du ihn stärkst, o Kunst,

Wie du ihn anhauchst, Grazie!

Seh' ich nicht — wendend mich zu Felsenhöh'n

Am Bergschluß unter Träumen wandeln Matthison?

Und was ist das, was hier sich mir entfaltet?

Die Zeichnungen von Hippels Meisterhand,

Mir sagt es die Natur, die sich in ihnen spiegelt.

Und wer ist jener? Seht die Liebe

Imuliret [?] er behend — und weist durch Frankreichs Gaue.

Das ist ja Thümel — !

Gebt scherzend einen leisen Schlag ihm auf den Mund

Und leget ihm dann Küsse drauf.

Ich nah' mich Dir, der Du ausruhest am Gelände

Des Weinstocks ohnfern Heidelbergs Ruinen

Dem trefflichen, Dir, dem antiken Voss,

Vergnügt sich lehnend an Homeros Büste.

Sey freundlich, edler Greis; es grüßet Dich Luise.

Was aber strahlet dort inb heilgem Glanz?

Es ist Novalis Muse — seht — o sehet —

Wie sie der Erde sich entreißt

Wie sie den kühnen Adlerflug beginnt.

Dort unterm hohen Regenbogen, welchen Blitze noch durchzucken,

Steht unserer Zauberer, der Jean Paul Richter da.

Vom Titan, der zu den prismat'schen Höhen strebet —

Bis ganz herab zu Quintus Fixleins warmem Lerchennest

Vereint seiner Schöpfungen Vielfältigkeit Humor,

Und eine Biene ist sein Genius,

Die den durchsicht'gen Honig überall erbeutet.

Wen seh' ich dort — indem ich weiter gehe? —

Ein hoher Dichter steigt vor mir empor.

Er lag an Romas und an Hellas Brüsten

Und Düfte Galliens umwehen ihn.

Es ist der Vater Agathons und der Musarion,

Hipparchis und Krates — Vater Wieland,

Der's nicht verschmäht in unseren Ordenskranz

Auch einzuflechten seinen hehren Namen.

Und wer sind jene Beiden, die sich innig dort umfassen?

Die geist'gen Dioskuren sind's, — die Brüder Schlegel.

Doch sehet die Gestalt, die uns sich nahet —

Ein reines Feuer glüht in ihrem Aug —

Du bists — Parthenios der deutschen Dichter

Du, unser edler Schiller, sey gegrüßt.

Dir ist mit scheuem Blick ein Alba dort begegnet

Und Carlos, Posa, neigen sich vor Dir.

Ein Wallenstein betrachtet Dich mit Staunen —

Johanna d'Arc reicht Dir den Jungfrau'n Kranz

Und Wilhelm Tell, der Ungebeugte

Neigt sich vor Dir mit Weib und Kind,

Maria Stuart lächelt Dir entgegen

Und alle Künste huld'gen Dir.

…………………………


Nicht alle nennen kann ich sie,

Die durch der Lieder Zauberklänge

Den heil'gen Bardenhain belebt,

Doch Einer ist's, der über Alle raget —

Goethe!

Ihm weihen wir vereint ein einfach Fest.

Ich leit' es ein mit wenig Worten —

Die meine Armuth diesem Reichen hat geweiht.


[...]


Vollständigkeit darf man bei einem derartigen Festgedicht im Rhapsodenton nicht erwarten, und dennoch ist es nicht ohne versteckte Zeichenhaftigkeit, einige andere Namen, deren Erwähnung in diesem Gedicht jedenfalls nicht aus äußeren Gründen ausgeschlossen war, versuchsweise ins Spiel zu bringen:


Lohenstein? Gryphius? Zu "schwülstig"? — Lessing? Heinrich von Kleist (statt Ewald)? Zu unchristlich? — Brentano? Arnim? Rückert? Weil sie noch am Leben waren? Das Spiel kann fortgeführt werden, doch ergibt sich immerhin schon jetzt, daß der Gesichtskreis Seidels über jene als typisch biedermeierlich postulierte Enge hinausreichte, welche einen Wieland schwerlich in einer Reihe mit Novalis genannt hätte.



Eine professionelle Dichterexistenz mit Lehrstuhl


 

Die Vorgeschichte einer neuen Mitgliedschaft beginnt als das, was man damals "Mystifikation" nannte: In der Sitzung vom 12. November 1821 "[...] IV.) Machte der Herr Präses die Anzeige: Es sey ihm vor kurzem in einem versiegelten und von unbekannter Hand überschriebenen Couvert ein in reimlosen Versen verfaßtes Gedicht unter dem Titel: "Der Irrwald bey Kraftshof ohnweit Nürnberg in einem Gesang", zugesendet worden [...]"


Nun dauerte es fast fünf Jahre, bis den reimlosen Versen über den Irrhain vom selben Verfasser sehr feierliche Ottaverimen nachfolgten: "[...] Das anliegende schöne Gedicht: Der Frühlingstraum, womit sich dieser bescheidene Musenfreund auf eine eben so anspruchlose als liebenswürdige Weise zur Aufnahme empfiehlt, mag zum Beweise dienen, daß der Blumenorden in ihm ein sehr schätzbares Mitglied gewinnen würde. [...]" — so in einem Rundschreiben Heidens wegen Aufnahme Christian Martin Winterlings vom 3. Juli 1826.  Die Mitglieder werden darin ersucht, weil wegen des Irrhainfestes das Verfahren sich sonst zu lange hinziehen würde, in beigefügte verschlossene Büchse ihre Stimme abzugeben und dies durch Unterschrift zu bestätigen. Es folgen auf dem Blatt nach Heidens Namenszug noch 44 Unterschriften, die letzte von Scharrer.


Getrieben durch ein neu empfundnes Regen

                        Beflügelte stets mehr ich meine Schritte,

Und auf mit frischem Gras besäumten Wegen

                        Eilt' ich dahin mit leichtgehobnem Tritte.

Da winkt von Ferne mir ein Tor entgegen;

                        Ich trete ein, tief in des Haines Mitte

Führt mich der Bogengang aus dichten Zweigen,

Und ringsum herrscht ein feierliches Schweigen.

 

Nur in den grünen Wipfeln hoher Bäume

                        Hör' ich Gelispel, wie von Flötentönen.

Bald kehren alle süßen Jugendträume

                        Zurück in meine Brust mit frohem Sehnen.

Aufblühen wieder die erstarrten Keime

                        Der Phantasie, gewekt von warmen Thränen,

Die unvermerkt die Augen mild bethauen,

Die nach den grünverschränkten Wipfeln schauen.


Das sind Dante- und Goethe-Reminiszenzen, deren Montage zuweilen schon sehr unanschaulich ist. Flötentöne sind mit dem Lispeln des Windes in Blättern kaum vergleichbar, und Keime können nicht erstarren, weil sie sich nicht fortbewegen, jedenfalls nicht die pflanzlichen, mit denen hier Phantasie verglichen wird. Ebenso konventionell die Fortführung in der folgenden Strophe. Er schläft ein und träumt:


Auch sah mein Aug' ehrwürdige Gestalten,

Die durch die wildverschlungnen Gänge wallten.


Jeder weiteren Strophe, die nicht vollständig zitiert wird, möge nun ein Absatz zur Inhaltsangabe gewidmet sein. In der folgenden geht es jedenfalls darum: Die Gestalten besprechen "Dinge hoher Art".


Um einen — es muß Harsdörfer sein — stellen sich die andern im Kreis; er ergreift das Wort.


Erinnert sie an Gründung ihrer Sprach- und Literaturgesellschaft.


Nach Nürnberg wandelten die Musen:


Bald sah man unter ihren leichten Füßen

Die schönsten Blumen aus dem Boden sprießen.


"Zur rechten sah man wie zur linken / einen halben Türken heruntersinken" — was in Ludwig Uhlands Gedicht über den Kreuzzug des Kaisers "Rotbart lobesam" humoristisch herauskommt und dadurch die Brutalität mindert, wirkt hier, wo eine öffentliche Instanz "man" als Beobachter nicht angebracht ist, unerträglich knöchern. In der folgenden Strophe werden die kulturellen Bemühungen als "Früchte des Friedens" angesprochen. Dann:



[...] Auf Strephons Haupt legt Klai die Krone nieder,

                        Die mit viel größerm Rechte ihm gehört.

So waren wir in manchen schönen Stunden

Durch Blumenband zu hohem Zweck verbunden.



Jetzt war an mich der Ruf des Herrn ergangen,

                        Der Erde niedern Hütten zu entschweben,

Und endlich ward mein sehnlichstes Verlangen

                        Gestillt nach jenem Licht, wo wir itzt leben. [...]

Da fand die Schaar, des Hirten jüngst beraubt,

An Floridan das zweite Oberhaupt.



Du zogst der Grenadille zarte Pflanze

                        Zu einem starken Blüthenstock heran.

Der Orden kam durch dich zu hellerm Glanze,

                        Fortwandelnd auf der angetretnen Bahn.

Bald reiheten sich seinem Blüthenkranze

                        Der weitsten Fernen edle Männer an,

Durch deines Geistes überwiegend Walten

Zu gleichem Zweck und Streben festgehalten.

 


Er benennt den 3. Präses, Myrtillus.

 


Oft trieb hieher des Dichtens innrer Drang

                        Das kleine Häuflein unsrer Pegnitzhirten,

Die mit harmonisch reinem Wettgesang

                        Durch diese grünen Schattengänge irrten,

Wo zärtlicher bei ihrer Flöten Klang

                        Die Turteln auf den schwanken Aesten girrten,

Denn alle stimmten in Begeistrungsflammen

Zu einem lieblichschönen Ton zusammen.



Zeitsprung mit Schmeichelei: viel ist geschehen, "Größeres, als jemals wir gedacht".


Der Träumende erwacht.


Er verspürt den Wunsch, aufgenommen zu werden.


Ein holder Schäfer habe ihm schon Hoffnung darauf gemacht.


Er verspricht, gelehrig zu sein.


Der Dichter wurde aufgenommen und revanchierte sich zunächst durch eine Lesung: "III.) Theilte Herr Dr. Winterling den anwesenden Mitgliedern 8. von ihm über verschiedene NaturGegenstände verfaßte sehr schöne Sonnette vorlesend mit [...]". Zu Beginn des Jahres 1827 richtete er eine Versepistel an den Blumenorden, aus der, wenn auch sonst nicht viel, hervorgeht, daß er eigentlich den Irrhain am Blumenorden für das Wesentliche hält:


Dem edlen Bunde, der des Fremdlings Flüge

                        Umstrikte durch der Blumen sanfte Macht,

Durch den mir manches Freundes theure Züge

                        Und mancher Freude stilles Glük gelacht;

Der diese Stadt, wo ihre schönsten Siege

                        Die Kunst gefeiert, werther mir gemacht,

Ihm seien an des jungen Jahres Wiege

                        Des Herzens Wünsche huld'gend dargebracht,

Und wie die Hülle ietzt die Saaten deckt,

                        Bald aber wecken laue Frühlingshauche

Der Voegel Stimmen und der Wiesen Grün:

                        So werd' im Lenz auch unsre Schaar geweckt

Und eile nach der Vorzeit edlem Brauche

                        Zu ihrem Hain mit neuen Liedern hin.


Nürnberg, den 1. Januar 1827

Amandus, des Blumenordens an der Pegnitz Mitglied.


Winterling-Amandus — nun ist der Ordensname, den er sich noch dazu selbst verpaßt hat, nichts mehr als eine alberne Kostümierung. "Der Liebenswürdige", so will er gesehen werden. Der Orden läßt es sich gefallen.


"I) wurde durch den Herrn Präses eine poetische Epistel welche das geschätzte Ordensmitglied Herr Dr. Winterling unter dem Namen Amandus an den Blumenorden erlassen hat [...] und die von dem Herrn Präses im Namen des Blumenordens darauf ertheilte gleichfalls in gebundener Rede verfaßte Antwort abgelesen [...]

II) Las Herr Dr. Winterling acht kleine Canzonetten [...]

Dieser Vorlesung folgte der einstimmige Wunsch der anwesenden OrdensMitglieder, daß es dem Herrn Verfasser gefällig seyn möge, den Blumenorden noch öfter mit ähnlich trefflichen Mittheilungen zu erfreuen."


Nun hat er Fuß gefaßt, und es entspinnt sich ein Briefwechsel mit dem Ordensschriftführer Heiden, in dem Winterling vor allem versucht, seine literarischen Produkte mithilfe des Blumenordens zu vermarkten. Das ist im Grunde völlig richtig; wofür sollte eine Literaturgesellschaft denn dienen, jedenfalls aus dem Standpunkt desjenigen Mitglieds, das von seiner Feder leben muß. Zwei Umstände allerdings stören diesen Funktionszusammenhang: daß der Orden längst nicht mehr in der Lage ist, allein aufgrund seines Namens eine Absatzsteigerung zu bewirken, und daß daher die Last der Alimentierung des Berufsdichters bei den Mitgliedern hängenbleibt; zweitens, daß Winterling kein mittelloser Poet ist, sondern ein — wahrscheinlich ererbtes — Landgut und eine Professur für Poesie an der Universität Erlangen innehat. Kurzer Überblick über den Briefwechsel (sämtliche Stücke im Schuber 53 des Pegnesenarchivs):


Brief Winterlings an Heiden vom 29. September 1830: Bitte, für die Veröffentlichung des 2. Bandes seines Werkes "Araucana" zu subskribieren (der Präses und Dr. Osterhausen hätten es schon getan) und weitere Subskribenten im Orden zu werben. Der Preis betrage 4 fl. 30 Kr..


Brief Winterlings an Heiden vom 28. Februar 1831: Ob er nicht noch Exemplare der Araucana benötige, denn Winterling habe Herrn Mainberger für 30 Exemplare garantieren müssen und im voraus bezahlt. Gegenwärtig arbeite er an einem anderen heroischen Gedicht über die Eroberung von Granada.


Brief Winterlings an Heiden vom 20. Mai 1835: Er habe auftragsgemäß 7 Exemplare des Seidelschen Nachrufs auf Colmar weitergeleitet. Außerdem habe er im Sinne des Ordens gewirkt, indem er unter dem Titel "Antik-moderne Dichtungen" in Berlin ein Werk herausgegeben habe, in dem auch eine Bearbeitung von "Daphnis und Cloe" sei.


Brief Winterlings an Heiden vom 10. März 1836: "[...] Durch meinen Verleger, Hrn. Bläsing dahier, nehme ich mir die Freiheit, Ihnen 4 Exemplare unseres Albums zu übermachen, einer Zeitschrift, deren Tendenz im der Ankündigung ausgesprochen ist, und wozu uns gefällige Abonnenten zu gewinnen jetzt meine ergebenste und angelegentlichste Bitte an Sie ist.[...]"


Konzept eines Briefes von Heiden an Winterling vom 29. März 1836, in dem er berichtet, im Auftrag Seidels und im Namen des Ordens die Zeitschrift bei der Riegel und Wießnerschen Buchhandlung bestellt zu haben.


Winterling an Heiden, 4. 12. 1836: Er übersendet ein Exemplar seiner "poetischen Mitteilungen" für die Ordensbibliothek und bittet um private Bestellungen von Mitgliederseite. "Der Poesie, die in ihrem Auftreten in der Welt mit so manchen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, würde dadurch gewiß recht hilfreich unter die Arme gegriffen. [...]"


Winterling an Heiden, 9. 11. 1838: Er bedankt sich für den Nachruf auf Wilder und berichtet, er habe dessen Gedichtausgabe erworben. "Warum aber, erlaube ich mir zu fragen, hat man in diesem Bändchen, das eine Auswahl ist, Alles durch einander gestellt, warum ist nichts nach den Dichtarten rubricirt und geordnet? [wie bei Goethe, natürlich.] Das Einzelne muß wohl immer gelten, wenn es an sich werthvoll ist; aber es kann auch in der Zusammenstellung gewinnen, und darauf ist hier keine Rücksicht genommen. Wer diese Herausgabe besorgt hat, weiß ich nicht. Hat der Orden selbst Theil daran?" (Eine ziemlich impertinente Form der Kritik.) Es sei immerhin verdienstvoll, daß man Wilders Sachen nicht verfliegen läßt. "Haben Sie Ihre Stadtversammlung schon gehabt; ich war seit 2 Monaten von hier abwesend und zwar auf meinem Gut Bernstein bei Wunsiedel [...]"


Zwei Gedichte, "übersandt zur Versammlung des Blumenordens am 12. Nov. 1839 in Nürnberg von C. M. Winterling, Mitglied des pegnesischen Blumenordens in Erlangen": Ein Fischer-Idyll nach Theocrit [in Dialogform ...] Weinlied [...]"


Winterling an Präses Kreß, 12. 4. 1844 (er war um einen Beitrag zum Jubiläumsalbum gebeten worden): "Ich bin nun wirklich so frei, einige meiner Lieder zu übersenden und stelle es dem Ermessen der Commission anheim, welche davon sich zur Mittheilung eignen. [...] Soll ins Ragout auch spanischer Pfeffer, so greift man vielleicht nach diesem; soll aber Alles harmlos bleiben — nun das ist Sache der Redaction. [...] indeß was soll die Poesie nur raufen? Sie muß der Seele irgend einen lebendigen Trost geben [...]" Anscheinend machte er sich Sorgen um den Umgang mit der Zensur. Aber das ist ein neues Kapitel.

Sogar zweimal brachte der Blumenorden im Zeitraum von zehn Jahren eine Gedichtsammlung zustande. Es waren seit der Festschrift von 1794 die ersten Gemeinschaftsarbeiten mehrerer Mitglieder, Dokumente einer wiedererstarkten geselligen Beschäftigung mit dichterischer Produktion. Die Einstellungen der Zeit zur schöpferischen Tätigkeit waren weniger vom Individualismus geprägt als die der vorigen Periode, und daher wäre der Zweck eines Dichterkränzchens wieder sinnvoller erschienen und erfolgversprechender. Nur sperrten sich die äußeren Verhältnisse in Gestalt der Metternich'schen Anti-Demagogengesetze.



Das Album von 1834



Am 14. April 1834 "Machte der Herr Präses die Anwesenden mit dem Vorhaben einiger Ordens-Mitglieder bekannt, eine Auswahl ihrer Gedichte zwar nicht im Namen und auf Kosten des gesammten Blumenordens, jedoch mit der Bemerkung, daß solche insgesammt von Mitgliedern dieser Gesellschaft verfaßt worden sind, im Druck herauszugeben. Von Seite der anwesenden Ordens-Mitglieder [24 Personen] wurde dieses Vorhaben beifällig aufgenommen und die Verfasser dieser Gedichte ermuntert solches baldmöglichst auszuführen."


In Schuber 40 des Pegnesenarchivs findet sich tatsächlich eine gebundene Gedichtsammlung, handschriftlich, mit dem Vermerk "um 1832" auf dem Titelblatt; es sind allerdings auch Gedichte enthalten, die von 1835 datieren.


Die auf dem Titelblatt angegebenen Autoren sind: Wilder, Dietelmair, P.A. Michahelles, K. F. Michahelles, Osterhausen, Meißner, Harleß, Heiden, Scherr, Seiler, Dr. Lorsch.


Wilhelm Schmidts Bemerkung, die Verfasser hätten, trotz ihrer Vorbehalte gegen die Spielereien der frühen Pegnesen, selber einen Sonettenkranz auf gegebene Reime gebastelt, erweist sich auf den Seiten 169 bis 182 als richtig.  (Kein Hehl macht davon eine Nebenbemerkung Mönnichs in seiner Darstellung der Ordensgeschichte für die Festschrift von 1844 in Bündel 82, S. XIII: "In der oben schon gerügten Spielerei mit Worten, Vers- und Reimkünsteleien, an welcher es übrigens unserer neuesten Poesie hie und da auch nicht fehlt, wurden sie [die ersten Pegnesen] inzwischen von Andern, besonders von Philipp von Zesen und seinen Genossen, noch weit übertroffen.") Interessant an der Formspielerei unserer Biedermeierpoeten ist aber, daß es in ihren Sonetten auch um Themen wie "Der Zeitgeist", "An die Finsterlinge", "An die Ultraliberalen", "An die Gemäßigten" geht. Den "Finsterlingen", ersichtlich den Unterdrückern vom Schlage Metternichs, ruft Seiler zu: "Die Wahrheit sprengt die mächtigsten der Riegel"; den Ultraliberalen schreibt er ins Stammbuch: "Euch lüstets keck dem Weltlauf vorzugreifen", und die Gemäßigten ermutigt er:  "Das Gute, wißt ihr, kann nur langsam reifen". Also eine recht biedermeierliche Politik. Und doch hat man den Band nicht drucken lassen. Es war wohl doch zu riskant, nachdem man sich im einzelnen so herausgelassen hatte.


Freilich haben die Verfasser dieses Albums, Teilnehmer an den Poesie-Sitzungen seit 1827, nicht erst für diese Sammlung Gedichte verfaßt, sondern frühere Texte dazu bestimmt, und einige davon sind hier bereits aufgeführt gewesen. Was den heutigen Leser dieser Anthologie darüberhinaus stärker berühren mag, ist ein Gedicht auf S. 237, das Schnerr noch zu Lebzeiten Kaspar Hausers an diesen gerichtet hat:



An Kaspar Hauser. Mit einem Neuen Testament zum Christfest 1829.



Dir, der der Kindheit schöne Freuden

                        In dunkler Klause lang entbehrt,

Dir sei an diesem Kinderfeste

                        Von mir dies kleine Buch beschert.


[...]


Er wird dein Leben ferner wahren,

                        Der Schwache schützet und erhält,

Der Vater, ohne dessen Willen

                        Kein Sperling von dem Dache fällt.


Schnerr.


Als es in diese Sammlung aufgenommen wurde, las man die letzte Zeile wohl nur mit Bestürzung oder sogar Verbitterung, denn Hauser war 1833 im Ansbacher Hofgarten erstochen worden.

 



Die Anthologie in der Festschrift von 1844



Bevor in der Ordensversammlung vom 13. November 1843 endgültig festgelegt wurde, wie das Jubiläum von 1844 zu begehen sei, muß es bereits Absprachen über die Gestalt der Festschrift gegeben haben. Und obwohl Mönnich und Harleß, wie erinnerlich, die poetischen Leistungen der Pegnesen in den abgelaufenen Jahrzehnten eher bescheiden einstuften, nimmt den Hauptumfang der "Festgabe", welche dann 1844 erschien, eine Anthologie ein. Die Mitglieder des Poetenzirkels hatten sich früh genug an die Arbeit gemacht, wohingegen ein Verfasser des geschichtlichen Einleitungsteils in jener Novembersitzung von 1843 erst gesucht wurde. Schon im November 1839 lud Heiden einen ausgewählten Kreis von Personen zu einer außerordentlichen Sitzung ein, ohne ein Thema anzugeben, doch läßt sich aus der Tatsache, daß der Vorstand und etliche dichterisch besonders aktive Mitglieder diesen Kreis ausmachten, auf die Erörterung von Absichten schließen, die mit Dichtung, Veröffentlichungsmöglichkeiten, ja wohl auch dem bevorstehenden Jubelfest zu tun haben konnten:


"Der Unterzeichnete gibt sich die Ehre, die auf dem Umschlag benannten verehrlichen Ordensmitglieder, auf künftigen Montag den 2ten December zu einer freundschaftlichen Unterhaltung in der goldenen Krone im Heugäßchen, ergebenst einzuladen, bei welcher wie immer die gefällige Mittheilung  von Früchten ihrer geschäftsfreien Mußestunden sehr willkommen sein wird. Der Anfang ist wie gewöhnlich Abends um 7. Uhr.


Mit vorzüglicher Hochachtung beharrend

Nürnberg den 28sten November, 1839.

Heiden, OrdensSekretär"


Folgende Personen kündigten ihr Erscheinen an:


"Kreß wird kommen

Michahelles gleichfalls

Seiler auch

Dr. Holzschuher desgl.

Meißner desgl.

Löffelholz desgl.

Dr. Lösch desgl.

Dietelmair erscheint

Schnerr desgl.

Osterhausen — erhalten am 2. Decbr. Vormittags"


Auch auswärtige Mitglieder wurden nun angegangen, zu der geplanten repräsentativen Gedichtsammlung etwas beizutragen. Es dauerte lange, bis einige reagierten, und dann auch nicht immer in der erhofften Weise. Ein gutes Beispiel ist der Landgerichtsarzt Dr. Gustav Blumröder aus Kirchenlamitz. In einer schnakisch humoristischen Weitläufigkeit entzieht er sich dem Wunsch mit Hinweis auf sein langes Fernstehen, das ihm nicht erlaubt abzuschätzen, ob sein humoristisch-satirischer Beitrag, den er allenfalls liefern könnte, nicht die Empfindlichkeit zu sehr reizt und anmaßend erscheint, und schließt:


"Möge die blauäugige Athene, ,die Verwundende u. Heilende" und die [unleserl.] jungen und fröhlichen Musen, in ihrer göttlichen Heiterkeit und Freyheit von den seriösen Emblemen des Ordenssiegels unverdüstert, der Jubelfeier u. ihrem Gedenkbuche hold u. freundlich zulächeln!

Möge der Irrhain nicht dürr seyn!

Mögen dem sehr verehrlichen Verein die kommenden Tage, frey von Wolken u. Wolkenschatten u. Stechfliegen, mit sonnenhell blauem Himmel eine saftgrün [unleserl.] u. frisch aufblühende fruchtbare Zukunft bringen!

Mit vollkommenster Hochachtung besteh

Blumröder

Kirchenlamitz am 19. März 1844"


Nachdem er die Festgabe zugeschickt bekommen hatte, änderte sich anscheinend seine Einstellung zu der verdüsternden Seriosität des Ordenssiegels, und er übersendete am 10. August 1844 einige humoristische Verse; für die Veröffentlichung war das freilich zu spät. Auf der Rückseite des eingegangenen Briefes notierte der neue Ordenssekretär Seiler ein Konzept der Antwort, die Blumröder zuteil wurde: "Nürnberg, den 26. Aug. 1844


Ew. Wohlgeboren

Dankt der pegn. Blumen-Orden verbindlichst für die gütigst übermachten Exp. der humoristischen Versuche, die Ihrem lebensvollen und heiteren Geiste entquollen [...Man habe sie der Ordensbibliothek eingegliedert] Gedenken Sie des Ordens noch ferner und benützen Sie künftig die Eisenbahn, um seinen vierteljährlichen Versammlungen persönlich beyzuwohnen. So lebendige, thätige Glieder, wie Sie eines sind, werden ihm stets ein sehr willkommenes Erlebnis seyn. [...]"


Blumröder starb 1853 in Nürnberg.


Georg Andreas Gabler, der noch in Altdorf studiert hatte und seither Philosophieprofessor in Berlin geworden war, sandte nach Redaktionsschluß noch ein Gedicht, das bestimmt nicht von der Vermeidung von Seriosität geprägt war, einfach, um nicht gänzlich unbeteiligt zu erscheinen, und begleitete es mit den Worten:


"Ew. Hochwohlgeboren

Haben vor etlichen Monaten die Güte gehabt, mich als ein auswärtiges Mitglied des Pegnesischen Blumenordens von der in den Monat Juli d.J. fallenden zweihundertjährigen Stiftungsfeier desselben gefälligst in Kenntniß zu setzen und zu einem Beitrage für das zu diesem Zwecke beabsichtigte Album einzuladen. [...]

Um indessen nicht ganz zurückzustehen [...] erlaube ich mir in der Anlage [...] einen kleinen Beitrag zu Ihrer geneigten Verfügung und zum geeigneten Gebrauche zu übersenden. [...]


Berlin, 14. Juli 1844

[...] ganz ergebenster

Professor Gabler"


Seine Verse lauten:


Aus noch ungedruckter Handschrift.


Schwachgläub'ge Menschen! Arme Sterbliche!

Die, wenn ein großes, allgemeines Loos

Sich zu erfüllen naht den Zitternden,

Durch kleine Fehler es verschuldet wähnen,

Die kaum ein Aß sind in der Weltenwaage,

Und, wenn sie eigner Vorwurf schuldig spricht,

Mit schwachen Zweifeln ihr Gewissen ängsten! —

Der Zeiten Strom wogt brausend für und für,

Und keine Macht hemmt das erzürnte Tosen.

Stolz schwimmt auf hoher Flut her manches Schiff;

Doch lecke Fugen, Schiffbruch, jähes Stranden

Versenkt in's Wellengrab es früher, später.

Unnütze Trümmer sind der Überrest,

Oft kaum zu brauchen mehr für Fischerbarken.

Kein ander Schicksal, keine andre Zeit

Haust jetzt bei diesem Volk, als überall;

Kein andrer Geist schleicht hier auf finstren Pfaden,

Als jener Riesengeist, der allgewaltig

Hinschreitend wandelt über alle Länder,

Und aller Zeiten großer Herrscher ist.

Dem sind wir unterthan. Uns bleibt die Sorge,

Daß schuld'ge Treu wir nicht uns selber brechen.


Diese Gedanken könnte ein Rechtshegelianer verfaßt haben, einer, der im modernen napoleonischen bzw. preußischen Staat und in der Entwicklung von Wirtschaft und Industrie das Walten des Weltgeistes zu spüren glaubt, der im Bewußtsein der Zeitgenossen zu sich selber kommt. Oder findet man etwa einen Schopenhauerischen Fatalismus darin, der lehren will, daß der Mensch gegenüber der Übermacht des Schicksals kein falsches und sinnloses Aufbegehren an den Tag legt, sondern Abkehr von Leidenschaften lernt? Gabler ist wohl in mehrfacher Hinsicht Epigone, aber gerade deswegen typisch für die Träger eines Zeitgeistes, der sich alsbald von der klassischen Humanität verabschiedete und teils in Großmachtstreben, teils in Untertanengehorsam verkam.


Und was fand nun wirklich Aufnahme in die Festschrift?


In Schuber 82 des Pegnesenarchivs wird sie aufbewahrt: "Festgabe zur zweihundertjährigen Stiftungsfeier des Pegnesischen Blumenordens. Nürnberg. Verlag von Bauer und Raspe. (Julius Merz.) 1844." Die ersten 48 Seiten nimmt der Aufsatz ein: "Der Pegnesische Blumenorden von 1644-1844. Von Dr. W. B. Mönnich." Sie sind mit römischen Ziffern paginiert, wobei die Besonderheit auftritt, daß die Zahl 40 nicht "XL", sondern "IL" geschrieben wird. Auf Seite ILIV findet sich das schon bekannte Urteil Mönnichs über das unausweichliche Epigonentum der Pegnesen, allerdings gemildert durch die Feststellung: "Es ist in der That nicht unerfreulich, vielmehr höchst belehrend, die Angaben, welche die Protokolle über die gehaltenen Vorträge aufbewahren, darauf anzusehen, wie der älteste literarische Verein Deutschlands ohne Geräusch und Lärm [...] aus seiner Mitte nach und nach eine Gallerie von Bildern herausgebracht hat, die den Gestalten, die uns auf dem großen Markte der Literatur entgegentreten, gar nicht unähnlich sind." Über die regelmäßigen literarischen Treffen außerhalb der offiziellen Ordensversammlungen urteilt er auf Seite ILVII:


"Vielleicht dürfen wir es als ein gutes Zeichen betrachten, daß diese Monatsversammlungen sich neben den Vierteljahrssitzungen bereits siebzehn Jahre erhalten haben;" und dann folgen auf seine 48 Seiten mehr als fünfmal so viele arabisch paginierte — die Anthologie von S. 1 bis 263, alphabetisch nach Autoren geordnet. Das ist im wesentlichen die Frucht dieser siebzehn Jahre.


Bei Durchsicht der Titel ergibt sich, daß weder Gattungen noch Themen vertreten sind, die von den in der Sammlung von 1834 vorliegenden Proben abweichen. Das Fehlen politischer Bezüge fällt an den Titeln auf. In den Gedichten selbst, wenn man sie erst aufschlägt, sind solche dennoch vorhanden. Auch aktuelle Bezugnahmen scheinen auf den ersten Blick ins Inhaltsverzeichnis zu fehlen, mit Ausnahme des Eisenbahngedichtes von Schnerr. Bei näherem Hinsehen sind sie in Feiergedichten durchaus beabsichtigt, etwa in folgenden:


Mehrere Gedichte zu Dürer-Gedenktagen und Dürerfeiern (siehe oben).


"Rundgesang zur Feier der Gemeindewahlen der Stadt Nürnberg im Jahre 1830", von Binder — ergiebig ist an diesen Jubelformeln nur die Aussage, daß Noris jetzt mündig sei.


"Gesang beim akademischen Fest in Altdorf, den 2. Juli 1822", von Dr. Lorsch "erster Bürgermeister zu Nürnberg, 1830"; darin:


Ach das Köstlichste verschwindet,

Und die Blume bricht der Nord,

Was sich segnend hier gestaltet,

Riß der Sturm der Zeiten fort.

Diese Hallen sind verödet,

Und der Lehrstuhl weggeschafft,

Und die Schüler ausgetrieben

Aus dem Dom der Wissenschaft.


"Der 16. Februar 1822 gab in Altdorf wohl auch zu Hoffnungen Anlass, dass die Universität neuerlich erstehen könne. Das Wartburgfest 1817 oder das Attentat gegen August von Kotzebue durch den Erlanger Studenten Karl Ludwig Sand im Jahre 1819 führte zu einer explosiven Stimmung unter den Erlanger Burschenschaften. Aus Protest zogen die Erlanger Studenten nach Auseinandersetzungen mit Handwerksburschen, die sich im Fasching zur wüsten Schlägerei zugespitzt hatten, nach Altdorf, um dort ein fideles Studentenleben zu führen. Bei ihren Kämpfen hatten sie Bürgermiliz, 150 Mann Infanterie und eine Schwadron Kavallerie nicht gerade unterstützt. Erzürnt wandten sich die 400 Studenten also von Erlangen nach Altdorf, wo sie durch die Bürgerschaft begeistert Aufnahme fanden. Doch bereits am 5. März kehrten die aufständischen Studenten in allen Ehren zurück, denn der Senat hatte ihre Forderungen zum Teil erfüllt." Wenn immerhin ein halbes Jahr später der Bürgermeister Nürnbergs das Verschwinden der alten Universität im Tone der Enttäuschung vergeblicher, kurzzeitiger Hoffnungen beklagt, so ist das durchaus ein Politikum.


Mönnich selbst steuerte unter anderen ein Gedicht bei, das in Bezug auf Schauplatz und moralischen Impetus eine gewisse Ähnlichkeit mit Heines berühmten Versen über "Gezählt, gewogen, zu leicht befunden" aufweist. Hier ist es jedoch nicht ein König Belsazar, der Jehova "ewig Hohn" kündet und folglich seinem verdienten Untergang — durch seine Knechte! — entgegengeht, sondern das Volk von Babylon, das von Xerxes schlauerweise in die Dekadenz getrieben wird und daher aus der Weltgeschichte verschwindet.


Das Gebot des Königs. Eine babylonische Geschichte.


    Zürnend auf die Babylonen,

Die nach Freiheit lüstern waren,

Kam mit seinen Legionen

Xerxes und — trieb sie zu Paaren, —


Drang hinein in ihre Mauern

Und gebot: "Legt ab die Waffen,

Soll mein Zorn nicht ewig dauern,

Nicht mit Untergang euch strafen!


     Soll ich aber Gnade schenken,

Nehmet Geigen, Zithern, Flöten,

Spielt und zechet in den Schenken,

Schwelgt wollüstig ohn Erröthen.


     Und dann hüllt die üpp'gen Glieder

Mir in schimmernde Gewande,

Fleißig zum Gebet auch nieder

Kniet vor meinem Gott im Sande!"


     Folgsam drauf die Babylonen

Thaten, wie der Herr geboten,

Und — versunken seit Aeonen

Babel ist in Sumpfes Boden.


Man sieht, die religiöse Komponente ist im Politischen verschwunden, damit freilich auch der Schauer. Hier geht es um ein Lehrstück zu Machtpolitik und Kulturgeschichte. Die moralische Anwendung auf sich kann der Zeitgenosse von 1844 bestimmt leichter machen als bei Heines Gedicht, denn er muß nicht eine fremde alte Religion erst in etwas übersetzen, was ihm geistig viel bedeutet, sondern sieht am Ergebnis sofort: "Wenn ihr euch aus lauter Streben nach Luxus abbringen laßt von euren Freiheitsidealen, ist Deutschland verloren." Der ideale Hintergrund ist die Vorstellung vom tugendhaften germanischen Wilden, der geistige Gegner ist mal wieder der überfeinerte Franzose, der mit dem Gift seiner Zivilisation die deutschen Fürsten geimpft hat, die auch nicht anders handeln als Usurpatoren gegen ihr eigenes Volk. Ein Seitenhieb auf die neue Frömmigkeit gegenüber der alten Kirche ist auch zu verspüren. Das ganze ist von der Zensur nicht zu erfassen, weil man genausogut eine Warnung gegen Götzendienst im Dienste falscher ausländischer Mächte darunter verstehen könnte, wobei als Ausland ja auch deutschsprachige Länder in Frage kamen — wenn man den aufrechten, unbotmäßigen Bürgersinn in diesen Zeilen festnageln will, verflüchtigt er sich. Ein unangenehmer Nachgeschmack von nationalstaatlicher, kulturfeindlicher Barbarei bleibt.


Winterling hatte natürlich nicht den Zeitpunkt verpaßt, Gedichte aus seiner Produktion in der Anthologie unterzubringen. Wo er über seine eigene Einstellung zur Kunst schreibt, erwartet man wohl eine auf dem Boden beruflicher Erfahrung gegründete Aussage, aus der vielleicht seine Stellung in der damaligen Literatenzunft und seine Sicht der Produktionsbedingungen hervorgeht. Das müßte ja eigentlich mit Kritik an der Kommerzialisierung, an Elend des verkannten Genies, oder gar an politischer Gängelung irgendwie schlau verbunden sein. Wie geht er es an?



Und bin ich nicht politisch

Wie mancher Musensohn,

Kriech' ich auf otahitisch [Otaheiti = Tahiti]

Doch auch vor keinem Thron.


Zieh' ich mit jener Innung

Nicht spornstreichs gleich ins Feld,

So hab' ich doch Gesinnung,

Die auch die Probe hält.


Ob mich ein Fürst bebändert,

Das Volk mich bepocalt,

Denkmünzen man mir rändert,

Mein Bild auf Dosen malt;


Ob ein Passow mein Rühmer,  [Franz Passow, Philologe] 

Mein Herold ein Gervin, [Gervinus, Literaturhistoriker]

Ob ich ein Anonymer

Bei Anonymen bin;

 

Ob im Poetencykel

Auch meiner wird gedacht,

Ein Brockhaus zum Artikel

Im Lexicon mich macht;

 

Ob nach mir vom Katheder

Ein Priscian docirt, [antiker Lehrer der Rhetorik]

Mich auf der Schulbank jeder

Primaner schon tractirt;


Ob nicht, das gilt mir völlig

Im Leben gleich und gleich,

Fährt Charon einst im Schöllig

Mich nach dem Schattenreich.


Der Ruhm, den Menschen geben,

Ist eitel Trug und Tand;

Wen sie heut hoch erheben,

Wird morgen klein erkannt.


Und wie ich's mit dem Ruhme,

Halt ich's mit Anderm auch,

Pflück' ich der Dichtkunst Blume

Nur am verborgnen Strauch.


Nicht Honorar gewähre

Mir ja die Muse je,

Denn wie ich sie verehre,

Thät Geld von ihr mir weh.


Doch wie man an sein Huldchen

Ein Sümmchen wohl verthut,

So opfr' ich manches Guldchen

Dem theuren Herzensgut.

 

Des Ruhms, des Reichthums Spenden,

Die manchen schon getäuscht,

Und wie aus Glückes Händen

Für Kunst sie mancher heischt:


Sie sind mir goldne Kälber,

Nichts als Idolatrei,

Zählt nur die Muse selber

Mich den Erkornen bei.


Sie mag am besten wissen,

Wer ihrer Liebe werth,

Wenn er auch nur zu küssen

Des Kleides Saum begehrt.


Dr. Winterling


Witzig, sprachspielerisch, emphatisch anti-kommerziell, zum Teil auch glaubhaft, was das Daraufzahlen des Dichters bei gewissen Veröffentlichungen betrifft — und doch heuchlerisch. Das glaubt ihm keiner, daß ihm ein Honorar weh täte. Und die Muse, hinter deren Verehrung er seine wohlverstandenen Interessen verbirgt, ist nur Staffage. Genauso das "Huldchen", d.h. eine ausgehaltene Geliebte — hier kippt der Idealismus. Entweder läuft das nach dem Muster "Der Fuchs und die sauren Trauben", oder es ist eine Irreführung des Publikums, oder, bestenfalls, ein guter Vorsatz für die Zukunft. Ärgerlich, daß er sich auf moralische Kosten von Kollegen wie etwa Freiliggrath oder Fallersleben dem Juste Milieu der politisch gemäßigten Bürgerlichen empfehlen will. Mörike war auch unpolitisch, aber wenn er reimte


Bei euren Taten, euren Siegen

Wortlos, beschämt, hat mein Gesang geschwiegen.

Und manche, die mich damals schalten,

Hätten auch besser den Mund gehalten.


— dann beschuldigte er sich ehrlicherweise selbst, konnte sich aber gegenüber den tagespolitischen Modeerscheinungen nachträglich rechtfertigen. Winterling distanziert sich von der gesamten "Innung", und sein Rückzug überzeugt nicht, weil man ja weiß, wie er sich bemüht, im Geschäft zu bleiben.


Die Anthologie des Blumenordens von 1844 zeigt manches, was zwischen herkömmlich-gediegenem Wissen und Können und späterem Ausrutschen steht. Hätte höhere ästhetische Bewußtheit das Ausrutschen verhindert?