Poesie der Pegnesen

 

Vierter Abschnitt: Historiker und Klassizisten



Indem die Interessen der Pegnesen gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine Wendung ins Historische nahmen, wurde dennoch die Beschäftigung mit Literatur nicht aufgegeben, nur ging diese allmählich in Literaturgeschichte über. Wo die rein historische Forschung überwog, war Gelegenheitsdichtung im einzelnen nicht ausgeschlossen. 



Bürgerliche Sicht durchdringt die Gattungen


Ein frühes Beispiel für die Beschäftigung mit einem Altertum, das wegen der vermeintlich gesünderen öffentlichen Zustände erforscht wird, ist bereits der Aufsatz des späteren Präses Colmar aus seiner Studienzeit: «Etwas über die teutschen Schauspiele, nebst einem Rosenblütischen Fasnachtspiel. Eine auserordentliche Vorlesung, bei seinem Aufenthalt in Altdorf an Peter und Paul Fest, von Joh. Albert Colmar, d[er] R.[echte] L[icentia]t. den 25. Junius 1783.» Er befindet sich nicht in den Akten der Altdorfer „deutschen Privatgesellschaft”, sondern im Pegnesenarchiv, ein fadengebundenes Oktavheftchen ohne Deckel und ohne Seitenzählung. Im gleichen Format ist dort die eigenhändige Abschrift des Textes abgelegt, unter dem Titel: «Troya. Ein Fasnachtsspiel aus dem XV. Jahrhundert vom Dichter Hans Rosenplüt, genannt Schnepper. vorgelesen am 22sten August 1791 von Dr. Johann Albert Colmar, OrdensMitglied.» Dies war nun schon in einer Sitzung des Blumenordens geschehen. Colmar trug andererseits keine Bedenken, auch seine Doktorarbeit, in der es gar nicht um Dichtung ging, außerhalb akademischer Gepflogenheiten zu Gehör zu bringen. Dieser Absicht diente die Übersetzung des Manuskriptes «Ius Publicum Norimbergense» ins Deutsche («Abhandlung vom Nürnbergischen Bürgerrecht, 1784»), welche zusammen mit dem Ausgangstext ebenfalls bei den vorhin erwähnten Schriften im Archiv liegt. „Auch ich wollte populär schreiben.“ erklärt Colmar im Vorwort auf Seite 3. Das heißt wohl, daß er seine rechtsgeschichtlichen Erkenntnisse für wert hielt, zur Erhöhung des Selbstbewußtseins seiner Nürnberger Zeitgenossen verbreitet zu werden. Später scheint er zu bestimmten Gelegenheiten auch Verse gemacht zu haben; jedenfalls überliefert sein Biograph einzelne, nicht sehr bemerkenswerte Beispiele. In dem Spruch zu der von ihm gewählten Blume (die Zitronenblüte) ermahnt er sich selbst: „Wirst Du Deiner Brüder wegen auf die Rechte merken,/ o dann fällt die Blüte nicht vergeblich ab.” Die Innerlichkeit soll sich zum Nutzen der Allgemeinheit nach außen kehren. Dies entspricht noch dem Übergang vom empfindsamen Individuum zum Citoyen.


Einen umgekehrten Verlauf nahm die Schriftstellerei bei Johann Gottfried Pahl (s.o.). „Anfänglich bewegte er sich mit Vorliebe und nicht ohne Glück in der romantischen Literatur; wiewohl aber seine ziemlich zahlreichen Schöpfungen auf diesem Felde, z. B. Hillmars Geständnisse vom Lande, die Philosophen aus dem Uranus etc. selbst bei Wieland und von Wessenberg eine ausgezeichnete Anerkennung gefunden hatten, so trieb ihn doch bald der Stern der Tagesbegebenheiten auf das historische und politische Gebiet hin […] Materialien zur Geschichte des Krieges in Schwaben, 1797. Geschichte des französischen Revolutionskrieges, 3 Bde. 1799-1801. […] Eduards Wiedergeburt oder die Entwicklung des religiösen Lebens, 2 Bde. 1811. […] Politische Lektionen für die Deutschen des 19ten Jahrhunderts, 1820.” Nach der Revolutionsära und der napoleonischen Zeit nimmt man eine Bestandsaufnahme seiner frühzeitig durch mancherlei Turbulenzen errungenen Erfahrungsweisheit vor und glaubt, den Grund für den ganzen Rest des neuen Jahrhunderts legen zu können, eine Erneuerung des religiösen Lebens eingeschlossen.


Georg Versemeyer, ein weiterer Schwabe (s.o.), war auf das 16. Jahrhundert spezialisiert und teilte bei seinen Aufenthalten in Nürnberg auf Ordensversammlungen daraus mit. Er befaßte sich auch mit Sprachgeschichte, wenn er etwa im April 1807 über den Dürer-Zeitgenossen Ulrich Varnbühler urteilte, dieser habe, indem er Erasmus übersetzte, trotz seines harten und manchmal schwer verständlichen Ausdrucks im Vergleich zu anderen Prosaisten seiner Zeit die deutsche Sprache nicht schlecht geschrieben und dadurch gefördert. Weitere Studien Versemeyers betreffen Petrarcas «Griseldis» (vorgelesen 15. August 1808); «Über ein paar seltene Ausgaben von zwey Schriften Luthers» (vorgetragen am 8. Mai 1809); «Hieronymus Ziegler, ein Bairischer Gelehrter des 16. Jahrhunderts.» Hieran fällt auf, daß der scheinbare Rückzug in die Studierstube zu einem Ausgreifen in Themenbereiche geführt hat, die vorher kaum gleichgewichtig nebeneinander bearbeitet worden waren: Öffentlicher Sprachgebrauch und Dichtung, fränkische und bayerische Vergangenheit, protestantische und katholische Kultur. Die Vereinigungstendenzen des neuen bayerischen Königreiches bilden sich indirekt ab. Versemeyer ist als ehemals reichsstädtischer Ulmer den Hauptumbrüchen dieser Tage in gleicher Weise ausgesetzt wie seine Ordensgenossen in Nürnberg.


Den Klassizismus in der Literaturkritik vertritt im Blumenorden unter anderen der Schriftführer Nikolaus Adam Heiden (s.o.), und es ist zum mindesten kurios zu nennen, wie er noch 1809 bei der Abgrenzung vom längst überholten „Sturm und Drang” gleich auch die Dichtung aus der Frühzeit des Ordens abqualifiziert, noch frühere, “altdeutsche”  Dichtung aber, dem zwischen Griechenverehrung und Mittelalterschwärmerei schwankenden Zeitgeschmack huldigend, gerade aus ihrer scheinbaren Nähe zum Ursprung aller Kultur Hochschätzung angedeihen läßt: „Unsere Kraftmänner des letzten Viertels des vorigen Jahrhunderts waren gar keine Verächter der Alten; sie zürnten nur mit der abgezirkelten Theorie des Vaters Aristoteles und mit den darauf gebauten, mühsam zu befolgenden Grundsätzen des feinen Kritikers Batteux. Aber auch diese beyden Theoristen rächten sich so nachdrücklich an ihnen, daß ihr wilder Lärm nun schon seit geraumer Zeit schweigt, und daß man bereits ihre Werke neben den Produkten eines Filip von Zesen, Sigmund von Birken und ähnlicher Schriftsteller ruhig schlummern sieht. Ohne Kenntniß auswärtiger Muster und vorzüglich der Alten, kann kein wahrer Künstler und kein wahrer Dichter gebildet werden. Selbst Hanns Sachs, der Volkssänger, wäre ohne dergleichen Lektüre, — wozu ihm freylich nur Übersetzungen, so gut sie damals zu haben waren, dienen mußten, — das nicht geworden, was er war.”


So zog sich also, wie das Nebeneinander offizieller Baustile in neugotischen und griechischen Formen in Musterbüchern Leo von Klenzes, das entsprechende neubairische Literaturinteresse schon früh durch die Sitzungen des Blumenordens. Bis in die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts lesen sich die Sitzungsprotokolle wie Anschauungsmaterial zu der im Frühjahr 2006 eröffneten Nürnberger Ausstellung „200 Jahre Franken in Bayern”:


Geschehen Nürnberg im Gasthof zum weißen Schwan. Montags den 7. May, 1821.

[…] Hierauf wurde

I.) durch den Herrn Präses des schätzbaren Geschenkes ruhmvoll und dankbar erwähnt, welches Herr Marktsvorsteher Frank der Ordens-Bibliothek mit dem von Herrn Rath Becker zu Gotha herausgegebenen schönen Werk: „Hanns Sachs im Gewande seiner Zeit“ gemacht hat […]

V.) Von Herrn Diakonus Wilder wurde ein Schreiben des verewigten Herrn Architekts Baron von Haller [des sogenannten „Griechen-Haller”] an dessen Bruder Herrn Major von Haller in Königsberg, über des Ersteren Reise in Griechenland, vorgelesen.

VI.) Herr Ministerialrath Roth las einige bisher ungedruckte Briefe des bekannten verstorbenen Schriftstellers Hamann ab, welche demnächst im Druck erscheinen sollen.” —

Geschehen Nürnberg im Gasthof zum weißen Schwan. Montags den 12. November, 1821.

[…]

II.) […] dankbare Erwähnung der Geschenke, welche der Ordens-Bibliothek

1) von Herrn Pfarrer Michahelles mit dem von ihm verfaßten Auszug aus der vaterländischen Geschichte von Baiern,

2) von Herrn Dr. Wolf mit dem 10den Heft des II. Bandes der Abbildungen und Beschreibungen merkwürdiger naturwissenschaftlicher Gegenstände gemacht worden sind. [… die vorigen hat er auch schon nach und nach sowie sämtlich, wie früher Panzer seine typographischen Schriften, dem Orden eingereicht.]

 

III.) Verschaffte der verehrungswürdige Veteran unserer vaterländischen Literatur Herr Graf von Soden den anwesenden Ordens-Mitgliedern [22 Personen] eine höchst angenehme und interessante Unterhaltung, durch die Ablesung einiger Stücke aus einer noch ungedruckten Geschichte des bekannten fränkischen Ritters Götz von Berlichingen, so wie durch die Fortsetzung der bey einer der vorigen Versammlungen bereits zu lesen angefangenen humoristischen Erzählung: „Reise in Kakokampo“.


Wie schrieben diese Leute, wenn sie selber dichteten?




Casualdichtungen


Unter den zahlreichen Gratulationsschriften und -gedichten zu Panzers 50jährigem Amtsjubiläum fällt ein Druck auf, dem leider die Musiknoten fehlen. Die erste Kantate umfaßt einen Chor auf 12 vierhebige Zeilen, dann ein Rezitativ von 28 madrigalischen, also gemischtmetrischen Zeilen, dann einen Chor auf zwei Textzeilen, eine Arie auf 7 Verszeilen und schließlich einen Chor auf 8 Verszeilen. Die zweite Kantate umfaßt einen Chor auf 5 Verse, ein Rezitativ auf 10, ein Duett auf 8, ein Rezitativ auf 13 und schließlich einen Chor auf die Worte:


Wir enden unter Preiß und Dank

Nun froh den heiligen Gesang!

Von ihm, dem Vater aller Güte,

Fleh'n wir noch Segen, Schutz und Friede!

Heil uns! Sein Auge wacht!

In allen Landen macht

Er herrlich seinen großen Namen!

Hallelujah, Amen!


Diesem locker-madrigalesken Strophenbau, den man sich nach der Art von Haydns Oratorien vertont denken darf, kontrastiert die mit bewundernswerter Kunstfertigkeit durchgehaltene Strophenform einer gereimten Biographie des Jubilars, verfaßt von seiner Ehefrau. Diese vormalige Jungfer Jantke (s. Erstes Buch S. 171) kannte gute Muster und hatte sich die temperierte Empfindsamkeit der 1760er Jahre bewahrt:


Theuerer Gefährte meines Lebens,

Der Du meine Liebe zu Dir kennst,

Und durch des Jahrhunderts lezte Hälfte

Mich schon Deine treue Gattin nennst,

Schließe Du auf die Gefühle, die im Innern

Mich erfüllen, da mit seltnem Glücke

Ich Dir in's Auge blicke.


[...] 


Gern zog ich Dir nach zu Deinen Bergen,

Zu der Flur, die einsam uns umschloß

Und zur kleinen Quelle, welche stille

Durch das tief versteckte Dörfchen floß.

Doch beim ersten Einzug in dem engen Thale

Schrekte die Bestürzung uns zum erstenmale,

Als die Flamme, deren Wuth nichts wehrte

Am armen Dörfchen zehrte.


 

Unsre kleine Wohnung war gerettet

Und wir zogen thränend zu ihr ein,

Denn nicht nur der armen Dorfbewohner

Kummer lud das Herz zur Trauer ein;

Auch ein lieber Freund, benachbart unserm Herzen,

Wie dem Kirchensprengel stund mit tiefen Schmerzen

Und beweinte bald darauf mit Trauern

Den Schutt von seinen Mauern.


[...]


O daß alle, alle nicht von denen,

Die ich Dir gebahr, den Tag gesehn --

Nicht der Lezte, für den stille Thränen

Noch im Mutter-Auge zitternd stehn! --

Doch der Vorhang falle vor der Szene nieder

Den [!] wir finden Alle froh uns einstens wieder

Und am grossen, ew'gen Jubeltage

Verhallt auch diese Klage.


Panzers Tod als Anlaß dieser Verse gibt Gelegenheit, auch hier einmal einen Blick auf sein ungewöhnlich ertragreiches Forschen zu tun. Sein Sohn Friedrich Heinrich Panzer war mit der Abfassung der Biographie für das Ordensarchiv beauftragt worden und gibt unter anderem folgendes bekannt:


"In den ersten freien Stunden seines Amtes, als er noch seiner Ezelwanger Gemeinde vorstand, erlernte er, gereizt von dem Geiste der Britten, ganz ohne Lehrer, die englische Sprache, in eben diesem Zeitraume die italienische. Mit diesem schönen Geschäfte verband er das Studium der Numismatik, goß sich mit eigener Hand schöne Abdrücke, und legte so bald ein, für einen Privatmann sehr artiges Kabinet an.


Zu Nürnberg [...] war das Studium der Litteratur sein Hauptgeschäfte, mit ihm verband er einen steten Fleis, mit welchem er als Uebersetzer mehrerer Werke aus verschiedenen Sprachen auftrat.


Bald sah er sich dadurch reicher an Mitteln, um leichter, das heißt, von einer eigenen, schönen, in der Folge an Anzahl und Werth gleich großen Büchersammlung umgeben, arbeiten zu können.


Unbemerkt und ohne Geräusch stand so seine trefliche Bibelsammlung da [...]


Carl Eugen, Würtembergs Fürst übernahm sie, nachdem er persönlich vorher den fleisigen Sammler besuchte, käuflich [...] Dort, wo einst die schöne Bibelsammlung stand, sah man nun eine beträchtliche Menge der seltensten Produkte des ältesten typographischen Kunstfleises." (S. 15 f.) Aus dieser Sammlung erwuchs sein Hauptwerk:


„[...,] So siehet man z. B. mit wahrer Achtung [...] die Typen-Formen aller Städte und Orte jenes ersten Zeitalters von ihm durch feines Wachspapier, mit kraftvollem Fleise gezeichnet. [...] An dieses schöne Werk schliesen sich, in Hinsicht desselben, zwey nicht minder wichtige an, seine Buchdrucker-Geschichte Nürnbergs, und seine wichtigen Annalen der ältern deutschen Litteratur, von welchen der zweyte Band sein litterarischer Schwanengesang war. [...]


Welch thätigen Antheil er an gelehrten Zeitschriften nahm, mit welchem Fleis er hier arbeitete, haben die verdienstvollen Redakteurs, wie das lesende gelehrte Publikum, immer mit dem wärmsten Dank anerkannt. Er arbeitete von dem ersten glücklichen Entstehen der allgemeinen Litteratur-Zeitung fleisig an ihrer Vollkommenheit, bis am Abende seiner Tage. [...]"





Fleißige Kunstübung



Am 2. November 1801 wurde der aus Ilanz in Graubünden stammende und in Erlangen wohnhafte Dr. jur. et phil. Karl August Wilhelmi in den Blumenorden aufgenommen, zunächst als auswärtiges Mitglied; später zog er nach Nürnberg um und wurde ordentliches Mitglied, als welches er im Frühjahr 1823 Todes verblich. Sein Ordensname war Alexis, seine Blume das Veilchen. Ganz in dieser bescheidenen Art beschreibt er, nicht ohne zutreffende Selbsteinschätzung, sein Dichten in einer Anrede an den Orden:

 

Verzeyhe, wenn ein ungeübter Dichter,

Ein bloßer Reimer, sich Dir schüchtern naht,

Wenn er nur Deine Weisheit sich zum Richter

Der Mängel seines schwachen Lieds erbat;

 

Verzeyhe ihm, wenn er mit matten Oden

Vor Deinen Geist zu treten sich ermißt;

Du weißt ja wohl, aus welchem dürren Boden

Die Muse seines Lands entsproßen ist!

 

Der Verfasser spricht in dieser letzten Zeile vom Land seiner Herkunft, doch nichts weist auf landschaftliche Besonderheit hin. Er bewegt sich im geläufigen Sprach- und Formenschatz aller derartiger Reimer seiner Zeit und hat es darin zu einer gewissen Fertigkeit gebracht. So richtet er "An den Herrn Marktsvorsteher Merkel, bey seinem Geburtstage." vier extemporierte Strophen, die mit dem Vermerk versehen sind: "NB. Der Verfaßer erfuhr diesen erst, als er ins Zimmer trat, und die übrigen Gäste gratuliren hörte." (Paul Wolfgang Merkel, dessen Sohn Johann als erster jener bedeutenden Kaufmannsfamilie in den Orden aufgenommen wurde, war zur ärmsten Zeit Nürnbergs einer der reichsten Bürger und erwarb sich große und bleibende Verdienste u.a. durch Ankauf von bedeutenden Kunstwerken, die beim Übergang der Stadt an Bayern sonst wegen ihres hohen Materialwertes einfach verschrottet worden wären.) Zu einem anderen Anlaß bedichtet Wilhelmi einen flötespielenden Grafen von Rechtern in Worten, die es bedauerlich erscheinen lassen, daß man das Jahr der Abfassung nicht kennt (es muß freilich vor 1823 liegen):

 

Daß Du nicht so, wie andre Grafen,

Auf stolzerhabnen Zinnen thronst,

Und, ohne Söldner, ohne Sclaven,

Ein Vater unter Kindern, wohnst;

 

Daß, sonder Prunk und sonder Gitter,

Du still, wie Preußens Friedrich, lebst,

Und nicht, wie manche teutsche Ritter,

In unbezahltem Glanze schwebst;

 

Daß Dein Plutarch mit seinen Helden

Weit näher Deinem Herzen liegt,

Als was die Stadtchroniken melden,

Wenn Lüge über Wahrheit siegt;

 

Daß Du in süßen Flötentönen

Den Gästen Deines Hauses bist,

Was Vatermilde Deinen Söhnen

Und Deinen frommen Töchtern ist:

 

Das ist kein Lob, das unter Bücken

Dir einer unterthänigst bringt,

Ein Lob, das mit geradem Rücken

Dir ein Republikaner singt!

 

Nach 1817, der Zeit der "Demagogen"-Gesetze, hätte sich der Verfasser der Gesinnung seines Adressaten schon sehr sicher sein müssen, um damit nicht in Schwierigkeiten zu geraten. Mitten in den Freiheitskriegen war so etwas schon eher denkbar. Autoren, die nicht zur ersten und wahrscheinlich auch nicht zur zweiten Garnitur gehören, lassen ja oft mit besonderer Deutlichkeit den Zeitgeist erkennen, samt seinen veranlaßten oder erzwungenen Schwankungen. In dieser Weise erkennt man aus einem weiteren Gedicht Wilhelmis das entwickelte Besitzdenken an einer unwillkürlichen Analogie der Freundschaft mit einer Ware, die noch dazu zwei Seiten hat, eine angenehme und eine schädliche:

 

Verzeyh' dem Freunde, der an diesem Tage

Dir keine beßre Gabe reichen kann,

Als ein Product, das zu der Menschheit Plage

Ein Britte in Jamaica ersann!

 

So süß es ist, so ist es doch nicht süßer,

Denn Deiner Freundschaft köstlicher Genuß,

Und sein Ertrag ist England nicht gewißer,

Als daß, wer Schlezen kennt, ihn lieben muß.

 

Wahrscheinlich hat er Jamaica wie "Scha-ma-i-ka" ausgesprochen. Das betreffende Produkt war ein Zuckerhut. "Der Menschheit Plage" dürfte kaum die Karies sein; vielleicht zählen dem aufrechten Republikaner die Plantagensklaven auch zur Menschheit. Das würde gut zu seinem Hinweis  auf Rousseau passen, den er in dem achtstrophigen Gedicht "An die Erziehung." in der letzten Strophe gibt:

 

Du hast durch Wieland uns gesungen,

Durch Roußeau hast uns Du bekehrt;

Und ist dies Loblied mir gelungen,

So hast es Du nur mich gelehrt!

 

Vor Wilhelmis Vierzeilern (und ihrer beliebigen Vermehrung) war wohl kein Gastgeber sicher. So richtet er 43 Strophen dieser Art an eine Familie Schmidt zu Burgbernheim, mit dem Vermerk: "Der Verfaßer hatte ihr die alte Geschichte, von der Eroberung Trojas bis zu den Zeiten des Horaz, vorgetragen, und wollte ihr in folgendem Neujahrsgedicht einen kleinen Überblick des durchgemachten Pensums zurücklaßen."


Nicht auszudenken — oder vielmehr: nur zu gut! —, was die Folge gewesen wäre, hätte Friederike Kempner auch noch Wilhelmis Gelehrsamkeit gehabt. Wer wollte nach diesen Beispielen abstreiten, daß eine ungebrochene Tradition des Gutgemeinten, leider zwischen Primitivität und ernsthafter Erhabenheit im ungewollt Lächerlichen Steckengebliebenen über das ganze 19. Jahrhundert reicht. Zur Bestimmung einer weggelassenen Datierung könnten allein inhaltliche Gesichtpunkte hergenommen werden.





Deutlichere Anlehnung an die Klassik



Wenige Wochen nach Schillers Tod verfaßt Diaconus Seidel, der spätere Präses, einen Hochzeitsglückwunsch als formale Parodie auf dessen „Drei Worte nenn’ ich euch inhaltsschwer”:

 

Es sind zwei Blumen von zarter Hand

Gepflanzet ins irdische Eden.

Sie sind den Guten nur ächt bekannt

Ihr Duft erquiket nicht jeden.

Und wo sich ein Ungeweihter naht,

Da welkt vergiftet die köstliche Saat. [usw.]

 

Die Füllungsfreiheit der Verse ist geschickt imitiert und bringt die Sprache zum Schwingen; Schillers oftmals recht üppiger Gebrauch konventioneller Epitheta zur moralischen Bewertung begegnet auch hier.


In der Trauerfeier, welche die Pegnesen ihrem verstorbenen Präses Panzer den folgenden August veranstalteten, las Kiefhaber etwas ab, was anscheinend als Ode in freien Rhythmen gedacht war. Ordnet man den Text nicht in willkürlich abgebrochenen Zeilen, sondern als Fließtext an, bleibt von einer rhythmischen Wirkung nichts übrig, so willkürlich ist die Anordnung — es sei denn, sprecherische Einteilung von Sinnschritten werde hier zur bequemeren Reproduktion über die Zeilenenden vermittelt. Freilich ist, schon wegen der zahlreichen Ausrufe, unverkennbar, daß beabsichtigt war, etwas Erhabenes zu schaffen. Nur entspricht dem keineswegs die blanke Aufzählung wissenschaftlicher Errungenschaften einer sehr prosaischen Art, und auch nicht die Wortwahl an anderen Stellen:

 

So ging, o Freunde! auch Panzer den Weg,

Den einst Mattaire und Denis,

Und Riederer und Strobel gingen! —

Er ging ihn und folge ienen allen,

Denen er innig oft dankte,

Wo sie auf der Bahn des Forschens ihm vorleuchteten! —

In welch Staunen würden Mattaire und Denis gerathen,

Wenn sie sehen, hören und lesen koennten,

Wie viel ihr Fleiß, dem Fleiße Panzers noch übriglies;

Wie sehr würden sie wundern mit welcher Sorge

Und Pünktlichkeit Panzer nicht nur

Da fortfuhr, wo sie stille standen —;

Sondern wie oft er sie beßerte, mehrte, berichtigte!

Und Riederer, der tief eindrang

In das Studium der kirchlichen wie der Bibelgeschichte,

Würde nicht minder staunen über die Menge der Schriften,

Welche seiner Forschung verborgen blieb! — […]

War es nicht Panzer, dessen Fleiß

Mehrere Punkte der Bibelgeschichte

Näher und bestimmter untersuchte,

Genauer sie prüfte, als vor ihm nie geschah!

War nicht er es, der bey seinen rühmlichen Forschungen

Immer etwas Neues zu entdecken wußte! —

War nicht er es, der einen langen litterarischen Streit

Über die Urschrift des augsburgischen Bekenntnißes

Eben so rühmlich, als glücklich beendigte!—

Und dieser Forscher litterarischer Schätze

War unser! — War uns Führer und Freund!

Seiner Leitung danken wir siebzehn Jahre lang schon,

Den veredelten Zweck unsers ergrauten Bundes!

[…]

 

Eine würdige Trauerrede, gewiß; aber als Poesie völlig verunglückt. Darin erweist sich der Bürgerklassizismus, der vermeint, durch formale Nachahmung des Neuesten zu Zwecken der ewig alten Gelegenheitsdichtung auch an dem Hohen Stil der Chöre aus Schillers «Braut von Messina» teilzuhaben, als ebenso steril wie die in Reinweiß und Marmor die Griechen nachahmende Plastik der Canova und Thorvaldsen, die aussieht wie aus Seife geschnitten.


Geschickter schon im Treffen des Tones — von einzelnen Ausrutschern wird noch die Rede sein — und jedenfalls im tüchtig erdachten Gehalt der Schillerschen Gedankenlyrik nah, präsentieren sich Seidels Langstrophen auf das Neujahr 1808 (Anlässe, auch dem durchschnittlichen Freizeitdichter Stoff zu tiefernster Behandlung und ehrlich durchlittener Gedankenarbeit zu geben, boten die  politisch-militärischen Ereignisse jener Jahre genug):


Sieh, die lezte Furche ist gezogen

In dem neusten Felde der Vergangenheit,

Und mein Geist hat stille es erwogen,

Was Erinnrung aneinander reiht.

Auf dem neuen Pfad im Labyrinthe,

Das das Leben um den Menschen flicht

Streift Vergangenheit die Zauberbinde

Unsrer Gegenwart vom Angesicht.

Was wir auf die Erde ausgesäet

Für die Erndte der Vergänglichkeit

Hat der Sturm der Erde weggemähet,

Bessre Saat blüht für die Ewigkeit.

Die Vergangenheit beut uns den Spiegel,

Wo der Mensch hin in die Menschheit blickt,

Wo Erfahrung ihm der Wahrheit Siegel

Auf die Welt und seine Stirne drückt.

Der Geschichte Strom rauscht mir vorüber,

Staunend schau ich in den Wogenbruch,

der durch seine Wellen uns herüber

An der Gegenwart Gestaate trug.

 

Zieht vorüber, ihr Heroen alle,

Die der Vorwelt Genius gebahr,

In des blutbesprizten Tempels Halle,

Mit dem stolzen Lorbeer um das Haar.

Wandelt hin, ihr Millionen Schatten,

Die der Krieg in Charons Nachen stieß,

Seit die Erde ihre grünen Matten,

Von dem ersten Bruderblute tränken ließ.

Heilig sind mir Eure Todtenhügel,

Wenn das Vaterland zum Streit euch rief.

O! da wehten sanfter Geister Flügel,

Wo ein Held für’s Vaterland entschlief.

Laßt zum Himmel Mausoleen streben,

Stein sind sie, von Steinen aufgestellt.

Bei Termopylä und Lützen sanken Leben

Und kein Marmor predigt es der Welt.

 

Weggekehrt von jenen Blutgerüsten,

Wo das Schwerdt durch edle Herzen drang,

Abgewandt von menschenleeren Wüsten,

Wo die Kriegstrommette schmetternd klang.

Vor dem Aug die Hand beim hellen Brande,

Der um einen Huß die Lohe schlug,

Und von aller jener Schmach und Schande,

Wo die Menschheit sich zu Grabe trug;

Laßt es mich vergessen, daß es um die Wette

Alexanders, Sullas und Neronen gab,

Und senkt Hermandad und Banndekrete

In des Lethe tiefes Flutengrab.

 

Laßt mich Euch umfassen, große Geister,

Die das Reich der Wahrheit angebaut,

Denen Er, der ew’ge Herr und Meister

Seiner Weisheit Lehren anvertraut.

Von Sinai, den die Wolk’ umfeuchtet

Bis zum Kreuz im stillen Abendschein,

Bis zum Letzten, dem die Wahrheit leuchtet,

Gehen sie zum hohen Himmel ein.

Laßt mich Euch umfassen, die zum Segen

Unsre Zeit in ihrem Sturm erhält,

Ihr, von denen keines von den Wegen

Hoher Pflicht zur Furcht hernieder fällt.

Denen, wie es auch von Aussen brauset,

Doch das Herz den Friedensgruß ertheilt;

Wo die alte Redlichkeit noch hauset

Und die deutsche Biederkeit verweilt.

 

Mich an solche Edle anzuschließen

Sey der Zukunft sicherer Gewinn,

Mag ich es dann gleichwohl gar nicht wissen,

Ob ich lang auf dieser Erde  bin.

Laßt und Gutes thun und nicht ermüden,

Bis der lezte Lebensakt erscheint,

Und uns freuen, wenn zum innern Frieden

Uns das wahrhaft Göttliche vereint. G.E.F. Seidel, Diac. Aegyd.

 

Was ist nun an einem so hehren Gedicht zu beanstanden? Man lausche noch einmal den Worten nach: „[…] Mag ich es dann gleichwohl gar nicht wissen, / Ob ich lang auf dieser Erde bin. / Laßt uns Gutes thun und nicht ermüden, / Bis der lezte Lebensakt erscheint, […]” Es sind die silbische Kurzatmigkeit und werktagspredigerhafte Wortwahl, die ihn an dieser Stelle leider aus der angenommenen Rolle des Weltweisen fallen lassen. Andererseits ist epigrammatischer, bester Schiller-Stil: „Bei Termopylä und Lützen sanken Leben/ Und kein Marmor predigt es der Welt.”

 



Humoristisches



Daß Seidel auch anders schreiben konnte, und zwar gar nicht ungeschickt, bezeugt sein Biograph: „Aber auch im Komischen und Scherzhaften bewegte sich Seidels Muse mit gefälliger Leichtigkeit. Zum Beweise dafür mögen die Gedichte dienen, welche er einem armen Colporteur jährlich zu seinen Neujahrsbesuchen fertigte […]” Das Komische besteht bei diesem caritativen Eingehen auf einen armen Teufel nicht in Verlachkomik, und das Scherzhafte nicht in irgendeinem Hintersinn. Vielmehr geht Seidels soziales Gewissen mit der in seiner Jugend aufgenommenen Empfindsamkeit vor dem Hintergrund einer grimmig ernsten Zeit eine Verbindung ein, die man auch bei Jean Paul findet und in dem Sinne humoristisch nennen könnte, daß man, statt über die Zustände zu weinen, den armen Menschen gelten läßt, ja sogar als Subjekt ernstnimmt, und die komische Unangemessenheit des Tons als Hinweis auf die Würde auch des elendesten Menschen und auf die Lichtblicke seiner Existenz einsetzt. Für eine solche Sicht auf die Dinge muß man sich in einen bestimmten Gemütszustand versetzen können, eben den Humor. Davon daß man „trotzdem lacht“, kann hier nicht einmal die Rede sein; gerade zu einem wehmütigen Lächeln wird es reichen.

 

Ein kleines Gedicht mit einem langen Titel

zum

neuen Jahre 1807,

 

worinnen Topp seinen Kunstfleiß, seine Wichtigkeit, seine Selbstständigkeit und seinen Nothstand darthut, und zuletzt mit einem Wunsch schließet, bei welchem Seine Gönner nicht weniger als er selbst interessirt sind.

 

Zwar bin ich nicht im Krieg gewesen,

Und dennoch ein geschlagner Mann.

Man sieht es mit gesunden Augen

Mir schon von Weitem deutlich an.

 

Wie eine Fahne flackernd wehet

An ihrem dürren, morschen Stab,

So hängt von meinem dürren Leibe

Der Rock gar malerisch herab.

 

Die Kunst und Wissenschaft geht betteln,

Es ist ja eine harte Zeit.

Warum hab ich den schönen Künsten

Mich unbesonnen doch geweiht?

 

Welch schöne Werke könnt ihr sehen

In meinem wandernden Verlag,

Wo ist ein Noricum gewesen,

Dem ich nicht meine Gunst versprach?

 

Wer wühlt in den Antiquitäten

So unermüdet, als wie ich?

Wo ist ein Colporteur gewesen,

Der mir auch nur von Ferne glich?

 

[…]

 

Noch immer bin ich frei vom Gelde,

Noch immer Sorgen um mich her;

Noch immer fleißig und betriebsam,

Noch immer keinen Kreuzer mehr!

 

So wird’s auch bleiben, wie ich merke,

Doch, daß es also bleiben mag,

Dazu gehören wenig Stücke

Und wenig nur für jeden Tag.

 

Dieß Wenige wollt ich erbitten,

Zum Wenigen tragt etwas bei,

Verehrte Gönner! Daß ich ferner

Mir selber standhaft ähnlich sei.

 

Doch weniger solls auch nicht werden,

Sonst gränzt es völlig an das Nichts,

Das Glas geht freilich lang zum Wasser;

Doch endlich — währts zu lang — so brichts.

 

Was wäre dann mein Fall — ich bitte,

Laßt diesen Jammer noch nicht zu.

Das Publikum ist zu bedauern,

Geht einst der gute Topp zur Ruh.

 

Ich hoffe freilich und ich wünsche,

In einem Jahr noch da zu seyn,

Um eures Glücks, verehrte Gönner!

Mich dann recht inniglich zu freuen.

 

Neujahrsgedichte waren als Einzelblätter seit geraumer Zeit im Schwang gewesen, und Originale wie „Topp“ hatten von Tür zu Tür mit derartigen Produkten ein paar Kreuzer geheischt. Manche davon waren, um die soziale Stellung des Bittstellers humoristisch auszunutzen, im Nürnberger Dialekt abgefaßt, und davon schreibt sich die Mundartdichtung her. Der erste Mundartdichter von Belang war freilich Johann Conrad Grübel.





Grübel, der Volksdichter


Die Umsetzung gesprochener Rede ins Schriftliche war das Hauptproblem, zumal bei einem Dialekt, dessen Lautung von derjenigen der hochdeutschen Schriftsprache so fürchterlich abweicht, dass ein heutiges Mitglied des Blumenordens, Günter Stössel, mithilfe englischer Wörter, die er dem Lexikon entnimmt, große Mengen von nürnbergischen Ausdrücken so transkribieren kann, daß man einen Engländer dazu bringen kann, nürnbergisch zu reden, ohne daß er verstehen muß, was er sagt. (Der komische Effekt ist beträchtlich.) Wenn auch das erste von Grübel (oder vielmehr, für Grübel) veröffentlichte Mundartgedicht nicht dasjenige war, das im folgenden abgedruckt ist, so zeigt sich doch an den Streichungen und Änderungen, wie Grübel 1791 darum rang, die Mundart überhaupt aufzeichnen zu können. Interessanterweise stellt er sich selber in dem Gedicht dar (mit einer unbekümmerten Alternativschreibung seines eigenen Namens, als ob er dafür eine Dialektumsetzung nötig hätte), und führt dazu einen anonymen Spaziergänger als Erzähler ein:


Es wörd öiz bald drey Wochen seih,

Dan haut mi a wos gfraid. [gestrichen: gfreut]

Wall i nit oft spazöiren geih, [gestr. göih]

So geih i geren waid.

Öiz kumm i biß af Allmoshuf

Vielleicht wörds heut noh schöih

Su thoust a wöng in Wold dort rum

Und in Örrgarten [gestr. Errgarden] göih.

 

Dan kumm i von der Seiten hih,

Und sieg a wöng dort neih.

Es senn as wöi viel Leut scho drinn,

Dan denki mouß wohs seih.

Sie schloogn Pfähl in d Erden neih

Und binden Wiedel droh

Und su a grouße Jungfera [Anm. Grübels: War Fräulein von Seuter, die damalige Braut des Hn. Schwarz, eines Mitglieds]

Haut a mit bunden oh.

 

Nau aner in an Summer Ruck [War Herr Kriebel, Flaschner und Stadtarmister, der Verfasser dieses Gedichts]

Er is wos von der (Peunt,) Baind,

Der Kerl der haut su nöithi ghatt

Haut gerrbet [gestrichen: göirbet] wöi a Faind. [gestr. Feund]

Haut wöi a Bau Inspekter thou

An Zeddel in der Hendt

Als wenns kan Menschen geben känt

der wos dervoh verstendt.

Nau haut mer endli Gläsla braahcht. [gestr. brâugt, brâucht]

Und su a gmaulte Woâr. [ ^ geht über beide Vokale, gemeint ist wohl å]

Dan hob i denkt, öiz wass is scho

Sie  illmanöiern gôar.

Wenn alles su hübsch brenna täet,

döis mögt wul ohrdli seih.

Öiz bleib i dau und sig dös Ding,

Und göih zum Aynlâus neih.

 

Öiz kumma gânzi Kutschn fuhl,

Und lauder gscheidy Laidt. [gestr. Leit]

Nit özzet su a Kränzles Woâr,

Denn döya senn nitt gschaid.

Dann haut mer fuhl Vertraulichkeit

Gleich trunkn ahn Caffeeh,

A gouta Pfeiff Tabak derzou,

Und su derbey Adeeh!

 

Öiz ohwer [gestr. ohber] kummt a Zwischn Ding,

A Madla bringt an Weih,

Und sakt es kummt ah Herr dan hindt [gestr. wer dan derhint][Herr Felseker, Buchhändler, der ob er gleich kein Gesellschafter oder Mitglied dieses Ordens aus Neugierde an diesem Fest Theil nehmen wolte, und zwey Jgfrn. Lozbekinnen mitbrachte. Anmerkung Grübels.]

Der bringt zwou Jungfern reih.

O Herr! — Dös koh unmügli seih; [Dieß sagte Hr. D. Friederich, ein Mitglied des Ordens, und wieß diese unwillkommenen Gäste damit zurück. Anm.Grübels.]

Gleich Madla nehm die Woâr,

Göih sih und sog: a anders mauhl —

Und öiz dabei is goâr.

 

Und alles hilft nou zamm und baut

A su ahn Templ auf.

Und uben zalleröberst nau

A V und P. noh drauf. [Bedeutet: Vivat Panzer, Herr Schaffer Panzer ist Präses des Ordens. Anm. Grübels]

Dernauch in jedn Bugn suh

A gmaulda Tahfel neih,

Gerlanden und a Kirden rumm,

Könnt alls nitt schöiner seih.

 

Nau haut mer gschwind a V und F [Zeiget an: Vivat Faulwetter, Hr. Cons. Faulwetter ist Consiliarius des Ordens. Anm. Grübels.]

Aff des [gestr. döis] Portâhl nauf gmacht,

Und wöis su gschwind iss druben gweßt,

Dan hobens alli glacht.

Nau hoob i gfrougt; dan sacht mer ahns, [gestr. ahs, aush]

Es mögts der Herr nit leuten; —

drum hobn a etli Herrn a weil [gestr. haut mer]

Su gföihert aff die Saiden. [gestr. Seuten]

 

Öiz kummt a herrliah Musick

Su und von Gartn raaf. [gestr. raf]

Dan haut gleih alls a Fraid droh ghatt,

Und gsackt dös iss reegt [gestr. recht] braaf.

Denn wânn mer reegt verknöigt seih will,

Dan mouß a Muhsick seih.

Es schmeckt des Essen noh su gout,

Und a ah Glösla Weih. —

 

Und endli bricht der Aâbent eih

Dan schrait mer öiz zinnt oh.

Jau wenn dös Ding höit gwärd biss öiz,

I glaab i lachett noh.

Denn alles läfft wos laafen koh

An Waxstuck in der Hennt,

Und wöi a Blizzer hob'n gleih

Finfhundert Kerzla brenntt.

 

Öiz kumma d Bauern Haufenweiss

Und ihri Weiber mid. [gestr. miht]

Dös glaab i; su woos siht mer halt

Aff kahner Körba nid.

Dan ober iss die Tier halt zou —

Wöi kummes denn nou naih?

Si brechn scho a Luug durch d Hekk,

Und schlöifn [gestr. schöifn] hintn naih.

 

Und doch kummt öiz des allerschöinst,

Von allen wos i wahs.

Die Musikkannten in der Mitt —

Und alless schlöißt ahn Crahß.

Dan singgt a Herr ah Aria

Von Gödder Funkn her; [Dieß war die bekannte Arie: Freude schöner Götter Funken etc. Anm. Grübels.]

Und alles ist su still nau gwößt

Alls wenns in Himmel wär.

 

Wöi alles noh recht schöih iss gwößt,

Hassts endli: öiz iss Zeid!

Wir hobn viel Verknöigen ghatt

Allah der Woeg iss weid.

Mer danckt fer gleißta Kumpanih,

Und winschtt si Glikk nôuch Hâuss. —

Die Musikkannten blâussen noh

Biss alles gwößt iss draus.

 

Öiz hobn mi die Bauern a

Afft allerlezt noh gfraid [gestr. gfreud]

Dau stönna zwah, dau sakkt der ah:

Du kohst mers glaâbn Veit!

Soog unser Pfarra hundertmauhl:

Es is in Himmel schöih!

Doch su wöis heind dau gwesen iss

Viel schöiner kohns nitt göih.

 

Nicht nur mit seiner Illumination, sondern mit dem dazugehörigen Gedicht empfahl sich also Grübel den Pegnesen, nicht nur zur großen Illumination von 1794, sondern zu seiner Aufnahme 1808. Es ist ja bekannt, daß Goethe seine im Druck seit 1798 erscheinenden Gedichte wohlwollend rezensierte; weniger bekannt ist, daß Grübel damit auch dem Rheinischen Hausfreund, Johann Peter Hebel, als erster im Sammeldruck erscheinender Mundartautor um fünf Jahre vorausgeht. (Prioritäten von Nürnbergern, auch auf anderen Gebieten, haben sich selten ins allgemeine Bewußtsein geschlichen.)


Grübel war beileibe nicht nur der Verfasser beschaulicher Vignetten aus Natur und Alltag, und es würde sich lohnen, seine tagespolitischen Verse oder auch seine aufs Handwerk bezogenen Versepisteln genauer anzusehen. Da hier bedauerlicherweise nicht der Platz dazu ist, sei als Beispiel für jene erste Untergattung seiner Gelegenheitsgedichte lediglich ein Ausschnitt aus dem «Neujahrsgespräch 1797» angeführt:


[...]

H.

Häit' i ner ka Quatöier g'hat,

Die Steuer gieng' no miet:

Öiz ober häit' i's wärli g'noug,

I wollt', es wäret Fried.

Fr.

Haust röcht, an Fried'n brauchet' mer,

Denn su geiht's nimmer schöi;

Wos Aner Alles sög'n mouß,

Dös kon i nit verstöih.

Wer red't von Anno siebezka,

Von derer Theuering;

Dös is jo ka Vergleich nit g'wöst, —

Öiz is's an anders Ding. [...]

Wenn dau ka Mitt'l troff'n wörd,

Nau waß i niet, wöi's geiht.

H.

Is allawal die Ried scho g'wöst,

Mer macht a Magazie.

Fr.

Dau wörst' awal derfrur'n sei,

Dernau laf' wacker hie.

Denn, wenn's ba uns on Ried'n lög',

Dau macht mer Alles aus,

Und wenn mer glabt, öiz g'schicht's amaul,

So wörd nau doch nix draus.

Mi dauern ner di oarma Leut',

Su wöi mer ani kennt:

Bis dau a Büsch'l wörd verdöint,

Senn wuhl scho zwöi verbrennt. [...]

Fr.

Es is den Summer meih'r g'wöst,

Des uns nit g'fall'n haut;

Franzus'n kröig'n ins Quatöi'r,

Ka Aerbet und ka Braud.

Nau gib'n brav, er will halt wos;

Wou bringt mer's denn nau her?

Häit' gern Mancher wos versetzt,

Wenn meih'r wos dau wär'.

H.

Wallst' grod öiz von Versetz'n red'st,

Dau fällt mer ah wos ei,

Es haut's öiz Ahs derziehlt ba mir,

Daß's g'wieß soll wauh'r sei.

A Moh haut g'sagt zou seiner Frau:

Öiz sog', wos thenn'mer denn?

Wou grob'n mer unser Bißla hie,

Horch, daß mer sicher senn?

Und unsern Kind sei Dut'nschenk? [Patengeschenk]

So bleibt's doch unverletzt.

Öiz sagt die Frau: Grob' nit goar töif, —

Döi Woar is lang versetzt. [...]

H.

Und i hob nu so närrschi Leut'

In meiner Nachberschaft,

Döi ried'n, und waß Kaner nix;

Sie häit'n scho bald g'rafft.

Su hob'n s' selmaul g'striet'n ah

Ba mir dort aff der Gaß;

Haut Aner g'sagt: All' wüßt'r niet,

Wos unser aner waß.

Schreit wider Aner: No, su ried,

Wennst's waßt, — wos wer'n mer denn?

Nit Preußisch und nit Kaiserli:

Mir bleib'n, wöi mer senn.

Fr.

I wollt', der Moh häit' wauh'r g'hat;

Gott göb', daß er nit löigt!

Dös wiss'mer, wos mer hob'n g'hat,

Niet ober, wos mer kröigt. [...]"

 

Derartige Wirksamkeit im lebendigen Ablauf von Dialog, Reflexion, Anekdote, Sentenzen muß man sich auf dem Gebiet der Mundart zu dieser Zeit noch einmal suchen, und das zu Themen, die anderwärts von der Zensur unterdrückt worden wären. Freilich war die Lage zur Erscheinungszeit der Erstausgaben im Druck vorübergehend so verworren, dass man sich nach der Affäre Palm nicht auch noch um wenig verbreitete Mundarttexte kümmern konnte. Auch verstand es Grübel aus alter reichsstädtischer Übung, die bis auf Hans Sachs zurückgeht, aller Kritik mit der Miene der Biedermanns die Schärfe zu nehmen.


Für seine Auseinandersetzung mit den Vorboten neuer Technik ist seine Versepistel über die "Thermolampe" charakteristisch. In dem Buch von Ernst Rebske «Lampen, Laternen, Leuchten. Eine Historie der Beleuchtung» (Franckh'sche Verlangsbuchhandlung Stuttgart, 1962) steht auf S. 30 eine Auskunft über jene Erfindung:


"1799: Philippe Lebon d'Hambersin erhält am 28. September in Paris ein Patent auf eine ,Thermolampe', ein kleines Heimgaswerk. Auf dem Herd des Küchenofens werden Holzstücke entgast und das Gas durch Röhren in die benachbarten Räume geleitet. Erfunden wurde die Apparatur von ihm bereits 1786. In seinem Patentanspruch führt er an, daß sich Steinkohle zur Gasherstellung besser eignet als Holz. Der Leuchtturm zu Le Havre wird mit einer Thermolampe ausgestattet. Im Hôtel Seignelay baut Lebon einen Apparat ein, womit er alle Räume beheizt und beleuchtet. Bonaparte gibt ihm eine Konzession, im Wald von Rouvray eine Fabrik zu bauen. — W. A. Lampadius zeigt am sächsischen Königshof in Dresden, wie das von einer Thermolampe erzeugte Gas zur Beleuchtung verwendet werden kann." Dies ist die Technologie, auf deren Grundlage ein Jahrhundert später all die städtischen Gaswerke funktionieren, auch das in Nürnberg-Sandreuth. Grübel urteilt darüber:

 

"[...] Sie fraug'n dann bey mir

Um ganz wos b'sunders oh,

Es is mer ober lad,

Daß ih niht döina koh.

Und der, der kennt mih niht,

Der Ihnen dös haut g'sagt,

Ih hob mei Lebta noh

Kan Terma-Uf'n g'macht.

Und glab, ih mach ah kan,

Ih trau mirs goar niht zou,

Daß ih su g'scheut soll seyh,

Und su wos mach'n thou.

Ih denk, dös Ding iß schwer,

Ih bild mirs ner su eih,

Wer su wos mach'n will

Sollt scho g'studöiert seyh.

Mer haut wuhl ani g'macht,

Und haut mit vieler Möih,

Su, wöi ih g'häiert hob,

A paar proböiert höi.

Dau hob ih freilih g'labt,

Mer frömt dreyhundert oh,

Iß ober alles öiz

Af amaul still dervoh. [...]

Ih hob kan g'seha ih,

Und noh viel wenger g'macht,

Doch g'les'n hob ihs oft,

Und immer drüber g'lacht.

Ih hob mit Leut'n g'redt,

Döi ani hob'n g'seg'n,

Döi hob'n ober g'sagt,

Daß sie kan hob'n mög'n.

Die Hitz wär niht goar arg,

Doch desto meiher Rauch,

Wers vöier Woch'n treibt,

Verlöihert g'wiß an Aug.

Mit der Beleuchtung droh,

Geihts ober ah niht schnell,

Die Lamp'n brenna wuhl,

Doch ober ah niht hell.

Döi Waar in Uf'n drin,

Daß dös su viel trägt eih,

Von den soll niht amaul

Die Hälft droh wauer seyh. [...]"

 

Was zuerst wie die Bescheidenheit des Handwerkers gegenüber den studierten Wissenschaftlern herauskommt, geht alsbald in handfeste — und genüßlich ausgemalte —, leicht höhnisch gefärbte Einwände eines Praktikers gegen die unausgereiften Prototypen einer Entwicklung über, deren zukünftige Möglichkeiten Grübel freilich nicht erkennt. Seine rhetorische Strategie geht also nicht auf. Mit Vertretern einer herkömmlichen Tüchtigkeit war der Aufschwung Nürnbergs noch nicht zu machen. Grübel sah wohl mit fränkischem Realismus die Schwierigkeiten (Verschmutzung, Absatzschwierigkeiten für die gewonnenen Reststoffe, wenn jeder so eine Lampe hat), aber der Ehrgeiz, mit so etwas experimentell weiterzukommen, ging ihm biedermeierlicherweise ab.


Am 2. Februar 1809 wurde "des Dichters Grübel neuestes Product, ein Lustspiel, unter dem Titel, der unterbrochene Spaziergang, oder das kurze Quartier, welches derselbe dem Orden zum Geschenk machte, vorgelesen." Doch schon wenige Wochen später wurde

"1.) die Frage zur Abstimmung vorgelegt, ob dem indessen verstorbenen Dichter Grübel, ungeachtet derselbe erst vor 1/2 Jahr als Ordens-Mitglied aufgenommen worden seye, und, wegen seiner Krankheit keiner Versamlung beywohnen, auch nichts mehr für den Orden leisten konnte, nicht doch, als einem, im In- und Ausland beliebten Volksdichter, ein Denkmal im Namen des Ordens errichtet werden wollte; wobey Herr Präses noch bemerkte, daß dem Orden in dem Correspondenten von und für Teutschland, bey Erwähnung des Todesfalls des Grübels, mit Unrecht eine Geringschäzung dieses Mitglieds zur Last gelegt worden seye, welche aus dem Umstand hervorgehen solle, daß keine Deputation zu dessen Leichenbegleitung abgeordnet wurde. Nun wäre aber dieses bey dem Orden überhaupt nicht gewöhnlich, und dann seyen doch einige Mitglieder desselben unter den Leichenbegleitern gewesen, am wenigsten aber habe der Orden, oder das Präsidium, einige Nachricht davon, daß Grübels Leiche feierlich begleitet werde, erhalten; und man habe daher jenen Vorwurf nicht verdient. Durch die Mehrheit der Stimmen wurde hierauf beschlossen, dem seeligen Grübel ein Denkmal errichten zu lassen, und den heute abwesenden Herrn D. Osterhausen, welcher mit dem Verstorbenen in Bekanntschaft stunde, und ihn bis an sein Absterben besuchte, um diese Bemühung ersuchen zu lassen, welches Ansuchen zu stellen Herr Dr. Lindner übernommen hat."


Aus irgendeinem Grund kam Osterhausen dem Auftrag nicht nach; wer aber etwas lieferte, war wieder einmal der unermüdliche Kiefhaber:


"[...] Nichts war ihm zu schwer — nichts zu mühsam — nichts war ihm zu kühn! — Er bestieg die höchsten Kirchthürme mit Leichtigkeit und vollendete die gefährlichsten Bedachungen, eben so glücklich als geschmackvoll er manchfaltige ökonomische Artikel von neuester Erfindung verfertigte, und bey feyerlichen Veranlassungen mehrere künstliche Erleuchtungen angab, und ausführte. [...]

[...] Er verglich öfters die Vorwelt mit der Jetztwelt, [...] er beobachtete die Menschen, die Sitten und die Gebräuche und seine Beobachtungen führten ihn auf Resultate, welche er seinen Zeitgenossen, bald komisch, bald ernst, bald in Romanzen, bald in Erzählungen, theils in Gesprächen, theils in Briefen, besonders an seinen trauten Witschel, immer aber in derjenigen Dichtungsart ertheilte, wodurch das Eigenthümliche der Personen, Sitten und Gebräuche, von welchen er zunächst umgeben war, ganz nach der Volkssprache charakterisirt wurde; in welche er seine Dichtungen auf das Gewandteste einzukleiden wußte. [...]

Selbst Göthe und Wieland, — der Stolz und die Krone deutscher Schriftsteller, würdigten Grübel, seine Gedichte in den Litteraturzeitungen ehrenvoll aufzuführen. [...]

Welche genußreiche Tage waren es für ihn, wo die unvergeßliche Hendel, Thaliens und Melpomenens Liebling, ihn ihrer vorzüglichen Auszeichnung würdigte. — Und welche Freude war es Ihm, als die älteste Deutsche Litterarische Gesellschaft, der Nürnbergische Pegnesische Blumenorden ihn, noch kurz vor dem Abend Seines Lebens unter ihre ordentlichen Mitglieder aufnahm! [...]

Nur schade, daß Er in der letzten Periode Seines Lebens auch den Drang der Zeitumstände fühlen mußte, — fühlen, wie sehr der Wohlstand seiner Mitbürger abnahm, der Flor der Handlung und Gewerbe sank; [...]"



Wo bleiben die Romantiker?



Es hat nicht gerade den Anschein, als seien die Schriftsteller Nürnbergs gerade zu der Zeit, als die Stadt von den Romantikern als Muster einer altdeutschen Kunstmetropole entdeckt wurde, selbst besonders romantisch gestimmt gewesen. Sie hatten Sorgen und waren Philister. Allerdings gab es im Blumenorden einen Generationswechsel gegenüber den Progressiven von 1786, als das neue Jahrhundert heraufkam. Und ein Name wenigstens ist zu erwähnen, wenn man nach Erscheinungen sucht, die eine gewisse geistige Gleichzeitigkeit mit der Jenenser Frühromantik, mit den Enthusiasten im Tübinger Stift, mit Novalis beanspruchen könnten.

 

Am 2. August 1801 „gaben des Herrn Präses Hochwürden zu vernehmen, daß sich ein neues Ordens-Mitglied in der Person des Herrn Vikarius Lochners, eines allgemein rühmlich bekannten Gelehrten, um die Aufnahme in den Orden gemeldet, zugleich auch geäußert habe, daß er nächstens, die für Nürnberg interessante Geschichte des Kunz von Kauffingen in Schillerischem Geschmack zu bearbeiten, Willens seye, und sich daher dienliche Beyträge erbitten wolle. […]“  Der „allgemein rühmlich bekannte Gelehrte“, Johann Christoph Philipp Lochner, Periander IV. mit der Schlüsselblume, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht 26 Jahre alt. Den Ruf, der ihm vorausging, hatte er trotz größten Fleißes wohl nicht allein erarbeitet. Immerhin stammte er aus einer Fürther Pfarrerdynastie, die dem Blumenorden bereits vier Mitglieder gestellt hatte, und von dreien davon hatte er Ordensnamen und Blume geerbt, als er am 2. 11. 1801 aufgenommen wurde. Daß er die Geschichte des Raubes zweier sächsischer Prinzen durch den Kohlhaas-ähnlichen Kunz von Kaufungen (1455) im Stile Schillers dramatisieren wollte, kann man wegen des mittelalterlichen Sujets und der unmittelbar vorangegangenen Veröffentlichung des Schillerschen Schauspiels über die «Jungfrau von Orleans» wohl nur so deuten: Lochner hatte sich an dem bildkräftigen und hochherzigen Gemälde einer glänzenden Ritterzeit, am naiv-gläubigen Christentum des späten Mittelalters (als Pfarrvikar!) begeistert und wünschte etwas ähnliches zustande zu bringen. Damit kann er im Einklang mit der Einschätzung, die Schiller selbst, und die Jenenser obendrein, der «Jungfrau von Orleans» als einem romantischen Werk zukommen ließen, wohl ein Romantiker genannt werden.


Im Archiv besitzen wir freilich aus dieser Zeit nur ein Gelegenheitsgedicht Lochners zum Irrhainfest 1801.



Der Schönheit Sterne glänzen

Am Brautschmuck der Natur,

Und Frühlingsreitze kränzen

Die iugendliche Flur.

 

Am Hochaltar der Freude

Schwelgt der entflammte Sinn,

Kommt, opfert festlich heute,

Der Bundeskönigin!

 

Du, die von Gottes-Krone

Herab durchs Weltall strahlt,

An deren Sonnenthrone

Sich die Vollendung mahlt;

 

Laß, Schönheit, deine Blüthen

Um unsern Zirkel wehn,

Laß vest, wie Piramyden

Der Deinen Bildnis stehn!

 

Laß deiner Formen Würde

Uns ewig heilig seyn,

Uns stets der edlen Zierde

Erhabner Eintracht freun!

 

Um unsre Pflichten winde

Sich sanft der Freundschaft Band,

Und unser Schicksal finde

Ein Herz für’s Vaterland!

[…]

Und frische Lebensfülle

Durchströmt der Bürger Brust;

Und in des Friedens Stille

Quillt unsrer Musen Lust;

 

Umschwebt, Gesang und Freude

Der Pegnitz Dichterstrand,

Wo Panzer iüngst im Kleide

Der Iubelwürde stand!

 

Er, der in unsrer Mitte

Am Arm der Liebe geht,

Um dessen Führerschritte

Des Segens Athem weht.

 

Heil Ihm und Heil dem Bunde,

Der uns mit Ihm vereint;

Heil ieder frohen Stunde,

Die unserm Kreis erscheint!

 

Vom Irrhain folgt die Wonne

Der Freundschaft unserm Schritt,

Und wandelt, gleich der Sonne,

Im Lebensirrhain mit!


Auch hier wieder ein schwärmerischer Ton, der sich in einfachem sprachlichen Gewand seinen Ausdruck sucht, den vom Volksliedton nur der von Klopstock ererbte Gebrauch neu zusammengesetzter Hauptwörter und gleichsam handelnder Abstrakta unterscheidet. Lochners Verse wären ein Schmuck für Kommersbücher der damals entstehenden Studentenverbindungen (die Wortfügung „Bundeskönigin” könnte einen diesbezüglich auf Gedanken bringen), doch sind sie wohl besser als das meiste, was sich in derartigen Sammlungen findet. Von Biergemütlichkeit und trotziger Burschennatur ist er weit entfernt.

 




Ein romantischer Roman



Von einer anderen Seite zeigt sich Lochners Talent in der Prosa. Er verfasste zwei Romane: «Das Kreuz im Walde», Nürnberg 1802, und «Die Erscheinung am Hochgericht», Nürnberg 1803. Die Titel lassen auf den ersten Blick vermuten, daß sie zu der damals beliebten Gattung der romantischen Schauerromane gehören. Das Widmungsgedicht zu ersterem schlägt allerdings humoristische Töne an:

 

Meinem Freunde Leganthon gewidmet.

 

An manch' ertztolles Abentheuer,

An vieler Nächte lust'ge Feyer,

An manch Stück a la Theuerdank,

An manchen Scherz und guten Schwank,

Den wir zusammen vor vielen Jahren

Gemacht, gedichtet, erzählt und erfahren,

An wilder Einfäll' Seltsamkeit

Und komischer Streiche Possierlichkeit,

An windiger Geschichten Meng'

Und gräulicher Mähren arges Gedräng',

An eine geheime Monarchie

Auf die kein Mensch sechs Kreutzer lieh,

An eines Bundes furchtbare Macht

Der oft keine Zeche zusammengebracht,

An einen Hof, der unsichtbar

Und an nichts, als an Gläubigern kenntlich war,

An ein Kabinettt, das Wellen befahl,

Und Holz bey Nacht den Philistern stahl,

An einen Staatsrath, der der Völker Gebiet

Im Flinder beym Hopfenblaten entschied,

An den Generalstab, der mit Heeren

Von Kriegern umsprang, wie mit Stachelbeeren,

Den aber in mancher schönen Nacht

Pedell und Philister zum Laufen gebracht,

An eine Kanzley, aus deren Schoos

Ein Strom furchtbarer Befehle floß,

Indeß in ihrem stillen Archiv

Manch' unbekannter Bierconto schlief,

An eine Kassa, worein der Kassier

Verbarg der Rechnungen grämlich Papier,

Das dann zugleich nach der äussern Gestalt

Für Scheine und Noten von Tausenden galt,

An nächtlicher Erscheinungen Grauen,

An Morden u. Schießen u. Stechen u. Hauen,

An Todesurtheil' und geheime Gerichte,

An Sonnambulism' und schwarze Gesichte

An alles, was um Despoten haußt,

Und was um des Mächtigen Thron gebraußt,

Der einst in seinem gewaltigen Schloß —

Bewacht zur Seite vom Bär und vom Roß —

Windkutschen täglich ohne Zahl

Gesandt seinen Brüdern allzumal —

Erinnre Dich, Lieber, dies Büchlein hier,

Zum Denkmal und Schlüssel send ich's Dir.

 

Daraus geht hervor, daß die folgenden erzählerischen Inhalte einer gemeinsamen Phantasietätigkeit junger Leute entstammen, die sich auch nicht anders betragen haben als andere studentische Burschen (korporiert oder nicht); man denkt unwillkürlich an Mörikes Freundeskreis und die Orplid-Phantasien. Nur scheint das hier angesprochene Material robuster, und die Psyche der Erfinder scheint es auch, denn der innere Abstand des Verfassers von solchen Einbildungen der Jugendtage, deren er überlegen lächelnd gedenkt, ist unübersehbar. Er selber scheint jedenfalls der eigentliche Urheber solcher Charaktermaskerade gewesen zu sein und widmet einem Mitspieler das, was er als erwachsener Literat daraus gemacht hat. Aber was ist es geworden?


Ein Erfolgsroman, jedenfalls in Nürnberg! Die Stadtbibliothek bewahrt eine dritte Auflage von 1834: «Johann Philipp Christoph Lochner, Das Kreuz im Walde, oder Geisternächte in Ruinen und Schlössern, Eine sehr abentheuerliche Geschichte, Dritte unveränderte Auflage. Nürnberg, Verlag von Ferdinand v. Ebner. 1834.», zu welcher der Verleger bemerkt: "Der Herausgeber dieses Buches ist schon längst todt, und nur der wirklich nicht uninteressante Inhalt, sowie die immerwährende Nachfrage danach, bewog mich, eine dritte, jedoch ganz unveränderte Ausgabe, den Liebhabern abentheuerlicher Geschichten, davon zu übergeben." Es wäre zu vermuten, daß Ebner, offenbar aus der Nürnberger Patrizierfamilie, der Adressat der Widmung und daher Mitspieler der Gedankenwelt Lochners war und Lochner nach Art der beliebten Fiktion als Herausgeber statt als Verfasser bezeichnet, um den Text zu objektivieren.


Der Roman war bis dahin keine im Blumenorden gepflegte Gattung; in kulturkonservativen Kreisen galt er als subliterarisch. Erst die Romantik, deren Bezeichnung selbst von "roman- bzw. romanzenhaft" abgeleitet ist, verhalf ihm zu höheren literaturtheoretischen Weihen. Es ist hier nicht der Ort, die Geschichte dieses Sinneswandels zum überdrüssigsten Male aufzurollen, doch wollen wir schon wissen, welche Stellung ein in Nürnberg erschienenes Erzeugnis aus dieser Umbruchszeit einnahm. Exkursweise sei daher auf Inhalt und Darstellungsweise in Lochners erstem Roman in der Art eines Leserprotokolls eingegangen. Demgemäß geht es zunächst um eine inhaltliche Zusammenfassung des Beginns, nicht ohne sprachliche Beobachtungen am ersten Absatz:


S. 5: "In einer fürchterlich-schönen Waldgegend des Königreichs Rusalla stand seit mehrern Jahrhunderten auf der Spitze eines felsichten Hügels das Schloß der Herren von Kolling, das in aller Majestät des Alterthums auf eine kleines, seiner Herrschaft unterworfenes Dörfchen am Fuße desselben herabsah. Eine lange Reihe seiner Besitzer hatten entfernt von ihrem väterlichen Gute ihr Leben am Hofe der Rusallischen Monarchen zugebracht, und die Verwaltung der damit verbundenen Rechte und Pflichten ihren Vögten überlassen, die, glücklicher Weise, treu und redlich genug gewesen waren, um wenigstens die erstern beständig geltend zu machen."


Das erste Adjektiv des Romantextes, "fürchterlich-schön", schwankt zwischen der Absicht, Schauer vorzubereiten, und der Ironie gegenüber dieser Art der Darstellung. Der beinahe versteckte Hinweis im letzten Satz, daß die Vögte nicht die Pflichten ihrer Herren gegenüber den Untertanen, aber sehr wohl ihre Rechte ausgeübt hätten, gibt eine sozialkritische Komponente hinzu. Zwischen diesen Polen spannt sich der gesamte Text auf. Übrigens sieht die beschriebene Landschaft aus wie Henfenfeld und viele gleichartige Patriziersitze um Nürnberg. Die Handlung kommt folgendermaßen in Gang:


Der letzte Abkömmling des Geschlechts, Rudolf, kehrt nach einem Leben militärischer Heldentaten auf der Durchreise zu seinem Gut in dem Dorf ein und findet beim Wirt nur sehr elende Unterkunft. Er weiß bisher nicht, daß ihm Dorf und Schloß zugefallen sind, und er will im Schloß übernachten, obwohl ihn der Wirt gewarnt hat, daß es darin spuke.

Der Vogt eröffnet aber dem sehr erstaunten Rudolf, daß er nach dem Tode seines Schwiegervaters auch dieses Schloß geerbt habe. Rudolf aber weiß nichts davon, mit einer Amalia verheiratet zu sein. Er kann sich als Oberst von Kolling ausweisen, der andere müsse also in betrügerischer Absicht seinen Namen angenommen haben.

Die nachfolgenden Diener betreten aus Versehen das falsche Gemach und ziehen sich einen Schrecken zu, von dessen Ursache man zunächst nichts erfährt. Aus einer anderen geheimnisvollen Ursache läßt Rudolf den Vogt als Landesverräter verhaften, als den ihn einer seiner Diener erkannt hat.

Der Diener Konrad kann nicht schlafen und stöbert im Schloß umher. Er findet in einem Raum Umhänge und geladene Pistolen, hält das Schloß daher für ein Räubernest. In einem weiteren Raum hört er hinter Bettvorhängen atmen und zieht diese auseinander. "Nun wünschte ich freylich auf ein paar Minuten Wielands Pinsel zu besitzen, um das Erstaunen zu mahlen, das Konraden vor dem Bette in einer Stellung fesselte, die ohngefähr derienigen glich, in welcher der tapfre Held von Mancha zurückprallte, als er seinen besiegten Gegner, den Spiegelritter, urplötzlich in den Baccalaureus Samson Carrasco verwandelt sah. Statt, wie er wähnte, hier einen von Räubern halb ermordeten Menschen zu finden, erblickte er — ein Mädchen von bezaubernder Schönheit halb angekleidet auf dem Bette in einem, wie ihr ängstliches Stöhnen verriet, unruhigem [sic] Schlummer." (S. 30 f.)

Sie erwacht, er herrscht sie an, wer sie sei, sie antwortet: "Mit einer Miene, wie sie Tomyris auf Cyrus Leichnam warf, blickte die Unbekannte den kühnen Examinator an. ,Wer bist du, Unglücklicher, flieh, wenn dir dein Leben lieb ist.'" (S. 31)

Sie zieht eine Klingel, doch Konrad dringt ins nächste Zimmer vor und streckt mit seinem Säbel einen Kerl, der zu Hilfe eilt, zu Boden. An einem Tisch im Hintergrund sitzt ein schwarzgekleideter Mann, der ungerührt schreibt. Konrad stellt ihn zur Rede, da schlägt es zwölf Uhr, der Schwarze blickt Konrad an, und der sinkt ohnmächtig zu Boden.

Am nächsten Morgen sieht Rudolf vor dem Fenster eine weiße Gestalt, die ihm auf Anruf nicht antwortet, sondern ein Päckchen durchs Fenster wirft. Darin findet er in einer Kapsel Papiere mit unvollständigem Text, den er immerhin für höchst bedeutsam hält, doch weswegen, erfährt man nicht.


Szenenwechsel. Karl von Sternau, Rudolfs Neffe, reitet in derselben Nacht nach Kolling, um seinen Onkel zu bewillkommnen. "Karl liebte den Mondschein, ohne ein Träumer a la Siegwart zu seyn" (S. 39). Er hat seine Tante noch nicht gesehen und sich nur etwas gewundert, daß sie in den Briefen seines Onkel nie erwähnt wurde. "und würde jedem [sic], der ihm die Ereignisse der nächsten zwey Monate vorausgesagt hätte, als einen Wahnwitzigen verlacht haben." (S. 40).

Die beiden Reiter sehen im Mondlicht ein weißes Kreuz am Waldrand. Karl kennt es als "Monument des Alterthums". Dahinter scheint sich etwas Glänzendes zu bewegen, und der Hund schlägt an. Eine Gestalt erhebt sich und wird immer höher, Karl schießt darauf, mit einem Schrei verschwindet die Gestalt, ist aber bei Nachforschung nicht zu finden. Auch keine Spur davon. Der Diener Franz hält sie für ein Gespenst. Eine Viertelstunde entfernt liegen die Tulhamer Ruinen, ein verfallenes Schloß, indem vor zwölf Jahren ein vornehmer Herr spurlos verschwunden ist.


Unterdessen werden in Kolling festliche Anstalten zum Empfang Rudolfs getroffen.

Rudolf forscht nach dem Verbleib Konrads, doch findet nur einen Zettel, auf dem dieser in geheimnisvollen Worten um Entschuldigung für seine Entfernung bittet und in Aussicht stellt, daß sich alles aufklären werde. Daraufhin reitet er nach Kolling, schickt aber seinen Wachtmeister Erhard voraus, daß er beim Pfarrer wegen der angeblichen Heirat vorfühlt. Dieser soll der Amalia schonend von dem Betrug beibringen. Er selber setzt sich in den Mantel verhüllt ins Wirtshaus und bekommt mit, wie er, der den Untertanen unbekannt ist, von allen gelobt wird. Eine Dame, die im Obergeschoß logiert, bittet ihn herauf. Man macht Konversation, solange Rudolfs Kutsche gerichtet wird, und im Abgehen erkundigt er sich nach ihrem Namen. Sie fahre ihrem Gemahl, dem Obersten von Kolling, entgegen. Es ist Amalia.


Nun wird der Auftritt der huldigenden Bauern und des lateinisch perorierenden Schulmeisters grotesk-komisch dazwischengeschoben, und Rudolf kann der Dame nur versichern, sie sei betrogen worden, er werde aber dafür sorgen, daß ihr kein Schaden daraus entstehe. Damit schickt er sie aufs Schloß Kolling voraus. Redner wie Bauern werden wie Dominosteine umgestürzt, als Karl von außen die Tür aufstößt und seinen Onkel begrüßt.


Erhard erfährt unterdessen vom Pfarrer, daß die Ehe Amalias mit dem vorgeblichen Rudolf wahrscheinlich nicht vollzogen worden sei. Er begibt sich auf das Schloß, um Vorkehrungen zum Empfang zu treffen.


Amalia kehrt zurück und verlangt Aufklärung. Der Pfarrer wird gerufen. Er spricht ebenfalls von Betrug und verlangt zu wissen, ob die Ehe vollzogen worden sei. Amalia versteht nicht, warum ihr ein Mann, der von seiner Verheiratung mit ihr nichts weiß, ihr trotzdem brieflich seine Ankunft angekündigt habe. Sie gibt keine bestimmte Auskunft. Briefe Rudolfs und des anderen werden verglichen, und man findet eine geringe Abweichung der Handschrift, aber eine große in der Schreibart.

"Nun folgte eine Erzählung, während welcher ich, wenn ich einen Roman schriebe, Amalien wenigstens Einmal müßte in Ohnmacht fallen lassen. Aber unsere Heldin war standhafter als ieder meiner Leser (und wahrscheinlich auch iede meiner Leserinnen ) erwartete." (S.82.) Der Pfarrer fängt Rudolf ab und rät ihm, Amalie als seine Gemahlin sozusagen zu behalten. Rudolf zieht nicht mit. Er führt eine Aussprache mit Amalie herbei, und sie erzählt ihm erst einmal, wie es zu der Heirat gekommen war. Sie hatte einen Bruder, der aus der Wiege heraus von Räubern gestohlen worden war, und ihre Mutter hatte ihre Geburt nur kurz überlebt. (S. 89)


Die widersprüchlichen Signale, die der Leser bis hierher erhalten hat, lassen sich in einige Fragen auseinanderfalten:

1. Ist das ein Schicksalsroman in der Art der Schicksalsdramen Zacharias Werners? Dessen «Das Kreuz an der Ostsee» erschien zwar erst 1806…

2. Ist es ein Schauerroman (werden die rätselhaften Erscheinungen aufgeklärt oder bleibt ein Rest, der auf ein Geisterreich verweist)? Johann Martin Millers 1776 erschienene Klostergeschichte «Siegwart» ist wirklich schauerlich, wird jedoch (s.o.) als Gegenbild erwähnt.

3. Wie stark sind gegenüber der Tradition solcher Romane die humoristischen oder romantisch-ironischen Züge? Jean Paul gäbe das Muster ab.

4. Woran merkt man, daß der Verfasser Geistlicher ist? Zunächst scheint er ja Wielands erotische Darstellungen nachahmen zu wollen.


Zu 1. finden sich folgende Anhaltspunkte:

Ein schuftiger Amtmann, von den Leuten des Prinzen Albrecht von Nilmi verfolgt, verschwindet unauffindbar eben bei dem Kreuz im Walde. (S. 218)

Aus dem Gespräch zweier Schildwachen, die einen Gefangenen bewachen, geht die Vorgeschichte des Kreuzes im Walde hervor. Die Schwestern des Grafen, dem das Schloß Tulham vor vielen hundert Jahren gehörte, machten ihn eifersüchtig gegen seine Frau, sodaß er sie an dieser Stelle ohne nähere Untersuchung erstach. Als die Intrige herauskam, ließ er seine Schwestern in ein Zimmer einmauern und verhungern und starb selbst bald darauf. (S. 374ff) Eine ähnliche Intrige ist einem jungen Mann auf der Gegenwartsebene der Romanhandlung hinterbracht worden, und er fordert seinen Nebenbuhler zum Duell (S. 386). Der Ort soll das steinerne Kreuz sein. Dieses scheint also der geheimnisumwitterte verfluchte Ort, an dem sich Schicksale zu entscheiden pflegen.


Zu 2. finden sich folgende Anhaltspunkte:

Wilibald [sic] Kraft, der Verwalter von St. Augustin, eines alten, in der Reformation aufgehobenen Klosters, wird bei einem Stöbern in den Tulhamer Ruinen von einem Skelett erschreckt, das ihm zuzuwinken scheint; der hinzukommende Rudolf entdeckt eine Schnur, mit welcher der Armknochen bewegt wurde. (S. 103 f.)

Einige der Rendezvous Karls und Amaliens finden in einer antiken Ritterstube des Schlosses von Kolling statt, in der es auch nicht geheuer sein soll. "Meine Leser mögen aus folgender Scene beurtheilen, ob die Leute Ursache zu diesem Gerede haben mochten." (S. 112) Karl geht nämlich um Mitternacht noch einmal in die Stube zurück, weil er etwas dort liegengelassen hat, und findet sie von vier Männern besetzt, die eine Unterredung haben, darunter sein Lehrer Aldor. Ungesehen wird er Zeuge des Gesprächs. Die vier sind offensichtlich Mitglieder einer Geheimgesellschaft, eines Fehmegerichts. Sie haben Decknamen, und ihr Leiter nennt sich Diktator.(S. 115 f.)

Ein sehr geheimnisvoll dargestellter Reiter ist der junge Doktor der Rechte Sperascar (S. 151), von dem es schon andeutungsweise geheißen hatte (S. 110), daß er Amaliens Vater vor der Ehe gewarnt habe. Er hat vor, den Rusaller Wald von Räubern zu reinigen und damit auch den Spukgeschichten den Boden zu entziehen, doch "Ernst, Erhard und Erich [schütteln] den Kopf, denn denn sie alle drey auf ienem Schlosse etwas gesehen, das sich von einem Geiste den Soldaten exorcisiren können — wenigstens nach ihrer Meynung — nur allzuwohl unterschied." Was das war, wird natürlich wieder verschwiegen. (S. 159)

Ein weiteres gattungsübliches Motiv: Auffindung zweier ausgesetzter neugeborener Kinder. Und das, nachdem der Doktor Sperascar soeben die Geheimgesellschaft in der Ritterstube, die uneins geworden war, durch sein Hinzutreten rätselhafterweise in Angst gebracht und befriedet hatte. Ein Jäger bemerkt Zeichen auf einem Band, das um die Arme der Kinder geschlungen ist, küßt das Band ehrfürchtig und verspricht, für die Kinder zu sorgen. Karl fragt nicht weiter, denn er ist schon "an abentheuerliche Ereignisse aller Art gewöhnt". (S. 176)

Der Erzähler neckt also den Leser mit einem Spiel, in dem er zunächst Geheimnisvolles aufbaut, oft nur, indem er einen Kenntnisstand verschweigt, den seine Figuren bereits haben, und die Aufklärung verspätet nachliefert. So erzeugt er den gattungsüblichen Schauer, ohne den weltanschaulichen Boden aufgeklärten Christentums zu verlassen.


Zu 3. finden sich folgende Anhaltspunkte:

Wilibald Kraft ist ein Volks- und Sagenkundler, der quixotische Züge aufweist (S. 102 ff.)

Daß Karl von Sternau in Rudolfs Abwesenheit mit Amalie zu einer Liebesbeziehung (vorerst romantischer Art) gefunden hat, wird dem Leser in einer Autorenanrede vermittelt, in der wegen der Schnelligkeit des Vorgangs das "Reglement der Herren Romanschreiber" höhnisch abgelehnt wird (S. 111) und angekündigt wird, "lieber bey der Wahrheit zu bleiben. Kurz also, Karl und Amalie liebten sich und sagten dies einander bey Gelegenheit einer schönen Mondnacht [immerhin, die muß sein!] eben so offenherzig, als ich meinen Lesern, daß ich — weiter nicht's weiß." (S. 112)

Rudolf erzählt von mehreren Leuten seiner Bekanntschaft, die zu gerne Ritterromane lesen, und läßt sich mit Wilibald Kraft auf eine Erörterung ein, welche Bewandtnis es mit dieser Literatur habe. "[…] ist's denn nicht, als wenn die Kerl's die solche Ritterbücher schreiben, aus dem Tollhaus entsprungen wären, so bunt und kauderwelsch geht alles durcheinander? Merk Er sich wohl, ich red' von den Meisten, nicht von Allen." (S. 126) Ernst entgegnet, die Autoren wollten damit nur Geld verdienen. (S. 127) Eingeschaltet wird in dialogischer Form die Erinnerung an ein Gespräch, das Ernst mit dem Verfasser von "Kraft und Drang"-Romanen gehabt hatte. Dieser ist ein armer Skribent mit Perücke in einer Dachkammer, der eheliches Unglück gehabt hatte und sich mühsam durchbringt, ohne von der Natur, die er beschreibt, etwas selbst wahrzunehmen. "Das wäre wahrlich schlimm, wenn der Dichter von nichts singen könnte, als von dem, was er vor Augen hat; dann fiele unser ganzes aesthetisches System rein über'n Haufen." (S. 132.) Schließlich verfaßt er einen "überempfindsamen Roman" (S.136) über einen "zweyten Werther", einen Landgutbesitzer, der sich erschossen hat, und läßt es darin auf dem Landgut spuken. Der Roman geht reißend ab, die Leute der Gegend, auch die Erben, glauben die Spukgeschichte, das Landgut wird billig angeboten, der Autor kann es erwerben und lebt zuletzt doch in behaglichen Umständen. Wilibald Kraft schließt mit der Bemerkung, daß sich der Geschmack von den Ritterromanen abgewendet habe, und beschreibt die nun gängige Art von Romanen so, daß die inhaltlichen Motive des vorliegenden damit erfasst sind.

In vollem Ernst und sehr spannend wird der Überfall durch eine Übermacht von Räubern geschildert, die Rudolf und sein Gefolge angreifen und in realistisch geschilderte Bedrängnis bringen, aber ein geheimnisvoller Reiter kommt ihnen zu Hilfe, und das Gefecht geht gut aus. Sie machen Gefangene, selbst den, den sie für den Hauptmann halten, und nebenbei wird ein schönes Mädchen aufgegriffen, das anscheinend auch zu der Bande gehört. Da erscheint der Gerichtshalter Kraft mit bewaffneten Bauern, seine pseudoritterliche Aufmachung wird aber gänzlich komisch geschildert und dann auch als quixotisch bezeichnet. (S. 141-150)

Wenn derartige komische Einsprengsel den Roman auch nicht im ganzen zu einer heiteren Lektüre werden lassen wie Wielands «Don Silvio von Rosalva», so schaffen sie doch immer wieder eine Entlastung von allzu tragischer Ritteratmosphäre. Romantisch im Sinne der jenenser Frühromantik oder im Sinne des reifen E:T.A. Hoffmann ist dieser Roman jedenfalls nicht. Man könnte allenfalls eine Spielart der vielberufenen "romantischen Ironie" darin erblicken, besonders in der Hinsicht, daß oft auf das Erzählen und seine Bedingungen selber reflektiert wird. Belege dafür, dass die ästhetische Betrachtung der Welt in einem höheren Sinne ironisch sei, finden sich aber wohl nicht.


Zu 4. finden sich folgende Anhaltspunkte:

Der Präsident Nerdan ist ein als Menschenfreund verstellter Erzbösewicht, der Professor Bodlis ein Weiberverächter, welcher aber weidlich herumhurt, auch in den Betten vornehmer Damen "die Talente zu schätzen wusten, wo sie sie fanden" (s. 205). [Man kann sich fragen, ob Lochner hier vielleicht auf die zeitgenössischen Verhältnisse am Hof zu Erlangen anspielte?]

S. 285 sucht die Gräfin Henriette den Doktor Sperascar zu betören und beobachtet ihn in der Bibliothek, in der allerlei schlüpfrige, natürlich französische Literatur samt pornographischen Kupferstichen und verfänglichen Gemälden heidnischer Sinnlichkeit zu sehen sind. Dieser reagiert aber ungehalten darauf.

S. 300 geht es um Sophie: "Und wenn nun der Anblick des männlichen kraftvollen unbekannten Jünglings beyde [Leidenschaft und Neugier] verdoppelte, wenn dieser vielleicht selbst das Triebwerk der Affekten durch geheime Machinen in Bewegung setzte, wer wagt es, das unglückliche Mädchen zu verdammen, wenn sie sich noch diesen Abend im orientalischen Zimmer bleich und zitternd mit verlorner Unschuld aus des Unbekannten Armen wand?" Bevor es zu wielandisch wird, beeilt sich der Erzähler hinzuzufügen: "Ich ziehe absichtlich einen Schleyer über die Umstände bey diesem Vorfall, denn der zufällige Schaden, den dergleichen Darstellungen anrichten können, möchte den sehr ungewissen Nutzen, den die darin enthaltende praktische Warnung hervorbringen soll, wohl überwiegen; […]"


Nachdem hieran erwiesen ist, daß Lochner sich der Verantwortung eines Geistlichen für die Seelenruhe seiner Leser bewußt ist, stellen sich zwei weitere Fragen:


5. Fühlt sich der Verfasser unerachtet aller Ironie und allen Humors einer jenseitigen oder ästhetischen Instanz verbunden, die er hinter den Erscheinungen der platten Alltagswelt oder der entlarvten Schauermechanismen zur Geltung bringen will (etwa wie E.T.A. Hoffmann)?

6. Hat der Verfasser eine geschlossene Phantasiewelt aufgebaut, die endlose Spiele der Phantasie zulässt (etwa wie Mörike)?


Zu 5. finden sich folgende Anhaltspunkte:

"Ernsthafter war der Hofmeister [Waller], der mit Hamlets bekannter Sentenz beynahe förmlich auf Krafts Seite trat, und sich auf Erfahrungen berief, denen das gewöhnliche exegetische Hülfsmittel einer allzu lebhaften Phantasie nicht wohl zu substituiren war."(S. 220) — "Man ist toll genug gewesen, dies als einen Beweis gegen ihre [der rätselhaften Erscheinungen] Möglichkeit anzuführen, daß man keinen Zweck davon absehen könne […] Man confundirte die Begriffe Geist, Erscheinung, Gespenst und Körper auf eine so lächerliche Art, daß die petitio principii überall hervorschaute, und wollte da demonstriren, wo nach der Natur der Sache keine Demonstration statt finden kann. Aber so geht es, wenn die kindische Furcht abergläubisch zu erscheinen und von starken Geistern verlacht zu werden, die kalte Vernunft niederdrückt, und die Speculation, statt vernünftige Erfahrung zu Hülfe zu nehmen, in Sophisterey ausartet." (S. 221)

Als Bodlis die Theorie vom Pfaffentrug auftischt, kontert der Hofmeister mit den Gespenstergeschichten des römischen Schriftstellers Plinius, der ein solches Interesse nicht gehabt habe. (S.224f.) Es folgt eine Binnenerzählung des Hofmeisters, die angeblich aus dem Gedächtnisprotokoll des Professors Bodlis vom nächsten Morgen rekonstruiert ist. Sie weist große Ähnlichkeit mit den Erscheinungen im alten Schloß von Kolling auf, und ähnliche Reaktionen des "Prinzen" wie in Schillers «Geisterseher» (wo auch ohne Wirkung geschossen wird, es treten weiße Figuren durch Wände, es gibt Falltüren, die später nicht mehr aufzufinden sind, ein Gemälde wird entdeckt und verschwindet etc.).


Viel später, auf S. 416, wird aufgedeckt, ein gewisser mechanisch geschickter Verschwörer namens Doulliere habe die Tricks ausgeführt, die  an Gespenster glauben machten. Die technischen Mittel werden detailliert beschrieben.

Es bleibt nichts übrig, was auf eine Welt verweist, die naturwissenschaftlicher Erklärung nicht zugänglich wäre, als allenfalls die moralische Autorität des richtig verstandenen, nicht abergläubischen Christentums. Lochner steht in der Tradition seiner Ahnen, der evangelischen Pfarrer von Fürth. Er ist ebensowenig ein Romantiker von echtem Schrot und Korn als es ihm einfiele, wie manche von diesen zum Katholizismus überzutreten.


Frage 6 erübrigt sich daher. Freilich kann Lochner mit diesem erzählerischen Instrumentarium weiterspielen, auch wenn alle Schauer aufgelöst sind. Beim Weiterlesen enthüllt sich jedoch der geistige Gehalt des Spiels, über den Unterhaltungswert hinaus, als ein ganz anderer.

Die nächsten Seiten (etwa ab S.270) sind einer Hofintrige gewidmet, in der sich erweist, wie hochverräterisch es ist, Republikaner zu sein, und wie ein verstellter Bösewicht ("Präsident") die Verhaftung eines Unschuldigen betreibt, um dessen Tochter nach dem Muster der Virginia zu erpressen.

S. 318 zeigt sich, daß eine lange Rückblende stattgehabt hat, denn die auf S. 176 aufgefundenen Zwillinge sind Sophies Kinder aus der Verführungsszene von S. 300. Daraus folgt die auf S. 386 erwähnte Forderung zum Duell. Vorher jedoch fällt Florando, der Herausforderer, zu seiner eigenen Beschämung (und moralischen Schwächung) noch Henriettens Verführungskünsten zum Opfer — eine nun doch wielandisch geschilderte erotische Szene!


Einzuschieben ist die Feststellung, daß Lochner sehr geschickt mit den erzählerischen Mitteln der Personenperspektive und Zeitachsen-Versetzung umgeht. Auch heute noch ist dieser Roman ein Lesevergnügen.


S. 397: Nachdem Sperascar den Florando dreimal entwaffnet hat, verlangt dieser, aufgeklärt, des Doktors Verzeihung, ja Freundschaft, doch dieser behauptet, Florando könne seinen Anblick, wenn er den Hut abnehme, nicht ertragen. So geschieht es. Florando fällt zu Boden. Szenenwechsel.

S. 400: Ewald von Sternau, lange für tot gehalten, erscheint beim Grafen zu Wendern und überreicht diesem mit der Bemerkung, Sperascars Klinge habe diese Zeit heraufgeführt, in der es gelte, wieder aufzutreten, einen Brief des Diktators Kronar, den dieser ehrfürchtig küßt.

S. 400ff.: Aus dem Brief geht hervor, daß die Geheimgesellschaft den Schutz des Staates vor Bösewichtern wie Nerdan bezweckt hat und sich auflösen wird, jedenfalls bis sie wieder gebraucht wird, sobald eine Entlarvung der Nerdan-Bande stattgefunden hat. Die unterirdischen Teile der Ruinen von Tulham sollen zerstört werden. Dorthin haben sich jene mittlerweile zurückgezogen.

S. 404 f.: Diese Bösewichter und Feinde nennen sich "Republikaner" [!]

S. 406: Nerdan unterdessen plant einen Ausfall, Königsmord und Rache an Sperascar, und versucht mit Rebellenrhetorik die Leute davon zu überzeugen, daß sie handeln müßten, um nicht auf dem Richtplatz zu verbluten.

S. 410 ff.: Ein Verhüllter erscheint unter den Verschwörern und beschuldigt Nerdan, ein doppeltes Spiel zu treiben, um allein zu entkommen, enthüllt die Strategie, Amalien einen falschen Rudolf unterzuschieben, als Schachzug im Machtkampf, gibt sich selber als der falsche Rudolf zu erkennen und entlarvt "Paul", der sich soeben zum Meuchelmord an Sperascar bereiterklärt hat, als Doppelagenten — dieser sei nämlich der Hofmeister Waller.

S. 419.: Sperascar hebt die Bande aus, die ihre durch republikanische Schlagwörter bemäntelte Räuberei lieber anderswo fortsetzen wollte.

S. 425 beginnt die Vorgeschichte des Ewald von Sternau, in der es ebenfalls abenteuerlich genug zugeht und die Wurzeln der Verdorbenheit der "Republikaner" als Lektüre falscher philosophischer Schriften dargestellt werden.

S. 542 enthüllt sich endlich Sperascar nach langen Abhandlungen darüber, daß bei Königen die Menschenrechte am besten aufgehoben seien, als König Jason. Alles geht gut aus, die Paare werden richtig gruppiert und kopuliert.


Nun ist wohl klar, warum der bis 1834 beliebte Roman später kein Fortleben in der Gunst des Publikums mehr hatte. Wenn aber selbst Novalis in seiner Schrift «Glauben und Liebe» (1798) ein Idealbild des Königtums entwirft, das vom Standpunkt der Republikaner reaktionär genannt werden könnte, muß man einem Nürnberger in einer Zeit des Herrschaftsübergangs seine schwärmerische Sehnsucht nach Festigung der Verhältnisse unter legitimierter Herrschaft wohl nachsehen. Später paßte das gut ins Königreich Bayern.




Lochners ästhetische Theorie



Jener arme, später durch geschickte Manipulation des Literatur- und damit des Immobilienmarktes reich gewordene Skribent, den er in seinem ersten Roman darstellt, ist natürlich nicht das Sprachrohr des Dichters Lochner, auch wenn jener durch die Erwähnung eines "ästhetischen Systems" recht professionell erscheint. Am 11. Januar 1802 hatte aber Lochner in einer Versammlung des Blumenordens sein eigenes ästhetisches System vorgestellt. In diesem Text geht es gehörig philosophisch zu. Einiges von der Weitschweifigkeit seiner Formulierungen muß man herauskürzen, um die Kernaussagen nicht aus dem Blick zu verlieren; dann aber lohnt ein Vergleich mit dem sogenannten "Ersten Systemprogramm des Deutschen Idealismus", das in keiner Hegel-Gesamtausgabe fehlt, aber wahrscheinlich nicht von ihm allein, sondern im Frühsommer 1796, wohl kurz vor dem Abgang vom Tübinger Stift, von Hegel, Hölderlin und Schelling gemeinsam verfaßt worden ist. Man erinnert sich, daß Hegel, nach seiner Zeit als Redakteur in Bamberg, 1808 Rektor des Nürnberger Egidien-Gymnasiums wurde. Schelling war 1803 Professor in Würzburg geworden und hatte auch Hegel den Weg zu dessen erster Professur in Jena geebnet. Publiziert hatten beide schon vor 1802. Der Aufmerksamkeit eines schriftstellernden, in der neuesten Literatur gut belesenen Pfarrvikars konnten sie sicher sein. Vielleicht gab es auch vor 1808 Verbindungen Hegels zu Nürnberg oder Altdorf. Das müßte man einmal nachprüfen. Für den Vergleich der Positionen ist es freilich unerheblich.

 

Lochners Vortrag beginnt so (nachdem er erst einmal Fahrt aufgenommen hat):


"[...] Man findet nemlich fast durchgehends die lezte Ursache der ungeheuren Abwege und Mißgriffe [...] in dem sehr einfachen Umstande, daß der Mensch seit dem ersten Gefühle seines Bedürfnisses, das ihn über den Bezirk der Sinnenwelt um ihn her hinaustrieb, das was er suchen, und zwar seiner Bestimmung gemäß suchen sollte, immer nur ausser sich, nie aber da, wo es allein gefunden werden konnte, in sich selbst ausspähte. [...]"


Im "Ersten Systemprogramm des Deutschen Idealismus" (nachfolgend ESI abgekürzt) steht: "Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen."


Lochner fährt fort: "daß alle diejenigen um nichts besser verfuhren, welcher von aller äussern Autorität zurükweichend, nur aus ihrem Kopfe den Maasstab, nur aus ihrem Herzen den Prüfstein, nur aus ihrer Erfahrung das Endurtheil und nur aus ihrem Privatsysteme die Anwendung aller möglichen Ideen zu nehmen sich rühmten [...]"


ESI: "So — wenn die Philosophie die Ideen, die Erfahrung die Data angibt, können wir endlich die Physik im Großen bekommen, die ich von spätern Zeitaltern erwarte. Es scheint nicht, dass die jetzige Physik einen schöpferischen Geist, wie. der unsrige ist, oder sein soll, befriedigen könne." — Übereinzukommen scheinen die beiden Aussagen am Rande, wenn es darum geht, daß durchaus auch "Data" aus der Außenwelt neben den Ideen aus dem Inneren des Menschen eine Rolle zu spielen hätten.


Lochner: "Wenn man, all der Erleuchtung ungeachtet die man dem laufenden Zeitalter so freygebig zuschreibt, noch immer dem größeren Theile nach fortfährt, das Wissen als abhängig von den Dingen ausser uns, und die Welt als den Grund und Boden der Philosophie zu betrachten [...] wenn man ferner in den Angelegenheiten des Willens diesen noch sehr häufig entweder vom äusseren Schicksal (Fatalismus) oder von gewissen übermenschlichen Gesezen aus einem unbekannten Reiche [...] abhängig denkt, und mithin ihn [...] dem unterordnet, was man sehr gewöhnlich mit dem heiligen Namen der Religion oder des Willens Gottes stempelt —; wenn man dem zu Folge die Autonomie der Erkenntniß und des Wollens mit einer empörenden Gleichgültigkeit Preiß giebt, — so ist man auf ein drittes Grundvermögen der menschlichen Seele, das Gefühl, desto eifersüchtiger."


ESI: "Ihr seht von selbst, dass hier alle die Ideen, vom ewigen Frieden usw. nur untergeordnete Ideen einer höhern Idee sind. Zugleich will ich hier die Prinzipien für eine Geschichte der Menschheit niederlegen und das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung — bis auf die Haut entblößen. Endlich kommen die Ideen von einer moralischen Welt, Gottheit, Unsterblichkeit — Umsturz alles Afterglaubens, Verfolgung des Priestertums, das neuerdings Vernunft heuchelt, durch die Vernunft selbst." — Es trifft nicht Lochner, was hier über vernunftheuchelnde Priester gesagt ist, denn er steht dieser höheren Idee nahe, wenn er die Autonomie der Erkenntnis und des Wollens nicht einem Fatalismus (La Mettrie?) oder einer falsch verstandene Religion preisgeben will. Aber wie kommt Lochners Hinweis auf das dritte Vermögen, das Gefühl, mit dem ESI überein?


"Ich wage wohl nichts, wenn ich [...] die absolut nothwendige und ursprüngliche Harmonie jener drey Grundkräfte der persönlichen Menschheit (des Ich) zum Princip alles dessen aufstelle, was ich hier in kurzen Umrissen mehr auszudeuten als zu entwickeln habe. Da uns übrigens hier [...] um [...] ein Verhältniß [...] der Kunst [...] zu [...] der ethischen Tendenz zu thun ist, so kann uns nur die Harmonie des Willens (der praktischen Vernunft) mit dem Gefühle (im empirischen Gebrauche Geschmack genannt) aus jener Principalidee ansprechen. [...]" — Mit dem Wort "Geschmack" begibt Lochner sich auf den Boden der Ästhetik. Dort stellt sich die Harmonie der drei Grundkräfte des Menschen her, und darum ist sie das Grundprinzip. Auch die Ethik hängt damit zusammen. Das war im ESI bereits der Ausgangsgedanke, gegründet auf Kant:


"Da die ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt — wovon Kant mit seinen beiden praktischen Postulaten nur ein Beispiel gegeben, nichts erschöpft hat, so wird diese Ethik nichts andres als ein vollständiges System aller Ideen, oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate sein. Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst, als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien, selbstbewussten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt — aus dem Nichts hervor — die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus Nichts." — Auf die Ästhetik kommt der ESI nach den oben erwähnten Zwischenschritten zu sprechen: "Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischem Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist, und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsre Buchstabenphilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie. Man kann in nichts geistreich sein, selbst über Geschichte kann man nicht geistreich raisonieren  — ohne ästhetischen Sinn. Hier soll offenbar werden, woran es eigentlich den Menschen fehlt, die keine Ideen verstehen,  — und treuherzig genug gestehen, daß ihnen alles dunkel ist, sobald es über Tabellen und Register hinausgeht."


Lochner: "Der Ausdruk des reinen Gefühls in der Sinnenwelt [...] heißt Schönheit, das System der Schönheit (das aber vor der Hand in concreto noch nicht existirt), Aesthetik, und ihre Hervorbringung, die nicht ohne ein Ideal denkbar ist, Kunst. [...] Es kann mithin das Ideal der Religion nur ein Uebersinnliches, das der Kunst nur ein Sinnliches seyn, u. von einer überirdischen Schönheit oder von einer irdischen Gottheit zu reden, ist bekanntlich nur dem Künstler erlaubt. [... Es ist ...] eigentliche Obliegenheit des [...] Künstlers [...] über die Wirklichkeit hinauszugehen, doch ohne sie zu verlassen, aus dem Reich der Ideen irgend etwas zu holen, und es im Reiche der Dinge gleichsam wiederzugeben, und zwar nicht in die übersinnliche Welt zu entrüken, aber  sie uns in der sinnlichen abzudruken. [...] so täuschend auch die Kunst ihr Geschöpf in irgendein Substrat der empirischen Welt zu verbergen wußte [...]"


ESI: "Die Poesie bekommt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war — Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben."


Lochner: "Wem das Wort Sinn nicht anstößig ist, der mag es [das Gefühl] auch den Schönheitssinn nennen [...] Nur dadurch wird das Streben nach Vollkommenheit von jeder einseitigen Richtung bewahrt, denn es giebt für uns eben so wenig eine vollkommene Handlung der Pflicht, als einen vollkommenen Genuß des Lebens ohne die Form der Schönheit [...] Für den Menschen, u. mithin auch für die Religion des Menschen, giebt es keine höheren Formen als die der Kunst, für die Kunst keinen höheren Gegenstand [...] als die Religion. [...]" Diese Religion müßte für den Herrn Pfarrvikar Lochner eigentlich mit seiner vernünftig und gleichzeitig mit Schönheitssinn ausgeübten protestantischen Predigertätigkeit vereinbar sein — aber welcher Abstand zur Orthodoxie, welche noch hundert Jahre zuvor von Leuten wie dem Präses Lilidor in Nürnberg amtlich vor Entstellungen bewacht wurde, tut sich da auf!


ESI: "Zu gleicher Zeit hören wir so oft, der große Haufen müsse eine sinnliche Religion haben. Nicht nur der große Haufen, auch der Philosoph bedarf ihrer. Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ist's, was wir bedürfen.

Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die, so viel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist— wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden.

Ehe wir die Ideen ästhetisch, d.h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse; und umgekehrt ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden, und das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blick, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern. Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden. Dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! — Ein höherer Geist vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte größte Werk der Menschheit sein."


Der letzte Absatz beschreibt in etwa die spätere Praxis Hölderlins. Es ist natürlich nicht zu erwarten, daß Lochner ihm darin gleichkommt oder überhaupt nur in eine ähnliche Richtung zielt. Immerhin umfaßt auch sein Denken den Begriff der Menschheit:

"Ganz bestimmt bemerken wir diesen übersinnlichen Charakter der Kunst da, wo sie nicht nur die wirkliche, sondern auch die mögliche sublunarische Erfahrung aufgiebt [...] nicht mehr dem Verstande [...] sondern der Vernunft, die übersinnliche Geseze zu verwirklichen strebt, die Züge zu ihren Gestalten absieht. Aber dies kann sie nur theilweise, denn das Ideal der moralischen Vernunft [...] ist keiner Gestalt fähig. [...] Das Höchste also was die Religion in ihrer moralischen Tendenz sich zum Ziele sezen, und was die Kunst in ihrer aesthetischen auszudrüken versuchen kan, ist ein Ideal der Menschheit. [...]"


Es kann sich nicht darum handeln, Abhängigkeit oder Priorität zu ermitteln; hier genügt vollauf zu konstatieren, daß im Blumenorden des Jahres 1802 die Erörterung ästhetischer Fragen auf der Höhe der Zeit war. Was noch hätte werden können, wenn Lochner nach 1808 in persönlichen Kontakt mit Hegel getreten wäre, ist Spekulation. Leider heißt es im Protokoll der Ordenssitzung vom 3. Mai 1803:

"[...] 3.) Proponirten Herrn Präses Hochwürden, daß dem, vor einigen Tagen, am 22sten vorigen Monats, zum allgemeinen Bedauern in der Blüthe seiner Jahre verstorbenen Herrn Pfarr-Vikar, Johann Philipp Christoph Lochner, von dessen vorzüglichen Talenten das gelehrte Publikum, und besonders der Orden sich noch viel zu versprechen gehabt hätte, ein Denkmal im Druck zu errichten seye [...] daß Herr Dr. Panzer in Hersbruck, welcher den Verstorbenen genau kannte, sich hierzu erbitten lassen würde [...]"


Aus dem Nachruf, den der jüngere Panzer verfaßt hat, erfährt man über das bisher Zutagegetretene hinaus, daß Lochner ein sprachbegabter Student war, der vor lauter Wißbegierde seinem Körper Gewalt antat, indem er die Müdigkeit mit Kaffee und Wein überging. Ein guter Kanzelredner, mit 19 Jahren schon Vertreter des Hersbrucker Pfarrers Büchner in dessen letzter Lebenszeit, hatte er damals aber schon unter Bluthusten zu leiden.




Freude hat ihm Gott gegeben

Und die Noth wird bald entfliehn —

Und auf hungerbleichen Wangen

Werden frische Rosen blühn;

Wenn der goldne Kern gereifet,

Wenn am Halm die Sichel blinkt,

Wenn die schwere Segensgarbe

In des Schnitters Arme sinkt.



Freude hat uns Gott gegeben

Ihr sey dieser Tag geweiht,

Unter trauten, frohen Scherzen

Heiterer Geselligkeit,

Bis der letzte Strahl der Sonne

Dort in Westen niedersinkt

Und die Nacht herniederthauend

Uns zur stillen Ruhe winkt.


Seidel.


Dritte Generation der Empfindsamen



Unterdessen spinnt sich die Dichtung im Orden — Ideal hin oder her — in den Bahnen des empfindsam überhöhten Gelegenheitsgedichts fort. Hierin werden auch wieder einmal die wenigen dichtenden Frauen im Umkreis des Ordens produktiv. Von dieser Seite war in der männerbündlerischen Phase vor 1800 wenig zu hören gewesen.


Es ist leider wieder der Tod, der Catharina Margaretha Derfuß zu einem  Gedicht auf ihre Freundin, die Frau des Pfarrers Drechsler-Cleander V. , veranlaßt. Ihre beiden Schwestern schließen sich der Widmung an, wohl auch den Druckkosten. Das im Archiv erhaltene Exemplar wirkt verhältnismäßig aufwendig.


Ruhe Dir, und Kronen des Siegs, o Seele,

Weil Du so schön warst.

Klopstock.


Unvollkommenheit ist dieses Erden-Lebens

Traurige Bestimmung, mit Vergänglichkeit

Kämpft der Pilgrim täglich mühvoll, und vergebens

Suchen so wir dauernde Zufriedenheit.


[Die folgenden drei Strophen werden hier nicht zitiert.]

Er, der Todes-Engel, rief: Enteil der Erde,

Liebling Gottes, hoher Lohn erwartet Dein,

Nimm für Deine Tugend, statt der Welt Beschwerde,

Dort die lichte Wohnung seel’ger Geister ein.


[Auch hier werden fünf Strophen als wenig signifikant übergangen.]

Sanft ruht nun dein Körper in dem Schooß der Erde,

Frey von jeder Plage, in der kühlen Gruft,

Bis der hohen Allmacht schöpferisches Werde

Dich aus Deiner Ruh zum neuen Leben ruft.

Höchst seltsam ist die beigefügte Vignette, in der eine Eule auf einer unförmigen Urne sitzt, wenn es sich nicht überhaupt um einen Erdenkloß handelt. Das ist bei der nicht sehr qualitätvollen graphischen Ausführung nicht eindeutig zu erkennen. Jedenfalls ist Symbolik beabsichtigt, wie auch die im Hintergrund angedeuteten Bücher zeigen: Der verstorbenen Freundin werden Weisheit und Gelehrsamkeit zugeschrieben.


Was ansonsten aus dieser Zeit an Gedichten überliefert ist, stellt fast ausnahmslos Festgedichte dar, die für den Irrhain bestimmt waren. Die eine Ausnahme, deren Wiedergabe man sich aber wirklich schenken kann, ist ein Huldigungsgedicht an jenen umstrittenen Grafen von Drechsel, das Christian Gottfried Lorsch verfaßte, als Drechsel zu seinen übrigen Ehren auch am 23. Oktober 1817 die Aufnahme in den Blumenorden fügen wollte. Doch schon 1813 hatte Lorsch eines seiner drei Irrhainlieder geschrieben. Es soll hier zum Beispiel dafür, daß man derartiges damals auch gleich drucken ließ, in graphischer Form reproduziert werden:

[Im zitierten Nachruf auf Lorsch steht auf S. 14: „Sich selbst keine Härte des Reimes, keinen Fehler in der Prosodie, keinen Verstoß gegen die Grammatik oder Sprachreinigkeit verzeihend, rügte Er streng solche Gebrechen an Fremden und Freunden, letztern die Mittel zur Verbesserung freundlich darbietend.”]

„Thaten uns vorübergehn” — das sei kein Verstoß gegen die Grammatik? Im Englischen, ja. Im heutigen Deutschen vermißt man ein „an” vor dem „uns”. Auch die Sparsamkeit mit Artikeln bringt einige harte Fügungen hervor. Aber vielleicht meinte Lorsch, das sei einer höheren Stilebene angemessen. Auch Goethe hatte in den «Römischen Elegien» geschrieben: „Cestius’ Mal vorbei / leise zum Orkus hinab.”  — nicht „an Cestius’ Mal vorbei”.


Der neugewählte Präses Seidel ließ sich ebenfalls in mehreren Gedichten vernehmen, deren Gegenstände über das Private hinausreichten. Sein Biograph schreibt: „Auch die großen politischen Ereignisse der Tage fasste er ins Auge. Ich fühle mich gedrungen, als Beleg dafür ein Gebet am Schlusse des Jahres 1813 hier mitzutheilen:


Das letzte Wort in diesem Jahre

Sei dir ein Lobgesang,

Und unser ganzes Wesen

Sei dir ein Lobgesang.

Du Wundervoller,

Du Mächtiger,

Du Liebevoller,

Du Herrlicher!


[…]


Es beteten mit Zittern

Die Völker, Herr, dich an,

Als deinen Todesengel

Sie niederfahren sahn;

Das Schwert in seiner Rechten

Schlug er die stolze Schaar,

Und mit der Dornenkrone

Bekrönte er dies Jahr.



Doch unter Blut und Thränen

Schufst du die Menschheit neu,

Und sprengtest ihre Fesseln,

Allmächtiger, entzwei.

Und über unser bebend Land

Hieltst du. Herr, schirmend deine Hand!

Herr des Himmels,

Der Erde Herr,

Erbarmender,

Gelobt seist du,

Dein ist das Reich, die Herrlichkeit

Von Ewigkeit zu Ewigkeit!


[…]”


Dieses „Gebet” beginnt rhapsodisch-freirhythmisch-reimlos, geht dann in eine gereimte Strophenform über, die hymnisch zu nennen wäre und wird gegen Ende wieder lockerer in der Form. Gewissermaßen sprengt enthusiastisches Sprechen die Bande der Verskunst. Gar nicht ungeschickt. Ein gedrechseltes Kunststückchen ist es gleichwohl kaum; wenn in Seidel, wie andernorts erkennbar, ein poetisches Gemüt wohnte, so kann er angesichts der wirklich bedeutsamen und furchtbaren Ereignisse des Jahres so etwas durchaus in einem Zuge heruntergeschrieben haben. Es war das Jahr der Völkerschlacht bei Leipzig, eines Gemetzels, das auch E.T.A. Hoffmann zu einer poetisch überhöhten Darstellung veranlaßte. Napoleons Niedergang zeichnete sich ab. Was aus den ehemaligen Rheinbundstaaten, darunter Bayern, nun werden sollte, konnte man in Nürnberg nur mit Sorge erwarten, aber die Bedrückung durch die französische Militärmaschine und der Blutzoll, den gewiß auch Nürnberger Familien entrichtet hatten, schienen nun vorbei. Seidel feiert in einem späteren Gedicht den Frieden, wahrscheinlich den von 1815, wie sich nach der Fundstelle im Archiv vermuten läßt:


Melodie: Auf auf ihr Brüder und seyd stark etc. [Christian Daniel Schubarts beliebtes «Kaplied»]


Auf stoßt den vollen Becher an

Und jauchzt zum Gläserklang;

Es kehrt in unsern Freundesreihn

Die holde Freude wieder ein

Und ruft uns zum Gesang.



Herab den schwarzen Trauerflor, [Komma hs. getilgt]

Vergessen sey der Schmerz;

Des Friedensgruß [hs. Friedens Gruß] beglükt die Welt,

Sein sanfter Lebensstrahl erhellt

Mit Freude jedes Herz.

 


Wohlan denn: Friede sey mit uns

Und Freude um uns her;

Kein Blut fließt mehr im Vaterland,

Der Freundschaft und der Liebe Band

Zerreißt kein Schlachtfeld mehr.



Wir weih’n zum Toden-Opfer Euch,

Ihr Brüder, dieses Glas,

Die Ihr im ehrenvollen Streit

Als Tapfere gefallen seyd,

Und unser Aug wird naß.


[…]


Wo noch ein Herz im Streite lebt,

Das Leben sich erschwehrt [hs. erschwert] —

Wer noch nicht seine Brüder liebt

Und Friede hin um Frieden giebt,

Ist nicht des Friedens werth.


[…]


Auf schließt der Liebe heilgen Bund

Beym Saft am Rhein gepreßt —

Denn jedes Herz ist uns verwandt —

Die Menschheit fesselt nur ein Band

Und Friede hält es fest.



Der Vater Rhein der lebe hoch;

Des Friedens Lobgesang

Schallt von den beiden Ufern her,

Es ist kein Krieg ihr Brüder mehr! —

Dem guten Gott sey Dank!

 

Nicht ganz so menschheitsverbrüdernd und völkerverbindend äußert sich Seidel im entsprechenden Irrhainlied von 1815:


 

Mel. Es kann schon nicht immer so bleiben etc. [In Antiqua gedruckt]


[Zunächst beginnt das Lied mit fünf Strophen, die der Festfreude und der Schilderung des Irrhains gewidmet sind. Dann:]


 

Noch lebt unsre herrliche Sprache —

Sie sieget am glorreichen Rhein,

Und soll bis ans Ende der Tage

Die Sprache Germaniens seyn.

 


Es schreiten und kommen die Zeiten

Des heil’gen und hehren Gerichts.

Es singe der Ruhmsucht der Welsche

In nichtigen Tönen ihr Nichts.

 


Es pflanze der Fremdling nicht wieder

Sich Blumen auf unsere Gau’n,

Wo unsere Eichen und Ulmen

Mit herrlichen Kronen zu schaun.



Wir singen der Ehre, der Tugend,

Der Tapferkeit, heilig und treu.

Sie schützet die Muse der Deutschen

Und machet uns fröhlich und frei.


[Es folgt noch eine minder bedeutsame Schlußstrophe.]



Hier ist ihm die Milch der frommen Denkart sauer geworden, und der daraus hervorgehende Käse des Nationalstolzes wird im Laufe der kommenden 150 Jahre bei anderen, immer neuen Autoren immer übelriechender. Doch die Versatzstücke solcher Hurra-Poesie sind hier fast alle schon da: der Rhein, Germanien, der Welsche, die Gaue, die Eichen, die Ehre und Treue. Für sich genommen, könnten alle diese Worte noch der Klopstock-Zeit angehören und als verhältnismäßig harmlose Überkompensation einer politischen Bedeutungslosigkeit gelten; zusammen ergeben sie, zumal wenn dieses Deutschland wirtschaftlich und politisch erstarkt, eine ganz gefährliche Mischung. Wie schnell das umkippen konnte! Denkbar wäre, daß das vorige Gedicht, undatiert wie es ist, den Frieden von Fontainebleau 1814 feiert. Als es Napoleon gelang, von Elba zurückzukehren und in der Schlacht von Waterloo sein Glück ein letztesmal zu versuchen, kann sich die öffentliche Meinung im kriegsmüden Deutschland ziemlich radikalisiert haben. Davon konnte und wollte sich der biedere Seidel nicht ausnehmen. „Bieder” muß er genannt werden, weil ihm das Wohl seiner Stadt am Herzen lag und weil er eine rührende Fürsorge für die Armen an den Tag legte. Sein Irrhainlied von 1817 ist ein Aufatmen angesichts einer guten Ernte. Er hatte schon zu viele blaßgehungerte Menschengesehen. Ausgelöst durch einen Ausbruch des Vulkans Tambora (Indonesien) vom 10.-15. April 1815 hatte es zwei Jahre lang zu kalte Sommer und Missernten gegeben. Nun kann er schreiben:



Mel. Zeiten schwinden etc. [gedruckt in Antiqua]


Sey gegrüßet, stiller Tempel,

Den uns die Natur erbaut,

Dem die heilige Erinnrung

Ihre Namen anvertraut.

O noch bietet reges Leben

Heiter uns die Gegenwart,

Wo auch unser unter Freunden

Hier ein stiller Denkstein harrt.



Laßt die Hore nicht vorüber,

Die so gerne schnell entschlüpft —

Laßt das Band uns fröhlich weihen,

Das sie wieder um uns knüpft.

An den Saum des Augenblickes

Legt sie ihre Gaben hin,

Darum soll er uns — der Rasche —

Nimmer ungenützt entfliehn.



Freude hat uns Gott gegeben!

Seht die Fülle der Natur!

Schauet um euch rings im Kreise —

Ueberall des Segens Spur.

Seht, wie durch die Aehrenwälder

Schon der Arme jauchzend geht;

Wo mit jedem reichen Halme

Neue Hoffnung aufersteht.





Literarische Gegenstände in den Sitzungen


 

Keineswegs beschränkte sich der Vortrag von Dichtung und die Erörterung darüber auf die Irrhainfeste oder Totenfeiern. Nachdem die historischen Gegenstände eine zeitlang den Vorrang behauptet hatten, wurde in den regelmäßigen Sitzungen wieder mehr Literarisches vorgestellt. Darum machten sich vor allem zwei neue Mitglieder verdient: Soden und Johann Christoph Jakob Wilder. Hier knüpfen wir wieder an: Wie sah Pflege der Dichtung aus, insofern sie gesellig ausgeübt wurde?

 

Wilders Biograph schreibt: „[…] Fürwahr in Nürnberg geht kaum ein bedeutenderes Ereigniß des öffentlichen oder häuslichen Lebens vorüber, ohne daß Poesie sich müßte vernehmen lassen. Seyen da ihre Schöpfungen wie die Gabe, so der Raub des Momentes — das Erhebliche und Tiefere ist ein sich allgemein aussprechendes Bedürfniß nach Poesie, und ein Verlangen, den flüchtigen Erscheinungen des Daseyns höhere Weihe zu geben. Der Entschlafene war unzähligemal des [sic] Organ fremden Gefühls; er hat jenem Bedürfnisse genügt, jenem Verlangen gehuldiget, wie vor ihm Keiner. Der Drang der Zeitkürze hat ihn nicht ängstlich machen, Anmuthungen, die dem Geschmacke widerstreben, und gegen die sich der Genius wehrt, haben ihn nicht außer Fassung bringen können. Auch konnte er kaum zu einer Stunde aufgefordert werden, in der es ihm an poetischer Stimmung gänzlich gefehlt hätte.” (S. 7) Hatten sich die Romantiker, die der Poesie eine Hütte unter den Menschen bauen bzw. das gesamte Leben poetisieren wollten, die Erfüllung ihres Programms so vorgestellt?


Wenn ein Ideal wie dieses allgemein anerkannt wird — d.h. hier natürlich nur: in kulturtragenden Kreisen— und wenn es auf die machbaren Erzeugnisse einer ständig zur Verfügung stehenden Kunstfertigkeit zuzüglich einer diffusen poetischen Gestimmtheit herunterverdünnt wird, mag das Ergebnis im Vergleich mit dem hohen Schwung der Frühromantik abfallen. Aber was will man mehr? Indem es um 1820 in Nürnberg poetisierende Philister gibt, die nicht nur formale Regeln zu beherrschen versuchen, sondern auch poetisch gestimmt zu sein oder zu werden wünschen, geschieht der öffentlichen Kultur ja nichts Verderbliches. Echte Romantiker hatten wir nicht. Bedauerlich, aber nicht zu ändern. An Versuchen hat es nicht gefehlt.


Nachdem Seidel Präses geworden war, nahmen die Ordenssitzungen einen etwas anderen Verlauf. Nach den geschäftlichen Tagesordnungspunkten wurde Dichtung vorgestellt oder erörtert. So heißt es etwa im Protokoll der Sitzung vom 2. Mai 1814: „[…] Hiermit endigte sich zwar die dermahlige Sizung; es wurde aber zur weiteren literarischen Unterhaltung von dem Herrn Präses unter andern eine Schrift, unter dem Titel: der Sprachgerichtshof, mitgetheilt, und mit eigenen Gedanken über den Reichthum und die Verbesserung der deutschen Sprache, und über die zum Nachttheil derselben von Zeit zu Zeit immer mehr unnöthig eingemischte fremde Wörter, begleitet; auch nachher noch aus Deutschland der Frau von Stael eine und die andere Stelle abgelesen, worinnen dieselbe über einige deutsche Schriftsteller, z.B. über Klopstock, Schiller, Göthe, p.p urtheilt, und die deutsche Literatur mit der französischen vergleicht.” Aus dem Konzept des Schriftführers, das der Abfassung des Protokolls voranging, ist überdies zu ersehen, daß damit der Umfang der Gegenstände jener Sitzung nicht abgeschlossen war, die man sich, mit einem abschließenden Mahl beendigt, als eine stundenlange Abendunterhaltung vorstellen kann: „Seume an Münchhausen. Münchhausens Antwort. Vorlegung der neuen Ausgabe des Telemach. Des Journals die Musen, des Erichsonschen Musenalmanachs.”


Das an derselben Stelle auffindbare Konzept zur „Session vom 4. Novembr. 1816” enthält stichpunktartige Hinweise auf die Leseinteressen des Ordens: „[…] 4. Wielands Urtheil über Sonnenberg […] 7. G. Seume. 2. Gedichte. […] Hr. Grf. V. Soden. Synd. Zahn. Lecture. Koerners Gedichte”. Syndicus Zahn ist ein persönlich anwesender Verfasser, doch der Horizont der Pegnesen ist damals überregional sowie zeitgenössisch.


Am 3. Februar 1817 tritt der Graf von Soden dann auch persönlich auf: „VII.) Der bey heutiger Sitzung zum erstenmal erschienene Herr Graf Julius von Soden unterhielt die Ordens-Versammlung mit einem von ihm verfaßten sehr gehaltvollen Aufsatz über die Lebensumstände und die zahlreichen Schriften des berühmten spanischen Dichters Lope Felix de Vega Carpio nebst einer beygefügten Ankündigung der von ihm demnächst herauszugebenden Übersetzung mehrerer der vorzüglichsten dramatischen Werke dieses Schriftstellers.”


Zu Anfang Mai 1817 sagen die Notizen einiges über eine ähnlich bunte Zusammenstellung aus wie November 1816:„Sess. Walp.[urgis] 1817 […] H. Graf Soden. Vega. Zum Vorlesen. H. Zahn. Ich. [Müller, der Schriftführer] Jean Paul. Museum. P. 91 ff.”


Dies ist freilich schon ein Übergang von Literatur zu Literaturgeschichte. Sodens weitere Beiträge bewegen sich auf dieser Grenze und streifen dann das gehoben Journalistische, Essayistische. Es folgen Protokolle, in denen u.a. steht: „Geschehen Nürnberg im Gasthof Zum weißen Schwan Montags den 5. May, 1817. […] IV.) Herr Graf von Soden theilte den versammelten Mitgliedern ein sehr gehaltreiches Fragment aus seiner in künftigem Jahr erscheinenden Schrift: über Nazional-Oekonomie, ablesend mit, worinnen besonders der Gehalt der jezigen Schauspiele und die Beschaffenheit des Theaters mit treffenden Zügen entworfen und seinem wahren Werthe nach gewürdiget wird.”


Man kann sich nur wundern, wie dieser Theaterpraktiker in einer wirtschaftlichen und technischen Analyse auch den Gehalt der neuesten Schauspiele  in Anschlag brachte. Wahrscheinlich ging es um deren Ausstattung.


„Geschehen Nürnberg im Gasthof zum weißen Schwan. Montags den 10. May, 1819. […] VIII.) Wurde durch Herrn Grafen von Soden eine Abhandlung über die Juden und deren Nationalisirung abgelesen, mit allgemeinem Beyfall aufgenommen und dem verdienstvollen Herrn Verfasser der Wunsch zu erkennen gegeben, daß es demselben gefällig seyn möge, diesen literarischen Verein noch öfter mit so gehaltvollen Vorlesungen zu erfreuen.”


„Geschehen Nürnberg im Gasthof zum weißen Schwan. Montags den 8. May, 1820. […] 3.) theilte Herr Graf von Soden einige Fragmente aus einer noch ungedruckten Geschichte des Baurenkriegs in Franken mit […]”


Hiermit ist der Blumenorden wieder in dem Fahrwasser, in dem er eine Generation früher, um 1788, bereits navigierte. Es geschieht jedoch aus unverstellt aktuellem, nicht vorgeblich archivarischem Denken.