Zur Deutschen Schaubühne
Zur Zeit von Gottscheds Ankunft in Leipzig bereiste die Haackesche Truppe die sächsischen Städte. Auch Neubers gehörten dazu. Ihre Dresdener Aufführungen im Sommer 1724 werden wohl zu Gottscheds ersten Theatereindrücken gehört haben, denn er lobt die betreffenden Stücke von Johann Ulrich König und die schauspielerische Leistung der Neuberin. König, der Hofpoet, hatte maßgeblich die Hand im Spiel bei den Versuchen, am sächsischen Hof deutsche Übertragungen französischer Theaterstücke aufzuführen. Er unterstützte nach Haacke dessen Nachfolger Hofmann und später wiederum die Neubers. Das sah in einem Falle so aus, daß er die Truppe mit kostbaren Kostümen aus dem Fundus des Dresdner Hofes versorgte, so daß das Publikum glauben mußte, die Aufführung sei gänzlich im allerhöchsten Sinne, und sich den neuen Geschmack mit mehr oder weniger Verständnis angelegen sein ließ. (Walter Horace Bruford, Actor and Public in Gottsched's Time, in: German Studies, presented to H.G.Fiedler, Oxford 1938, S.74 f.) Diese Art von Schauspielen hatte zunächst nur eine galante Minorität für sich und fand entsprechend selten statt. (vgl. Gustav Waniek, Gottsched und die deutsche Literatur seiner Zeit, Leipzig 1897, S.104 f.) Was Komödien betrifft, so verachtete man zwar das Stegreiftheater, war aber eher vom Théatre Italien und den Opernlibretti des Théatre de la foire beeindruckt als von der klassizistischen Poetik des Boileau. (vgl. Horst Steinmetz, Die Komödie der Aufklärung, Stuttgart 2.Aufl. 1971, S.16 f.) König gehörte ja, vor allem in seiner Hamburger Zeit, aber auch noch in Dresden, der Zunft der Opernlibrettisten an.
Gottsched verdankte seine Professur dem Einfluß Königs. Was später in seiner Poetik gegen die Oper zu lesen stand, machte ihm König allerdings zum Feind. Zunächst jedoch unterschieden sich Gottscheds Aktionen zumindest äußerlich nicht von den Bestrebungen der Galanten, es sei denn durch die Naivität, mit der er von Plebejern Anteilnahme an der höfischen Kultur verlangte. Er näherte sich dem Schauspielerprinzipal Hofmann mit der Anregung, er solle doch die Dramen des Andreas Gryphius zur Aufführung bringen. „Hofmann antwortete, daß er sie früher aufgeführt hätte, allein jetzt ließe es sich nicht mehr tun. Man würde solche Stücke in Versen nicht mehr sehen wollen, zumal sie gar zu ernsthaft wären und keine lustige Person in sich hätten. Gottsched übersetzte darauf aus den Schäfergedichten von Fontenelle den 'Endimion' und schob zwischen die Akte, nach der Gewohnheit der damaligen deutschen Bühne, die Szenen eines lustigen Zwischenspiels, aber trotzdem weigerte sich Hofmann die Arbeit auf die Bühne zu bringen.“ (Witkowski, Georg: Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig, Leipzig und Berlin 1909, S.416 f.)
Hofmann sah genau, daß er für etwas Derartiges höchstens in den höheren Schichten des Bürgertums ein Publikum gefunden hätte, falls diese sich überhaupt noch für gesprochenes Schauspiel interessierten, und daß er von diesen Leuten nicht leben konnte. Mit der Plebs dürfe er es sich auf keinen Fall verderben, meinte er. Das konnte Gottsched, obwohl er zeitlebens nicht der Typ des galanten Hofschranzen war, nicht gerade für das Populäre gewinnen. Er zog sich jedoch auch nicht auf die Selbstgenügsamkeit eines elitären Gelehrtentums zurück, sondern begann jetzt erst recht seine Reformkampagne für Literatur und Theater. Nur ging es für ihn von da an, und noch auf einige Zeit hinaus, um den Kampf zwischen klassizistischer Tragödie und Oper. Um die Komödie und ihr Publikum kümmerte er sich weniger. Er war in der richtigen Einsicht, von wem das Fortschrittliche zuerst rezipiert werden könne, darauf aus, die oberen Gesellschaftskreise zu gewinnen, nicht die unteren. (Ähnlich verfuhr er übrigens auch im Zuge seiner Sprachreform bei der Personalpolitik der „Deutschen Gesellschaft“, indem er vorwiegend Adlige aufnahm.) Die mittleren Schichten des Bürgertums, aus denen Gottsched doch selber stammte, die anständigen Leute, befaßten sich aus den erwähnten geistlichen Vorbehalten nicht so ohne weiteres mit dem Theater, wie es war; sie konnten aber wohl einer gereinigteren Schaubühne nicht widerstehen, wenn sie ihnen im Zuge ihrer unentwegten kulturellen Orientierung nach oben nahe gebracht wurde.
Daraus ergab sich für das literarische Drama ein Traditionsbruch. Was war nämlich „oben“ los? Der Dresdner Hof hatte sich eine französische Schauspielergesellschaft herangeholt und pflegte das Drama der französischen Klassik. „An ihm hat unter anderem die Neuber ihre Studien gemacht, und auch Gottsched rühmt die Darstellungen, welche er hier zwischen 1725-33 von den Franzosen gesehen. Der französische Geschmack war so herrschend geworden, daß sich die Hofgesellschaft jetzt ebenso im französischen Comödienspiel, wie früher in den singenden Balleten versuchte“. (Prölss, Robert: Geschichte des Hoftheaters zu Dresden, Von seinen Anfängen bis zum Jahre 1862, Dresden 1878, S.135.) Unter „Comödien“ sind hier allgemein Dramen, und wohl gerade Tragödien, zu verstehen.
Wie zu erwarten, stellte die Schauspielkunst dieser Truppe nach zeitgenössischen Pariser Maßstäben nicht mehr das Neueste vom Neuen dar. Die mit den Namen Dubos, Baron, Riccoboni, Batteux verbundenen Untersuchungen, die auf das „Natürliche“ in der Schauspielerei eingingen, hatten auf die eingewanderten Truppen noch nicht gewirkt. Die spielten nach der Überlieferung fort, die von Corneille, Racine, Boileau und der Rhetorik herkam „und ließen sich ihr hohles Pathos nicht stören“. Wenn sich, wie es höchst wahrscheinlich ist, die Neuberin diese Schauspieler zum Vorbild nahm, so begab sie sich in einen zunächst noch unwirksamen Gegensatz zu Gottsched, der wenigstens in der Theorie schon besser beschlagen und dessen Sache die „Natürlichkeit“ war. Seine Einwirkung auf die Schauspielerei blieb allerdings immer durch die von ihm empfohlenen Spielvorlagen vermittelt.
Eine der Ursachen für das spätere Zerwürfnis, die auch von den Nebenumständen als solche bestätigt wird, liegt aber gewiß in dem allgemeinen Gegensatz zwischen höfisch-galanter (und nicht sehr „vernünftiger“) Kultursphäre und der aufklärerischen bürgerlichen Kultur, als deren Protagonist sich Gottsched in zunehmendem Maße profilierte. Die anfängliche Allianz darf darüber nicht hinwegtäuschen, daß die Neubers dabei waren, sich in eine Sackgasse zu verrennen. In seinen Moralischen Wochenschriften der Jahre 1725 bis 1729 legt Gottsched den Grund für Anschauungen, bei denen die König und Henrici und so viele andere nicht mehr mitkonnten. „Die großen Erwartungen, welche die Aufklärung […] in eine gereinigte Schaubühne gesetzt hat, werden bereits hier […] formuliert. Zugleich nehmen 'Tadlerinnen‘ und 'Biedermann' viele Gesichtspunkte, nach denen Gottsched später in der 'Critischen Dichtkunst' seine Dramaturgie systematisch dartut, vorweg“. (vgl. Wolfgang Martens, Die Botschaft der Tugend, Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1971, S.474.) Gottscheds Arbeit für das Theater bestand also zu dieser Zeit darin, daß er ein Publikum für eine kommende Schaubühne erst schuf und somit einer patriotisch gesinnten, mit dem Ausland konkurrierenden Schauspielergruppe Rückhalt gab. Was sich auf der Bühne zuerst an Neuem tat, war dabei nicht unbedingt von Gottsched inspiriert, wenn sich auch Gemeinsamkeit herstellte. Nachdem Neubers die Hofmannsche Truppe übernommen und das sächsische Privileg erhalten hatten, mußten sie sich gegen die Truppe des Harlekins Müller behaupten. In diese Zeit, etwa 1728, fällt die Vertreibung des Hanswurst. Wie die Dinge lagen, so konnte damit nur die Abschaffung der aus ernsthaften und niedrig-komischen Szenen gemischten Haupt- und Staatsaktion gemeint sein.
Ob es aber die löbliche Absicht, das Theater zu verbessern, alleinig war, was dahinterstand, und ob man nicht etwa eine Not zur Tugend gemacht habe, ist fraglich. Der neue Prinzipal Neuber hätte nämlich die lustige Person traditionellerweise übernehmen müssen, weil sie unter den Kollegen am meisten Autorität genoß. Er soll aber dafür gar nicht geeignet gewesen sein. (vgl. Wilhelm Creizenach, Zur Entstehungsgeschichte des neueren deutschen Lustspiels, Halle 1879, S.22.) Um dem Publikum auf kurzweilige Weise die künstlerischen Absichten der Truppe zu erläutern, verfaßte die Neuberin ohnehin von Zeit zu Zeit kleine allegorische Vorspiele, und die Vertreibung des Harlekin war eines davon.
Ludovico Riccoboni hatte in der Theorie schon vor Gottsched den Vorsatz ausgesprochen, mit dem Arlecchino Schluß zu machen. (vgl. Hans Oberländer, Die geistige Entwicklung der deutschen Schauspielkunst im 18.Jahrhundert, Hamburg und Leipzig 1898, S.62.) Es blieb Gottsched vorbehalten, dem deutschen Publikum zu erklären, wieso. Zunächst stieß man sich lediglich an den Zoten und sonstigen Frechheiten, und einen anständigen Hanswurst wollte ein Theaterfachmann wie König nicht missen. Er ging so weit, nach dem Tode Friedrich Augusts I. im Jahre 1733 die Verlängerung des Privilegs für die Neubers zu hintertreiben und dafür zu sorgen, daß es dem Harlekin Müller ausgestellt wurde (wohl auch wegen seiner zunehmenden Animosität gegen Gottsched). Die Neuberin hatte wieder einen Anlaß, Verse gegen den Harlekin in einem Vorspiel unterzubringen. Die Tendenz wurde nun schon radikaler. Harlekins Lustbarkeiten in Komödien galten nun auch nicht mehr als geschickt. Um 1737 scheint die Neuberin den endgültigen Entschluß gefaßt zu haben, den Harlekin aus seinen letzten Positionen zu vertreiben, und es mag nochmals zur Aufführung entsprechender Vorspiele gekommen sein. Von einer direkten Anregung Gottscheds zu solchem Vorgehen war bis 1759, bis zu Lessings Polemik im 17. Literaturbrief, nicht die Rede. Freilich hatte es seine Billigung. Die Theorie dazu stand seit 1730 in seiner Poetik zu lesen. Daß Gottsched zur Propagierung der neuen Richtung die geeignetere Hauptfigur war, ergab sich schon daraus, daß die Neuberin mancherorts auch noch später durch den Geschmack des Publikums gezwungen wurde, Harlekinspossen aufzuführen. Andererseits versäumte kaum eine Moralische Wochenschrift, die sich mit dem Theater befaßte, die „lustige Person“ zu mißbilligen, wofür wiederum Gottsched vorbildlich gewesen sein mochte.
Was war aber für das Publikum zu tun, wenn man erst wußte, was zu lassen war? Für die alten Stegreifkomödien mußte Ersatz geschaffen werden. „So ergab sich für Gottsched und die Neubers die Notwendigkeit, ein neues Lustspielrepertoire zu schaffen, während bisher die Reform vornehmlich das Trauerspiel ins Auge gefaßt hatte. Schon 1734 spielte die Neuberin eine beträchtliche Zahl aus dem Französischen übersetzter Lustspiele.“ (Witkowski, Georg: Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig, Leipzig und Berlin 1909, S.418.) Daß auf die Dauer deutsche Originale vonnöten seien, hatten sich die Reformer auch bisher nicht verschwiegen. Beschleunigt wurde das Bemühen aber von einer kleinen Unverschämtheit eines in Deutschland angestellten Franzosen namens Mauvillon, der in einem in Braunschweig erschienenen Essay die Frage aufwarf, was denn in Deutschland fehle, um Dichter hervorzubringen, und diese Frage beantwortete mit: „Rien, que de l'esprit“. Die nun folgenden Protestreaktionen schlossen auch Gottscheds Sammlung ein: „Deutsche Schaubühne nach den Regeln der alten Griechen und Römer eingerichtet“, die in sechs Bänden von 1740 bis 1745 erschien. 22 der 38 Stücke waren „Originale“.
Das Werk war schon 1736 geplant gewesen, nun aber größer angelegt. Damit erfüllte sich Gottsched einen Programmpunkt, den er schon in den „Vernünftigen Tadlerinnen“ aufgestellt hatte, nämlich, Schauspiele „durch den Druck bekannt zu machen, damit nebst uns auch andere, die nicht Lust noch Gelegenheit haben, dieselben aufführen zu sehen, sich aus deren Lesung bessern mögen.“ (1.Jahrgang, Stück 44., zit. nach: Martens, S.478.) Das Neue lag weniger in der gedruckten Veröffentlichung von Spieltexten, sondern in der Gleichsetzung von Spieltexten mit Literatur, die man beurteilen und von der man gebessert werden konnte, und in dem daraus folgenden Auswahlprinzip. Die Sammlung war geeignet, zusammen mit Gottscheds sonstigen Bemühungen, eine literarische Schule und ein weiteres Publikum dafür zur gleichen Zeit heranzuziehen. Nicht, daß dies in der Luft gelegen wäre. Gottscheds Hausverleger Breitkopf war um 1731 noch nicht sehr dafür eingenommen gewesen, Dramentexte zu veröffentlichen, und der Meister mußte sich für sein Trauerspiel „Cato“ einen anderen Verleger suchen.
Die Schauspieler selbst schienen damals der Auffassung zu sein, daß der Druck eines Stückes ihren Publikumszulauf beeinträchtige. Da dachten sie noch monopolistisch wie die Frühkapitalisten. Man wird wohl Gottsched allein die Initiative zuschreiben müssen, Bühne und Literatur endgültig zu verbinden. Das ging anfänglich gegen den Schlendrian der Praktiker. Indem aber Gottsched die erste große Textsammlung aktueller Dramen herausgab, die bald nachgeahmt wurde, schmälerte er selbst seinen bestimmenden Einfluß. Die Truppen eigneten sich alles an, was zugänglich wurde und Erfolg versprach und waren, obwohl neuerdings ans literarische Drama, so doch nicht an die einzelnen Textproduzenten und ihre Anschauungen gebunden, vielmehr nur vom allgemeinen Weiterfließen der Produktion abhängig. Dadurch wirkte die Marktsituation auf den Bekanntheitsgrad der Dichter. In diesem Entwicklungsstadium der Bühnenliteratur kann man wohl erstmalig den Textproduzenten „bürgerlich“ nennen.