ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK


Es ergaben sich aus der Beobachtung an den Texten im wesentlichen drei Möglichkeiten des Besitzdenkens:

Typ I versteht unter "Gutes tun" alle möglichen Varianten des geschäftlichen oder quasi-geschäftlichen Umgangs mit Werten, die im Hinblick auf das Decorum eine Rolle spielen.

Typ II ermöglicht solchen Umgang durch den Besitz seelischer Güter.

Typ III stellt von diesen Gütern vor allem die Tugenden heraus, deren Wert für den Einzelnen und seine Partner darin besteht, daß man durch sie vollkommener und glückseliger wird.

Aus der Bevorzugung eines dieser Typen erkennt man eine bestimmte ideologische Position.

Ich hatte mir vorgenommen, poetische Texte im Hinblick auf das Besitzdenken zu interpretieren. Dazu ist nach meiner Auffassung von Wissenschaft ein Interpretationsschema vonnöten, das dem Leser auch mitgeteilt werden muß. Ich bin sicher, daß jeder, auch wenn er es liebt, „mit dem Text zu leben“, ihn „unvoreingenommen auf seinen Sinn abzuhorchen“, „mitzuspielen“, zumindest zum Zweck einer klaren Darstellung nach einer Gliederung arbeitet, die den wichtigsten literaturwissenschaftlichen Termini folgt, die sein Verständnis geleitet haben. Nichts anderes wollte ich hier offenlegen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, daß ich die Texte nicht angesehen hätte, bevor das Schema fertig war. Ich sagte schon: von falsch verstandener Imitation szientistischer „Exaktheit“ wollte ich mich freihalten. (Gut informierte und theoretisch beschlagene Naturwissenschaftler werden zugeben, daß diese „Exaktheit“ eine Funktion jahrhundertelanger Einseitigkeit des Erkenntnisinteresses ist.) Ich habe also poetische Texte als Spezialfall ästhetischer Zustände aufgefaßt und mich dabei auf Max Benses informationstheoretische Ästhetik bezogen, um der landläufigen Unterscheidung „fiktiver“ und „nicht fiktiver“ Texte zu entgehen, die für Sprach- und Ideologiekritik völlig irrelevant ist. Ästhetische Wirkungen entstehen demnach aus dem Verhältnis geordneter Zustände von Materialien, die aus einem semantisch determinierten Repertoire nach den Regeln eines speziellen Code selektiert sind, zu der Komplexität des gesamten Gebildes. Weit davon entfernt, ein Maß hierfür ermitteln zu wollen, kam es mir einzig darauf an, Konventionalität und Innovation an poetischen Texten theoretisch in den Griff zu bekommen, die Repertoireabhängigkeit künstlerischer Leistungen herauszustellen. Es gibt verschiedene Ebenen bei jedem Kunstwerk, auf denen das Streben nach dem ästhetischen Zustand zu je eigenen Strukturen der Ordnung führt. Der praktische Vorteil dieser Theorie für die Darstellung liegt darin, daß man sich zunächst einzeln mit jeder Ebene auseinandersetzen kann. Auch erhält die Ideologiekritik von daher mehrere Anhaltspunkte.

Es ging nun darum, die aus unserem Gesichtspunkt am meisten versprechende poetische Gattung auszusuchen und ihre Repertoires zu bestimmen bis herauf zu der Zeitspanne, in der der erste Teil der Arbeit den entscheidenden Wandel vermuten ließ. Auch Konventionen des ästhetischen Code nehmen, wenn sie sehr lange in Kraft sind, die Funktion eines materialen Repertoire an. In Bezug auf die Komödie, unsere erwählte Gattung, sind dies die von der Antike herauf tradierten Theorien. Abweichungen hiervon sind für das 17.Jahrhundert mit der historischen Kennzeichnung „barock“ zu versehen. Einen Terminus „Barock“ halte ich wenigstens in diesem Zusammenhang nicht für möglich. Die Betrachtung der Theaterpraxis in dieser Zeit gab Anlaß zur Unterscheidung des „literarischen Bühnenstücks“ vom „Schauspielertheater“. Deren Konvergenz ist ein Teil des historischen Wandels, um den es mir zu tun war. Bemerkenswert, daß hier keine kontinuierliche Entwicklung, sondern ein dialektischer Umschlag zu beobachten war.

Die Interpretation vorbürgerlicher Komödien sollte einem Einwand begegnen, den mir Herr Prof. Kurt Wölfel in einer Besprechung machte: Besitztümer und Besitzen seien in der Komödie schon immer von zentraler Bedeutung gewesen. Es galt, den Unterschied zwischen „thematischer Verarbeitung“ und „ästhetischer Verwertung“ herauszustellen und das Besitzdenken als etwas Besonderes zu begreifen, dessen Auftreten vor 1730 sporadisch und kaum „verwertet“ erscheint. Den Terminus "ästhetische Verwertung“ schließe ich an die theoretische Vorarbeit an, indem ich die Bedeutung eines ästhetisch determinierten Textstückes in Bezug zu Wertvorstellungen bringe, nicht in erster Linie zu tatsächlichen Sachverhalten. Das anderswo sehr strapazierte Wort „Realismus“ hat hierbei nichts zu sagen.

Als die Quelle neuer Wertvorstellungen für Komödienautoren untersuchte ich Gottscheds „Critische Dichtkunst“. Joachim Birke hat die darin zugrundegelegte Theorie samt ihren Anweisungen für die Praxis von dem lange anklebenden Vorurteil über ihre „Seichtigkeit“ befreit; es blieb mir vorbehalten zu zeigen, daß im Kern dieser Aussagen das Besitzdenken mitspielt.

Fast nur ein Nebenergebnis, aber ein willkommenes: Ich kann mir jetzt erst vorstellen, wie die davon abhängende Komik und Satire das Publikum amüsierte.

Abschluß und Probe aufs Exempel sind für meine Arbeit die Interpretationen aller Original-Komödien aus Gottscheds Sammlung „Deutsche Schaubühne“. Die Quintessenz der hierbei gemachten Erfahrungen ist folgendes:

Der galante Typus des Besitzdenkens wird zurückgedrängt, derjenige der Verbindung von Geschäft und Moral schon teilweise in Zweifel gezogen. Übrig bleibt ein Besitzerstatus dem eigenen Leben, den eigenen Tugenden gegenüber, der natürlich auch aus den Bedingungen der wirtschaftlichen Existenz stammt. Seit es überhaupt einmal Waren gibt, seit mehr und mehr Mittel der Existenz zu Waren geworden sind, nehmen Zeit, Muße, das Schöne, das Tugendhafte ebenfalls Warencharakter an. Je innerlicher und unvermittelter diese erscheinen, um so höher ist ihr Tauschwert in zwischenmenschlichen Beziehungen, um so geringer jedoch ihr Gebrauchswert. (z.B. die Ordentlichkeit in Schlegels „Müßiggänger“.)

Das Neue am bürgerlichen Besitzdenken kann also nicht darin gesucht werden, daß Spontanität von Zweckhaftigkeit verdrängt wird. Diese wird schon seit je, besonders deutlich in der von Norbert Elias herausgestellten „höfischen Rationalität“, von den dominierenden sozialen und politischen Kräften erzwungen, die bei der Lebensgestaltung in acht genommen werden müssen. Nicht „inhaltliche“ Unterschiede sind das historisch Bedeutsame, sondern die Verschiebung von Strukturbeziehungen. Im Hinblick darauf will meine Arbeit ein Beitrag sein zur Erfassung ästhetischer Phänomene in ihrem Verhältnis zu Werten aus dem gesellschaftlichen Bereich. Daraus könnte der Gebrauchswert der Dichtung, auch alter Texte, begründet werden; Werturteile dazu werden wieder möglich und nachvollziehbar.

Eine Fortsetzung der Untersuchung könnte von folgenden Thesen ausgehen:

Im „rührenden Lustspiel“ führt die Affirmation des Besitzdenkens Typ III zur Zerstörung des Komischen; es ist das eigentlich bürgerliche Theater, und es wird dadurch besonders ideologisch, daß es die materiellen Existenzbedingungen der bürgerlichen Klasse abwertet, um den Tauschwert der Tugenden ins Ungemessene zu erhöhen.

Lessings „Minna“ entgeht dieser Entwicklung nur teilweise dadurch, daß er Adlige auftreten läßt und deren ständisch determinierte Verhaltensweisen zu bürgerlichen umdeutet. Es wird von da ab ein Stadium erreicht, in dem der als höchster selbständiger Wert aufgefaßte ästhetische Zustand ideologischerweise den Bezug aufs materiale Repertoire verdunkelt und zu einer neuen Theaterkonvention führt. Den Abschluß dieser Phase bildet Goethes „Die Mitschuldigen“, worin nichts davon mehr zueinander stimmt — und gerade das wirkt wieder komisch. Von da ab stagniert die Tradition des bürgerlichen Lustspiels; es müßte ein völlig neuer Ansatz gefunden werden, um zu erkennen, was außerhalb und danach vor sich geht.