Poesie der Pegnesen
Zwölfter Abschnitt: Aktuell, aber nicht zeitgemäß
Wenn eine Gruppe von Liebhabern der Dichtung durch einen Bruch in
allen äußerlichen Verhältnissen hindurchmuß, gibt es zwei Möglichkeiten,
wie sich ihr Verhältnis zur Literatur entwickelt: Eine Art von Reaktion ist
der Reflex auf die Brüche durch Bruch mit der Tradition und Entwicklung
ungeahnt neuer Formen und Ausdrucksweisen; so etwas ist zu erwarten von
vorwiegend Texte selbst produzierenden, sich zu einer kompromißlosen Darstellung
im Dienste der orientierungslosen Menschen verpflichtet fühlenden,
noch nicht sehr bekannten Schriftstellern, und diese werden mit etwas Glück
die erfolgreichen neuen Schriftsteller, denen, im Nachhinein betrachtet, die
Zukunft gehörte. Das war schon im Zuge des Ersten Weltkrieges so, und mit
solchen hatte sich der Pegnesische Blumenorden, von einigen Ausnahmemitgliedern
abgesehen, schon damals schwer getan. Nun gehörte er — man muß
sagen: natürlich!̈— zu den Saumseligen im Lande, welche auf die Verhältnisse
im Sinne der anderen Möglichkeit reagierten: nur das zu rezipieren, was in
ästhetischer Hinsicht vertraut klang (und wie eng war da die Auswahl, denn
der ideologische Zwang hatte sie ausgedünnt); und was man selber produzierte,̈
ging aus der Bemühung hervor, das Ungeheure so zu verarbeiten, daß
einem wenigstens bei der Wahrnehmung der dichterischen Sprache nichts als
ungeheuer, unbekömmlich, unverdaulich aufstieß. Thematisch ließ man wenig
aus. Die Judenvernichtung zum Beispiel. Aber war nicht auch Theodor W.
Adorno der Ansicht, da hörten die Mittel der Dichtung auf? Was sonst an
Traurigem widerfahren war und widerfuhr, kam schon zur Sprache. Aber die
später in Literaturgeschichten als einzig relevante Neuerungen der Nachkriegszeit
aufgeführten Schocker wurden das nicht.
Rückschau gegen Umschau
Sähen wir heute das Umfeld, das wir lieben, „in Schutt versinken“ — ob wir
derartige poetische Beruhigungspillen akzeptieren wuden, wie sie der
Mundartdichter in seinem schmalen Medizintäschchen bereit hält? Wir regen
uns heute über alles Mögliche und Unmögliche auf, und die Leute damals̈
schienen sich über den unerhörten, vorher nie so erlebten Ruin nicht wirklicḧ
aufzuregen. Waren sie vom Schrecken abgestumpft? Oder durften sie’s nicht
zeigen?
Eine Traueranzeige auf JOHANN GREULEIN, Drechslermeister und Volksdichter,
erschien in einer Nürnberger Zeitung am 11. Januar 1945, neun Tage nach dem̈
schlimmsten Bombenangriff, sieben Tage nach seinem Tod in einem weiteren.
Dazu ein Nachruf mit angehängten Versen eines anderen Mundartdichters,
GOTTLIEB MEYER:
Einige Worte zu seinem Andenken
Johann Greulein, der Alt- und Ehrenmeister der Drechslerinnung und
bekannte Mundartdichter, ist nicht mehr. Vor kurzem verunglückte er
tödlich während eines Fliegeralarms. In unzähligen besinnlichen und
launigen Dichtungen hat er uns mit erstaunlichem Talent […] so manche
stille Freude bereitet. […] seine Verse lassen ihn an die besten
Mundartdichter, wie Grübel und Weikert, heranreichen. [̈…] Ein halbes
Jahrhundert war ihm nun seine geliebte Drechslerwerkstätte im Brunnengäßchen
sein Paradies“, wie er sie selbst in einem seiner Gedichte
nannte.
Du treier Mensch, du bist öitz nimmer,
Still steiht dei Federn und die Drehbänkrod;
Göih ih durchs Brunnagäßla, sogi immer
Sunst weiter nix als wöi dös Wörtla: schod!
Besinnli sin dei Verschla, oft sins heitri Gschpäßla,
Selbst wos du drechslt houst su fein und rund;
Wos Gscheits is immer kumma roh [herunter] vom Brunnagäßla:
Wos von dir stammt, gibt vo dein Könna kund.
Dei „Paradies“ houst gsehng in Schutt versinkn,
Dein löibn Nürnberg geltn deini letztn Grüß;
Ich siech di an der Schwelln der Öiwigkeit nu winkn.
Und dann bist nei zur Tür ins Paradies.
Liebala.
Pfarrer GEORG TÜRK bemühte sich, zur ersten Adventszeit nach Kriegsende
etwas Erbauliches zu liefern, was Zeitbezug haben sollte, aber indirekten, weil
in die Vergangenheit projizierten. Das Evangelisch-lutherische Sonntagsblatt,
Nr. 3. 4. Dezember 1945 und 4. 24. Dezember 1945, brachte seine Erzählung
„Nun schleußt er wieder auf die Tür…“ Sie spielt im Jahre 1830. Stiftungskassier
Leopold Degenhardt geht durch den verschneiten Wald. Er denkt an die
Katastrophe des französischen Heeres im Rußlandfeldzug 1812. Ein Heimkehrer
aus diesem Krieg hat ihm eröffnet, daß sein Freund Jakobus Berger ihn bei
der Bewerbung um eine Stadtschreiberstelle als einen Gegner Napoleons beim
napoleonbegeisterten Bürgermeister verraten hatte, und starb bald darauf.
Degenhardt nimmt sich vor, den ehemaligen Freund zur Rede zu stellen, und
bemerkt nach einiger Zeit, daß er sich verirrt hat. Ein Glockengeläute hilft ihm
bei der Orientierung. Bald darauf steht er in der Stube eines Dorfschulmeisters.
Dieser eröffnet ihm, daß Jakobus Berger nicht mehr im Amt sei, sondern
gelähmt an den Lehnstuhl gefesselt. Er redet Degenhardt zu, ihn aufzusuchen
und ihn wissen zu lassen, daß er ihm vergeben habe. Dies geschieht. Allerlei
erbauliche Kirchenliedverse sind hineingearbeitet, sowie harmlose Nebenfiguren.
Stärker kann der Kontrast zu Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür“
nicht sein, aber das Geschehen im Feld ist ja auch ausgeblendet.
Am 26. Januar 1946 ereignete sich ein umfänglicher Vortragsabend, zu dem
ein Programm erhalten ist, bei dem um Fortführung ringenden Pegnesischen
Blumenorden. Den Anfang machte ein Vortrag: "Die geistige Aufgabe der
Gegenwart“. Es folgte viel Vergangenheit im ersten, ernsten Veranstaltungsteil:
I. 1) J.W.v.Goethe: aus Iphigenie IV. Akt, V. Auftr.
Parzenlied
2) Agnes Miegel: Die Nibelungen
3) Felix Dahn: Krimhilde
4) Eduard Möricke: Die traurige Krönung
5) Theod. Fontane: John Maynard
6) Fr. v. Schiller: Die Ideale
kurze Pause
II. 1) Börries Frhr. v. Münchhausen: Das alizarinblaue Zwergenkind
2) C. Weitzmann: Der Doppelkümmel
3) E. G. Seeliger: Hans Bausteweg von Hosenleder
4) Max Jungnickel: Trompete
5) Manfred Kyber: Die leichtsinnige Maus
Nach der Pause durfte es dann „heiter-besinnlich“ weitergehen. In einer
entsprechenden Veranstaltung am 4. Mai 1946 ging es dann bloß besinnlich
zu. Hervorzuheben wäre Rilkes "Cornet“ — wegen des verherrlichten Todes
im Kampf. Da diese Blätter unter die Archivalien eingelegt sind, die auf Dr.
VON PLÄNCKNER zurückgehen, darf angenommen werden, daß die Rezitatorin,̈
wie zu anderen Malen, seine Frau war.
Einige Tage später zeigte der zeitgemäße Präses, daß seine unzeitgemäße
Lyrik schon immer zeitlos wertvoll gewesen war. Im Vortragssaal des Germanischen
Nationalmuseums lasen am 12. Mai 1946 die Schauspieler Karl
Pschigode und Klara Klotz "Dichtungen von Dr. Max Schneider", und die
Zeitung schrieb darüber:
Bis vor einigen Jahren ein Gedichtband Max Schneiders erschien, der
den Titel "Schatten der Antike" trug, war der Geist, der hier atmete, und
die Form, die er sich baute, vom Tag übertönt; aber dennoch fanden die
Gedichte weit über den lokalen Kreis hinaus ihren Wiederhall bei Vielen,
die in den zuchtvollen Bildern einer humanistischen Weltschau hohe
Sinnbilder und zugleich in dem Einklang von geprägter Form und
beseeltem Gehalt die Erfüllung untilgbarer Forderung sahen.
Eine Auswahl dieser Gedichte bildete den Mittelpunkt, aber auch den
Höhepunkt der Vorlesung […]
Die reiche, fast ein wenig zu reiche Auswahl der Gedichte erwies im
übrigen die Vielgestaltigkeit der Formen, in die Schneider seine seelischen
Ergriffenheiten, seine menschlichen Rufe, sein beseligtes Naturerleben
kleidete. […] Die Uebertragungen, besonders aus dem Altenglischen,
aus dem Bretonischen, verdienen noch besondere Erwähnung.
[…]
ARTUR KREINER war auch wieder da, oder noch da. Der als Arzt segensreich
tätige und als Heimatforscher hochgeachtete Mann betreute als Redakteur
das „Amberger Wochenblatt“. Dort erschienen aus seiner Feder allerhand
gemütvolle Geschichten, von denen einige auch ins Pegnesenarchiv gelangẗ
sind. Als maschinenschriftlicher Entwurf ist vorhanden, was angesichts des
arg mitgenommenen Irrhains Balsam auf die Seelen sein mußte, eine Erzählung
"Der Rosen-Garten". Auszug:
Eine Meile nördlich Nürnbergs, in seinem berühmten Irrgarten, gab sich
der pegnesische Blumenorden die Ehre, das Familienfest seines hohen
Gönners, des Kriegsrates Paumgartner, dessen Sohn Georg Gabriel sich
heute, am 24. Juni 1667 [vor 1678!] mit seiner Susanne Schlüsselfelderin
vermählte, gebührend mit einem auserlesenen Spiel zu feiern.
Vor den Gästen bildeten vielerlei Zierbäume, im Halbkreis aufgestellt,
eine Art Bühne. Der Laubeneingang zum eigentlichen Irrhain war als
hohler Fels verkleidet, aus dem nun zuerst ein Pegnitzschäfer mit
einem blühenden Rosenbäumlein in der Hand, feierlich heraustrat. Er
begann mit erhobener Stimme:
Sinnbilder sind geistige Gaben/
die kein Wert in Gulden haben/̈
aber desto mehr in Geist.
Nun/ so nehmet denn in Gnaden/
was der Nymphen und Dryaden
Chor/ uns Euch zu geben heisst:
Wollet Ihr der Wunder warten/
pflanze ich in Baumes-Garten
dieses edle Rosenblut/
Lass es /Gott/ gedeihen gut!
Und während ein unsichtbarer Frauenchor [einen solchen dürfte es
1667 nicht gegeben haben] diese letzten Worte wiederholte, sprangen
hinter allen Buchen Nymphen hervor und betteten die Rosenwurzeln in
die Erde, bis der Stamm stand.
Da trat auch schon von der anderen Seite ein römischer Kriegsmann
mit Panzer und Lanze herzu und polterte:
Rosse werden Euere Rosen„
mit den Hufen ganz zerstossen/
Mars wird herrschen/ Mord und Brand!“
Aber bereits beschwor ihn, im Hintergrund der Höhle erscheinend, eine
weissgekleidete Frauengestalt mit einem Palmzweig:
„Ihr bemoosten Felsenklüfte
hallet/ dass man Frieden stifte
in dem heiligen Vaterland!“
Indessen hatten die Nymphen einen Reigen gebildet und sangen:
„Was Ihr wünschet auf der Erde
ein Stück Eures Glückes werde!“
„Es werde!“ jubelte der Gegenhall hinter den Bäumen.
„Holet nun vom hohlen Steine,“
„Eine!“ antwortete der Gegenhall hinter den Bäumen.
„Wählt mit Weisheit — Sophia!“
„Ia!“ wiederholte der Gegenhall hinter den Bäumen.
In diesem Augenblick aber lachte eine Mädchenstimme aus dem hinteren
Zuhörerkreis so hellauf, dass sich alle Gäste entrüstet nach ihr
umschauten, um selbst hellauf zu lachen, als sich herausstellte: ein
Bäschen aus dem Zweiggeschlecht der Paumgartner von Holnstein,
namens Sophia, hatte sich betroffen gefühlt.
MAX SCHNEIDER muß unter so etwas ziemlich gelitten haben. Als HANS
HUBEL am 4. Januar 1948 über Wesen und Entwicklung der expressionistischen
Dichtung in Deutschland sprach, bemühte er sich, der immer noch
negativen Bewertung etwas entgegenzusetzen, an dem man beinahe ein literarisches
Programm erkennen mag; jedenfalls wußte er, was er nicht mehr wollte.
Zeitungsausschnitt mit Bericht von H.B., daraus:
„Der Redner brachte Beispiele von Albert Ehrenstein, Alfred Lichtenstein,
Georg Heym, Else Lasker-Schüler und Kurt Heynicke zum Vortrag und stellte
sie Hebbelscher Dichtung gegenüber. Den Abschluß des lehrreichen Vortrages
bildeten Lesungen aus dem unartikulierten Gestammel des Dadaismus nach
dem 1. Weltkrieg. Der Vorsitzende des Ordens, Dr. Max Schneider, betonte,
daß der Expressionismus den ,konventionellen Kitsch‘ — die ,Butzenscheiben-
Lyrik‘ — beseitigt habe und der künstlerischen Wahrheit diente"
Daß SCHNEIDER sich auf etwas Andersartiges vorurteilsfrei einlassen konnte,
zeigt sein Vortrag über das französische Drama der (damaligen) Gegenwart,̈
den er in der 2. Tafelrunde 1948 am 6. April um 1/2 8 Uhr im Albigsgarten
hielt. SOPHIE VON PRAUN referiert:
„Das französische Drama der Gegenwart verfassen überwiegend Dichter,
die Anhänger des Existenzialismus sind. Seine Grundgedanken gehen aus vom
Lebensgefühl, das ausgeht vom Ichbewußtsein. Es unterscheidet sich von dem
der Deutschen, z.B. Karl Jaspers und Heydecker [sic; gemeint ist Heidegger].
Der französische Existenzialismus ist eine Nachkriegserscheinung, schon am
Ende des 1. Weltkrieges, ein von Angst erfülltes Daseinsbewußtsein. Er ist
mehr ein Erlebnis als eine Lehre und beruht auf dem Gefühl des Alleinseins,
des Hineingestelltseins in eine trostlose Welt. Der Existenz.[ialismus] leugnet
Gott und Vorsehung. […] Willensfreiheit ist nicht ein Geschenk des Himmels,
nicht ein sittliches Postulat. Auch Umwelteinflüsse läßt er nicht gelten. [̈…]“
Vortragsabend 25. 10.8 [1948]
„…] Dr. Schneider spricht über Amerikanische Dichtung in Deutscher Sicht.“
[Erwähnte Autoren: Lewis Sinclair, Ernest Hemingway ("der Meister des
impressionistischen Romans“), Thornton Wilder, Pearl (S. Buck?), Jack London,
C. A. Porten, Thomas Wolfe, William Saroyan, Margaret Mitchell, Christine
Weston, Longfellow, Emerson, Edgar Allan Poe, James Russel u. (sic)
Lowell, Walt Whitman, Edwin Arlingson, Robert Frost, Wallace Stevens, Carl
Sandburg, Conrad Aiken, Mae Leich, Vincenz Benel (sic), Merril (sic) Moore,
William Faulkner.]
Jahresbericht 1950
„…] Am 3. Januar fand bei Sophie von Praun ein Jugendabend statt, um
dessen Ausgestaltung sich die Schwestern Thoma […] und die Geschwister
Beck sowie Joachim Foth verdient machten. Renate Thoma sprach über C.F.
Meyer […] und mit verteilten Rollen wurde gelesen v. Hofmannsthal ,Tor und
Tod‘. […] Im Goldenen Kleeblatt sprach vor einer zahlreichen Hörerschaft
Herr Dr. Max von Husen-Reicke über Die Forsytes und Die Buddenbrooks,
Verfall der bürgerlichen Familie nach den beiden Romanen v. Galsworthy und̈
Thomas Mann. (25. III)“
Auch im Vorstand des Blumenordens gab es den Hunger nach lange verpönter
oder einfach nicht zugänglicher Literatur. Dieser führte in der Gesellschafẗ
der 50er und 60er Jahre auch zu dem Erfolg diverser Buchclubs, von
denen man für einen feststehenden Monatsbeitrag eine Auswahl in hohen
Auflagen gedruckter Werke beziehen konnte, die älter oder neuer, in- oder
ausländisch sein konnten, jedenfalls wurden sie nach weltoffenen und vorwiegend
ästhetischen Gesichtspunkten ausgewählt. Der Blumenorden hatte mit
seiner Leihbibliothek früher etwas ähnliches versucht, aber diese konnte aus
Geldmangel nicht auf neuen Stand gebracht werden.
Als MAX SCHNEIDER am 25. Januar 1950, für manche nicht überraschend,
aber plötzlich, die Reißleine gezogen hatte, ließ ausgerechnet der so biedere
WILHELM MALTER ein ungeheucheltes Bedauern über diesen unwürdigen
Abschied erkennen. Er packte es in einen hofnarrenartigen Mundart-Auftritt:
Was nicht im Jahresbericht stand.
Den Joahresbericht, den hobn mer ghärt.
Der hout su manches uns erklärt.
Freilein von Praun hout si gebn Möih,
Er woar aa richti und woar schöi.
Und doch hobn manche gmault und koppt.
Sie hout goar manchn zu wenig globt.
Sie hout goar manchn ganz vergessn!
Es gibt jo immer dou Finessen.
Vergessn houts in Maler Trost.
der woar fei wärkli ganz erbost,
Daß sie bam Irrhainfest net gschriebn,
Wöi ers su fein und nobl triebn.
Er hout a Fäbl für die Kutschn,
Tout über Land doumiet gern hutschn.
Wenn der a alte Postkutsch waß,
Nou lefft er weit, dös macht’n Spaß.
Am löibstn kaafert er döi glei
Und setzert si die ganz Zeit nei. - -
In fröihern Vurstand, Dokter Schneider,
Den hot mer aa net rausglobt, leider
Und aa in Drescher-Haußen net,
Der oftmols Sängerinna nett
Zu Spiel und Gsang bringt af die Baa.
Dös wundert mi fei goar net. Naa,
Der hout di Maadla, zünfti, toll,
Der zöigt döi her af seiner Scholl
Und wöi ers braucht, su setzt ers ei.
Ja, uns kummt dös zugout dabei. - -
Nou ghärat aa fei dös nu gsagt,
Daß mer an Vurstandstiesch stets macht
Und reserviert dou droh die Plätz
Fürn ganzn Ausschuß, ihre Schätz
Und all ihrn Anhang samt der Stützn,
Denn döi wolln net wo andersch sitzn. - -
Nou hätt mer aa nu könna sogn,
Wöi ausgezeichnet unsern Mogn
Döi Kouchn vom Kaffee Walther tenna
Und wöi mir dou fest schlemma könna.
Is aa der Beitrog noni blecht,
Drei Tortn schmeckn gwieß net schlecht,
Ja, su wird afpaßt, löibe Leit!
Wenn an amol a wenig was freit,
Glei is die scheele Mißgunst dou,
Beneid an, teiflt af an zou. –
Wöivill hobn heier net berappt?
Und wöivill hobn mer Auslogn ghabt?
Wos hout ös Irrhainfest uns kost?
Wos gebn mer aus für unser Post?
Wöivill sen alle Freitog dou?
Kummt net a Nouchwuchs ball dazou?
Der Präses hout sei Soll erfüllt,
Hout gsorgt für Nouchwuchs. Bist im Bild?
Ja, kummertn die Freind net dou
Vo dena Junga ab und zou,
Es stennert uman Nouchwuchs schlecht,
Su daß mer schöir verzweifln möcht.
Zöigts denn die Junga goar net hi
Zur Dichtkunst, he? Zur Poesie?
Mir tenna’s Alte zwoar verehrn,
Doch aa kann Fortschritt net verwehrn.
Mir schwelgn net blouß in Schäferversch,
Naa, naa, dou werät mer jo närrsch.
Ba uns härst Dichter, döi nu lebn,
Ihr eigne Verschla von si gebn. - -
Goar manches wär nu zu berichtn,
Dou derfert iech bsi morgn zou dichtn.
Etz ober här i löiber af,
Sunst werds a Gwäsch und a Gewaaf - -
Etz könnt er jo glei wider sogn,
Daß i nu manches unterschlogn.
I mog etz nimmer und mach Schluß,
Sunst schaff i manchen blouß Verdruß. –
Dös wollt i net. I wollt jo blouß
Daß ihr recht lacht und daß wos lous.
Drum nix für ungout, ihr Pegnesn!
Hob i eich die Levitn glesen!
W.[ilhelm] M.[alter]
Am Prolog zum Irrhainfest 1951, von EMIL BAUER verfaßt, ist
dagegen zu sehen, wie ein weihevolles Sprechen den Platz behauptet,
schlichter zwar als das staatsverherrlichende, edelprächtig, wenn
auch in maßvoller Tonlage, poetisch in sehr hergekommenem Sinn,
also: ganz und gar nicht gegen die Erwartungen der Zuhörer anlaufend.
Es ist halt das Geläufige, was im Blumenorden Konjunktur hat,
damit man seine Einstellungen pflegen und in eine verblasen-humanistische Abdämpfungskultur emporläutern kann, die um so unglaubwürdiger herauskommt, je emphatischer sie behauptet
wird. Gerade das erklärt die anhaltende Verehrung und Beliebtheit EMIL BAUERs
im Blumenorden von den 30ern bis in die 60er Jahre — und das unvermittelte
Abbrechen seines Andenkens danach.
Erhebt euch wieder wie in Segensjahren!
Der Rasen blüht in sommerlicher Fülle;
Gewesenes versinkt in Abgrundstille —
Vergesst, was ihr erduldet und erfahren.
Aus hartem Schicksal wuchsen unsre Tage —
Wir wachsen mit, gehorchend dem, was wird.
Seid frei im Walde! Ledig und entschirrt!
Lasst hinter euch den Zweifel und die Frage,
Vergangenes sei Traum die Zukunft Sage.—
Und tretet ein, hier, wo die Wipfel schweigen,
Von Urgeheimnis zauberhaft umhult,̈
Wo Pan die Flöte bläst zum Sommerreigen,
Und seinen Durst am Quell des Lebens stillt.
In diesem Irrhain wandeln die Sekunden
Wie Perlen aufgereiht an goldner Schnur.
Hier haben einst, versöhnt mit der Natur,
Sich artverwandte Geister eingefunden,
Und hinterliessen ihres Wandels Spur.
In kühlen Stein, auf Tafeln, erzgetrieben,
Lest ihr von ihres Daseins tiefem Drange.
Es währte seine Zeit, ob kurz, ob lange —
Es war! Und siehe — manches ist geblieben.
Sie schrieben Verse, oft wie ein Gebet,
Oft blanke Lust, am Edlen sich zu üben.
Und wie ihr kommt, und wie ihr fröhlich geht —
Bedenkt, wie euer Erdensein verweht,
Und ob ihr euch auf Tafeln eingeschrieben.
Und wenn ihr dichtet, dichtet so wie sie,
Verbunden einer reinen Melodie,
Zu welcher Gott euch seine Gnade lieh —
Und hört nicht auf, was edel ist, zu lieben.
Emil Bauer
Mit Verzögerung treten Schilderungen, Erzählungen, Berichte, Faktenaufstellungen
an die Öffentlichkeit des Landes, das sich im wirtschaftlichen
Aufschwung und im seelischen Abschwung befindet. Je trockener das
Unheil, Verbrechen und Elend konstatiert wird, desto mehr geht es unter die
Haut. Vergangenheitsbewältigung ist das ausgegebene Leitwort, Aufstörung
des Verdrängten ist, was wirklich geschieht. Erst in den mittleren und späten
50er Jahren werden die einschlägigen Werke von Grass, Böll, Walser u.a.
weithin bekannt und einflußreich. Gegen die Art von betulicher Literatur, wie
sie im Blumenorden floriert, rennt die Gruppe 47 an und wird bald selber wieder
überholt. Im Zuge dieser Entwicklung ist das kulturelle Geschehen im
Blumenorden während des Präsidiums THOMAs ein retardierendes Element.
Zunehmender Realitätssinn
Zum Irrhainfest 1952 hatte sich WILHELM MALTER etwas einfallen lassen, was
ganz seltsam aus der Zeit gefallen schien — das will heißen: Seine Kitschigkeit
fiel bei unterdessen geschärftem Realitätsbewußtsein einfach stärker auf, als
sie beim wenige Jahre vorher verfaßten KREINERschen Machwerk aufgefallen war.
Tanz der Horen. Ein Spiel fürs Irrhainfest von Wilhelm Malter
Personen:
Vergangenheit Gegenwart Zukunft——
[Ein in herkömmlicher Weise allegorisches Streitgespräch]
Brief an Thoma vom 13. Mai 1952:
Verehrter Herr Ordenspräses!
Es tut mir sehr leid, aber ich kann Ihr gestrenges Urteil über den Malterschen
,Tanz der Horen‘ nicht teilen. Im Gegenteil, das Stücklein gefällt mir recht gut.
Ich schwärme ja sonst nicht für Allegorien und Symbolismus, aber fürd Festspiel
ist sowas von altersher üblich [̈…] Dies meine unmaßgebliche Meinung.
Ihr ergebener Wilh. Schmidt
Sehr geehrter Herr Doktor!
Auch ich finde das Stück recht nett. Es ist nach meiner Empfindung kein
Machwerk, wie so manches Irrhainspiel. Viele Grüße Ihnen allen
Lilli Schmidt.
THOMA war auf der richtigen Spur. Es half ihm bloß nichts.
GOTTLIEB MEYER stellte sich in seinem Beitrag zum Irrhainfest 1952 schon
etwas geschickter an. Seine Fiktion, der alte GRÜBEL könne einfach einmal
aus dem Grab gestiegen sein, um das Irrhainfest zu besuchen, ist an sich zwar
nicht aufregend neu — man denke an das Spiel des HANS SACHS "St. Peter
bummelt mit seinen Freunden auf der Erden“, auch an frühere Irrhainfeste —
aber die Durchführung ist so detailverliebt, daß es zusammen mit der geglückten
Maske, in der er auftrat, eine erhebliche Wirkung getan haben muß. Und
er nahm Bezug auf neueste Geschehnisse in der Stadt:
„Grübel besucht auch heuer wieder das Irrhainfest bei Kraftshof“
Die ihr die deutsche Sprache pflegt,
ich hoff’, ich stör’ nit eiern Frieden
und bitt’eich herzli — is eich rächt?
lousst mih in meiner Mundoart ried’n.
Nou soog is leichter, woosi denk,
wall ich eb’m an mein’m Nernberg henk’.
[…]
Mei Aug, sen schwach, mei Gmerk lässt nouch,
ih bin halt zwaasiebz scho g'wes'n,
drum hobi mers dou in dös Bouch,
schöi aafgchrieb'n und öitz koh is les'n’.
Mei Brill'n, öi licht im Groob verrost,
mih, hout's amoal zwanz'g Guld'n kost't.
Da Tout'ngroober hout g'sagt heit:
"Sihgst, drauss vur'n Kerchhuf söiht a Tax'n,
und bis Kraftshuf naus is fei weit,
wennst z'Fouss löfst, schnackl'n da di Hax'n,
sei g'scheit, foar naus, mach ders bequem’’—
und hout mer'n Kerchhufschlüssl geb'n. ———
Am Schöissgroob'n, woari z'erscht heit fröih,
wou doamoals is mei Wohnhaus g'stand'n;
ich souch und souch — mach mer die Möih,—
weck is öitz — nix is mehr vorhand'n —
und mih am Brünnla dort am Sand ̈—
hobn's in an Bunker nei verbannt.
Nou drauss am Plärrer hob'ms mer g'sagt,
dou wol'nls a ächt houch's Haus hiebaua;
ich hob döi grouss'n Kroahn betracht',
und maan halt Nernberg wird nu schaua,
Wenn ma su houchi Baut'n richt,
dass z'letzt nou wöi Nei-York aussicht.
Hob ah vom Sinnwell drob’m rohg’schaut;
vill Unkraut gibt’s nu und Ruina,
doch zwisch’n nei wird nei afbaut,
drum hobi heier nemmer griena.
Da Weinstod’l und manches Haus
sehg’n schöina als wöi fröiher aus.
Und mancha Gieb’l is eig’rüst't,
die Kaiserstallung wird wöi fröiher. —
Da Herrgot geb, wennst afbaut bist,
mei Nernberg, nou sollst widda blöiha.
Drum stimmt a dös vo Nei-York nitt,
dös vurhin woar a aohgschmoog's Gried.’
[…]
Da Kutscher winkt öitz mit da Leiner,
der fährt mih öitz durchs Knuubalasland;
ich wünsch zum Schluss, wöi a Lateiner:
Pegnesi, vivant et floreant.
Wenn ich öitz fort bin, nou sagt froh:
Wass Gott! Heit woar der Grüb̈’l dou.
Eine kommende Dichterin, die sich in der zurückgenommenen Weise ausdrückte,
wie es Kolleginnen in den zwanziger Jahren schon getan hatten, und
gerade damit zur zeitgenössischen Lyrik aufschloß, war ELISABETH FÜRST.
Ährenfeld
Blaugrauer Junihimmel
still bedeckt;
leiser Lerchenjubel,
im Gewölk versteckt.
Blaßgrau atmen die Ähren
in dem kühlen Duft;
regenbogenfarben
spielen sie mit der Luft.
An den stillen Rainen
blüht der Mohn so rot
und die Ähren flüstern:
Brot — Brot ——
Nein, das ist keine Blut-und-Boden-Dichtung, das ist unsentimentale, genaue
Naturbeobachtung mit einer Schlußreflexion, die man in diesen Jahren dankbar
anstellen konnte, nachdem man der ganz realen Hungerzeit entronnen war.
Noch waren, wie man an den Anfragen der Musikwissenschaftlerin ZEIM
gesehen hat, die Verbindungen nach Mitteldeutschland leichter aufrecht zu
erhalten als nach 1961. Eine Tochter EMIL REICKEs lebte in Erfurt und schrieb
von da am 18. März 1952:
„Liebe Frau Thoma-Reicke!
Ihr lieber, ganz überraschender Gruß mit den schönen, hier so raren Dingen
hat uns sehr gefreut und danken wir Ihnen und den Pegnesen recht herzlich
dafür.
[…] Durch meine Freundin, Lia Bauer, werden Sie vielleicht gehört haben,
daß unser Leben sich zum Guten gewendet hat. Mein Mann ist nach langen
sieben Jahren (erst Gefangenschaft, dann Hilfsarbeiter) endlich wieder in seinem
Beruf untergekommen. […]
Durch Bauers und Malters erfahre ich von Zeit zu Zeit, wie es bei den Pegnesen
aussieht und bin ich dann wenigstens in Gedanken dort. […]
Grüßen Sie bitte alle Pegnesen, die sich noch an mich erinnern können,
von mir uns seien Sie mit Ihrem lb. Gatten, auch im Namen meines Mannes,
herzlich gegrüßt
von Ihrer
Hildegard Jahn-Reicke.“
Von ihr ist ein Blätterstapel mit 24 Gedichten vorhanden, die allermeisten
über Pflanzen und Naturerlebnisse; ein untypisches mit möglicherweise zeitgemäßem
Bezug lautet:
Vieles sinkt in uns hinein
und wir gehen manchmal wie beladen
fühlen fallen uns wie einen schweren Stein
hoch herab von schwindelnd schmalen Pfaden.
Nun dies wissen, wie ein stetes Licht:
All dies musste sein. Dein Ja
ward gehört, verhallte nicht.
Nimmer fällst du. Erde hält dich.
Alle Dinge sind dir zärtlich nah.
Es gab einen Dr. Peter Franz Stubmann, Hamburger Senator a.D., der unter
dem Namen Thomas Klingg Weihnachtslegenden und einen Roman schrieb;
sein Bekanntheitsgrad muß beträchtlich gewesen sein. Jedenfalls stellte er sich
so dem Blumenorden dar und vereinbarte einen Lesungsabend:
10. Mai 1952
„[…] Sehr geehrter Herr Landgerichtsdirektor!
Unter Bezugnahme auf Herrn Rudolf Tauer, den Verleger meines Legendenbändchens
"Der Stern des Gewissens„“, der die Güte haben wollte, sich miẗ
Ihnen auch telefonisch in Verbindung zu setzen, wende ich mich an Sie mit
der Bitte, ob mir der Pegnesische Blumenorden wohl die Gelegenheit geben
könnte, aus meinem Werk zu lesen. […]“
[Reklameblatt "Zwölf Urteile über Werke Thomas Klinggs.̈“ Daraus:]
Ueber "Der Stern des Gewissens“, 1948. Verlag Die Egge„“, Nürnberg.
Fränkischer Tag, Bamberg, 9. 12. 1948:
„…der Verfasser gibt aus dem Schatz der Gedanken und Träume eines reifen
Lebens sechs deutsche Weihnachtslegenden von hoher Schönheit und
ergreifender Stimmungsgewalt… […]“
Zeitschrift "Seele„“, Regensburg, Jgg. 1949, Heft 7:
"Thomas Klingg hat die klassische Erbschaft schönen ruhigen Erzählens,
nicht ohne innere Dramatik, im Leibe […]“
26. Mai 1952
„…] Was die Ankündigung des Abends angeht, so erlaube ich mir vorzuschlagen,
folgende Formulierung zu geben: "Th. Kl. spricht und liest aus seinen
Arbeiten, insbesondere aus den Nürnberger Kapiteln seines Regiomontanus-
Romans ,Ein Weltbild zerbricht.‘
Da mir an dem ideellen Erfolg des Abends gerade in Nürnberg liegt, bitte ich
— wenn möglich — die Presse und den Rundfunk (Studio Nürnberg Dr. Dollinger)
einzuladen, vielleicht auch die bedeutenderen Nürnberger Verleger, nicht
zuletzt die Fa. Hans Carl, zu der ich einmal Beziehungen gesucht habe. […]“
Postkarte vom 10. Juni 1952:
„…] Ich treffe mich um 13 Uhr 35 bei Ankunft mit Dr. A. Kreiner, werde
dann in der Stadt essen […]“
17. Juni 1952
„…] Sehr zu verehrender Herr Dr. Thoma,
Es ist mir aufrichtiges Bedürfnis, Ihnen und Ihrer ehrwürdigen Vereinigung̈
nochmals hierdurch auf das Herzlichste zu danken für die sehr freundliche
Aufnahme, die Sie mir und meinem Werk am 13. Juni bereitet haben. […]
Wir fränkischen Schriftsteller liegen ja — wie leider ganz Franken infolge der
Zonengrenzen — weit abseits der heutigen Zentralen München, Frankfurt, Bonn
und Düsseldorf und sind daher doppelt dankbar, dass es Ihre Vereinigung miẗ
ihrem alten vornehmen Ruf für ihre Aufgabe hält, dem gegenwärtigen Schriftttum
und seiner Geistigkeit gerade in Ihrer — ach so wundgeschlagenen — grossen
Stadt eine wesentliche Resonanz zu verschaffen. […] Thomas Klingg“
Postkarte vom 25. Juni 1952, in der Klingg dafüt dankt, daß ihm die
Besprechungen seiner Lesung aus Nürnberger Nachrichten, Nürnberger Zeitung
und Fränkischer Tagespost zugeschickt wurden. Er bedauert, daß die
Rezensenten beim zweiten Teil seiner Lesung nicht mehr anwesend waren,
entschuldigt sie aber wegen der Hast des Zeitungsbetriebes und ist schon froh,
wenn sie sich überhaupt mit seinem Roman auseinandergesetzt haben.
Im Archiv findet sich eine erschütternde Ausarbeitung einer Frau Dr. von
Hülsen-Reicke über die Lage der Frauen in der polnischen Verwaltungszeit.
In den 14 Schreckensmonaten 13, davon unter Polenherrschaft ——
waren wir zu jeder Stunde des Tages und der Nacht von 4 Seiten her in
unserem besonderen Frauen-Lebenskreise bedroht und, sowie die
Gefahr eintrat, völlig hilflos preisgegeben:
1. in Heim und Häuslichkeit durch Plünderung, Einbrüche und Raubüberfälle
(besonders nachts), durch Zwangseinquartierung, Möbeltransport,
Zusammenpferchung in Keller und Bodenkammer bis zum völligen
Herauswurf.
2. in der Ernährung der Familie durch die polnische Inflation, die selbst
Liebesgaben aus dem Ausland zum 200fachen Preise nur hergab […]
3. an Leib und Leben durch Schläge, Fausthiebe, Fußtritte, Gummiknüppelprügel,
Vergewaltigung, Bedrohung mit Schußwaffen
4. an der Arbeitskraft und Leistung durch die jede Stunde mögliche
Abrufung zu jeglicher Art von Arbeit auf unbestimmte Zeit bis zur
wochenlangen Verschleppung zur Zwangsarbeit im Gebirge.
[…] Ob eine Amtshandlung oder ein Banditenstreich vorlag, war niemals
festzustellen. Eine Stelle, bei der man sich beschweren konnte, gab
es praktisch nicht, da die Attentäter oder ihre Komplizen ja mit in den
Scheinbehörden saßen, und, wie es jedesmal geschah, durch erneute
Plünderung mit Prügel die versuchte "Anzeige" rächten.
[… Aufgefächert nach diesen Punkten finden sich viele mit Namen und
Datum belegte Einzelschicksale. — Unter dem Punkt "Frauen im Gefängnis“:]
Ende Juli 1945, als die Not unerträglich wurde, schickte mich die
Gemeinde nach Berlin — größtenteils auf Fußwanderung —, um Hilfe
zu holen. Nach meiner Rückkehr fanden die Polen ein von mir verfasstes
Gedicht über das erlebte Flüchtlingselend […] Obgleich das
Gedicht nur den Friedensrechtspruch und den Glauben an das
Recht fordert, kamen wir drei Frauen ins polnische Gestapogeängnis,
erst in Schreiberhau, später in Hirschberg. […] Weder wir noch die mit
uns gefangenen 7 Schreiberhauer Männer wussten, wie lang wir in dem
trostlosen Loch sitzen, ob wir ins Innere Polens oder in ein Konzentrationslager
verschleppt werden würden ̈[…] Die Entlassung geschah
ebenso willkürlich wie die Gefangennahme nach 5 Wochen! Wir
mussten, während uns nunmehr Konzentrationslager angekündigẗ
wurde, eine polnische eidesstattliche Erklärung unterschreiben, niemals
etwas zu sagen von dem was wir gesehen, gehört oder erlebt hätten.
Drei Minuten später jagten uns die Posten mit erhobenem Gewehr
aus dem Hoftor in die Freiheit.
[…Bericht über Zwangsarbeit unter unmenschlichen Bedingungen und̈
Vergewaltigungen]
Das Schreckliche war, dass in der ganzen polnischen Verwaltung
nicht ein einziges weibliches Wesen, nicht einmal ein älterer Mensch
von mehr als 40 Jahren war, an den man sich hätte wenden können!
[…] Wie war das alles auszuhalten?
Durch die Rechtsverdrehungen und Gewalttaten der Hitlerzeit durch das
jäh erwachende Bewusstsein der völligen Rechtlosigkeit unter den Polen
erwuchs nun in der Bevölkerung eine geradezu fanatische Rechtsgläubigkeit,
genährt auch durch die illegitimen Trostsender, die wir hörten,
ein Rechtsglauben, die [sic] die Engländer und Amerikaner stündlich,
täglich, in ferner Zukunft erwartete als die Engel der Gerechtigkeit! […]
Es gab nicht den Schatten eines Nazitums! Die Vokabel Entnazifizierung
haben wir verwundert als die Bezeichnung einer uns grotesk
anmutenden Tatsache erst in der englischen Zone lernen müssen!̈
Diese Millionen Vertriebener sind zweifellos als tapferste und beste
Bürger eines Rechtsglaubens in die englische Zone gekommen. Wird̈
diese Gläubigkeit enttäuscht, stehen sie tatsächlich wirtschaftlich und
ethisch vor dem Nichts, so ist es ein psychologisch einleuchtendes
Exempel, dass sie wirklich Nihilisten, das heisst aber, Schrittmacher
und Parteigänger des Bolschewismus werden!
Aus den Gedichten von Ilse Reicke:
Vertriebene!
Nennt uns nicht Fluechtlinge, wir flohen nicht!
Sagt, was wir sind: Von der Gewalt Vertriebene
Wir bis zuletzt der Heimat treu gebliebene
Wir schleppen letzte Habe als Gewicht
Mit uns und jenes Haertere, das Unrecht heisst,
Das wir gleich Pluenderung und Robott erduldet
Wir letzter Menschenwall, den unverschuldet
Im Ost der grosse Dammbruch mit sich reisst.
Sie kommt, sie kommt aus Asien, Voelkerflut,
wie einst vor 15, — vor 8 Hundert Jahren
Sie kommt mit Hunnen, mit Mongolen und Tartaren,
Und fegt uns vor sich her in gelber Wut.
Wars Euer Wort nicht, das den Damm durchstach,
Den letzten, da Ihr Schlesien freigegeben
der Flut aus Ost? Bedroht an Leib und Leben
Drueckt uns Europas Unheil heut als Schmach!
Wir Opfer fuer den Hass, die Beute wir
Wir hielten Stand, bedroht, versklavt von Polen,
Nun habt Ihr Sieger Raeumung anbefohlen
Nennt uns nicht Fluechtlinge, Vertriebne wir.
Das Recht
[Wenn es stimmt, daß dieses Gedicht am 9. 9. 1943 geschrieben wurde,
erklärt es einigermaßen die Behauptung, schuldlos gewesen zu sein:]
Unantastbar hoch ob allen Sternen,
Unverwandelt strahlst du durch die Zeit,
Durch der Voelker einstge, kuenftge Fernen:
Ewger Funke in der Gottheit Kleid.
Um dich klagen schluchzend die Geschicke,
Hungernd, duerstend nach Gerechtigkeit,
Nach dir fragen kuehl und rein die Blicke
Strenger Forscher aller Erdenzeit.
Ach, wie oft umhuellt dich finstre Wolke,
Hochgeballt aus Habsucht, Hass und Streit,
Streng von Mensch zu Mensch, von Volk zu Volke
Faellt dein Strahl, fernab der Nuetzlichkeit.
Wird der Geist dich jemals ganz erfassen?
Suchen soll dich Mensch und Volk und Zeit,
Maechtig im Erscheinen und Erblassen
Nur die Wahrheit bleibt dein Weggeleit.
Macht will immer wieder sich umhuellen
Mit erborgtem Schein von deinem Kleid,
Macht, dein Urfeind, glaubt dich zu erfuellen
Aus der eigenen Vermessenheit.
Doch du bleibst. Bist Sein, kein Werden,
Stehst heut wie im Urbeginn der Zeit,
Deine ernste Dienerin auf Erden
Sieht nicht Rasse, Wohlgestalt und Kleid,
Steht verhuellten Blicks mit Schwert und Waage,
Ob man sie auch schaendet und bespeit,
Weltgeschichte — Weltgericht: o Klage,
Und ach, Hoffnung der Verlassenheit1
Krieg: der Knecht der Macht! Du scheinst zu sinken,
Und als Herr der Welt steht er bereit, —
Er vergeht, — Ein Stern nur darf erblinken
Neben dir: die Gnade, weltenweit!
Unantastbar, hoch ob allen Sternen,
Unverwandelt strahlst du durch die Zeit,
Durch der Voelker einstge, kuenftge Fernen,
Ewger Funke in der Gottheit Kleid!
Aus diesen Versen spricht ein Nachklang der Gedankenlyrik Schillers.
Ausschnitt aus der Fränkischen Tagespost, 7. November 1952:
„Gedicht als deutsche Weltleistung"
,Wir sollen uns in unserer gefühlsarmen, von dem Kollektivismus aus Ost
und West bedrohten Zeit nicht durch ein konfektioniertes Gefühl aus Rundfunk
oder Schallplatten zu einer verflachenden Bequemlichkeit verleiten lassen,
weil dadurch die Schöpferkraft der deutschen literarischen Leistung
erlahmt‘, sagte Frau Dr. v. Hülsen-Reicke in einem Vortrag beim Pegnesischen
Blumenorden im Weinstadel über die ,Große Liebe zum kleinen
Gedicht‘. Die aus Schlesien stammende Wissenschaftlerin und Dichterin
erläuterte an praktischen Beispielen Werdegang und innere Gesetzmäßigkeit
eines Gedichtes sowie seine große Wirkung auf das geistige und seelische
Leben des Menschen. Gedichtemachen sei die ursprünglichste Kulturleistung
der Deutschen. Es gelte, sich in dieser seelenlosen Zeit wieder auf diese Kultleistung
[sic] zu besinnen und damit zur allgemeinen Entwicklung beizutragen.
Viele Gedichte sollten gelesen und auswendig gelernt werden, um sich
dann selbst an den ,Schöpfungsakt‘ eines Gedichtes heranzutrauen.“
Als ein Beispiel für das Aufgreifen eines Unglücks, das mitten im Lande,
in Nürnberg, einen Nazigegner (mit der Mitgliedsnummer 1210 im Blumenorden)̈
schon in den Anfangsjahren des Dritten Reiches betreffen konnte, ist
ein Zeitungsausschnitt aufgehoben, der handschriftlich auf "Nbger Ztg. 1. 9.
1952“ datiert ist:
Gedenken an Wilhelm Kunze
Am heutigen Montag […] wäre der Nürnberger Dichter Wilhelm Kunze 50
Jahre alt geworden. […] Ganz in der Stille ging er auch aus Nürnberg und diesem
Leben hinweg, als er am 1. Juli 1939 — ein materiell verarmter und körperlich
aufgeriebener Mensch — starb.
Die Entwicklung seiner Zeit zum Nationalsozialismus traf Wilhelm Kunze
schwer. Schon als junger Mann erkannte er, wie aus Ungeistigkeit und Verblendung
etwas Furchtbares für das Volk entstehen müsse. Er hat seine
Gedanken mit überraschender Weitsichtigkeit in seinem 1928 entstandenen
Roman ,Die Angstmühle" festgehalten. Er änderte seine konsequente Haltung
auch nicht, als man ihn mundtot machte und seiner Einnahmequellen beraubte.
Bis dahin war er, der in seinem zwanzigsten Lebensjahr die formvollendete
Novelle ,Der Tod des Dietrich Grabbe‘ veröffentlichte und bald darauf in
Wort und Schrift und mit seiner Arbeit auch am [sic] Rundfunk schriftstellerisch
hervortrat, Jahre hindurch als geschätzter Mitarbeiter bei der ,Nürnberger
Zeitung‘ wie beim ,Fränkischen Kurier‘ tätig. […]“